Das gefälschte Leben der TSCHETSCHENEN

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Grosny hat in den Tschetschenien-Kriegen schwere Zerstörungen erlitten - nun ist alles wieder aufgebaut - aber das Misstrauen der Bewohner bleibt. Ein Besuch.

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Grosny hat in den Tschetschenien-Kriegen schwere Zerstörungen erlitten - nun ist alles wieder aufgebaut - aber das Misstrauen der Bewohner bleibt. Ein Besuch.

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Im Nordkaukasus in Russland befindet sich eine sagenumwobene Republik mit der Hauptstadt Grosny, zu Deutsch: Furchtgebietender. Das ist Tschetschenien. Der Sage nach lebt dort das Böse, daher haben die Russen kaum eine Chance lebendig zurückzukommen, falls sie auf den verrückten Gedanke kämen, hinzufahren. Diese Gerüchte basieren auf den Gräueltaten, die während der beiden Tschetschenienkriege stattfanden. Die Gerüchte werden auch damit argumentiert, dass Tschetschenen, die in den anderen Regionen der Russischen Föderation leben, sich respektlos, aggressiv und gesetzwidrig aufführen. Sie werden oft auch als Terroristen gebrandmarkt. Es findet eine Verallgemeinerung statt, obwohl es schwer zu bestreiten ist, dass einige Tschetschenen sich zu Hause besser benehmen als außerhalb. Unmöglich zu bestätigen ist aber, dass sie Hetzjagden auf die russischen Touristen und die übrige russische Bevölkerung veranstalten würden. Ganz im Gegenteil.

Glänzend aus Ruinen

Nach den beiden Kriegen glänzt das aus den Ruinen auferstandene Grosny. Breite saubere Straßen sind von pompösen Bauwerken und viel Grün umrandet. Die erhaltenen Gebäude sind sorgsam renoviert. "Grosny-City", der moderne Hochhäuserkomplex, wirkt steril und ruhig. Man sieht kaum Passanten, dafür ist der große Erholungspark abends mit Menschen überfüllt. Viele Häuser schmückt das Antlitz des ersten Präsidenten der Republik - Achmat Kadyrow. Der Nationalheld wird hier beinahe als Heiliger gefeiert. Er wurde posthum mit dem Orden "Held der Russischen Föderation" ausgezeichnet. Zu seinen Lebzeiten wurde er mit dem Orden "Ehre der Nation", der höchsten Auszeichnung der nicht anerkannten Tschetschenischen Republik Itschkeria, gewürdigt. Für seine Verdienste gegen die föderalen Truppen während des ersten Feldzuges, also vor seinem Seitenwechsel. Neben Achmat-Darstellungen sieht man oft Wladimir Putin. Die Jugendlichen, die sich mit Flaggen im Stadtzentrum versammeln, gehören zu den patriotischen Organisationen "Achmat" und "Putin". Irgendwann wird es schwierig werden, sich Putin und Kadyrow auseinander zu denken.

Nicht nur die Stadtmitte, sondern auch die Randbezirke wurden umgestaltet, dabei wurde eine gewisse Harmonie angestrebt. Das Einzige, was nicht zu der feierlichen Atmosphäre passt, sind alte klapprige Busse. Mit zwei solchen Bussen fährt Nina (72) nach dem Gottesdienst heim. Die kleine Kirche, die von einem mit Sturmgewehr bewaffneten Polizisten bewacht wird, gehört zu den wenigen Bauten, wo die Farben zum Teil abblättern. Nina lebt in einem Zwei-Zimmer-Häuschen weit von der Stadtmitte entfernt. Sie lebt in einem Bezirk, in dem die Erdölarbeiter früher gelebt haben. Von ihrer Straße aus sieht man eine brennende Hochfackel. Direkt hinter ihrem Haus befindet sich ein mit Gras zugewachsener Panzergraben.

1984 kam Nina mit ihrem Mann nach Grosny, weil ihre Schwiegermutter hier gelebt hat. Später ließ sie sich scheiden und Nina blieb allein im Haus. Als der erste Krieg ausbrach, arbeitete sie als Krankenschwester. "Alle waren in Panik. Ich bewahrte die Ruhe, ich fürchtete mich nicht. Ich wusste, ich fühlte irgendwie, dass ich nicht sterben würde." Die wenigen Möbel, die Nina besitzt, nahm sie aus im Krieg zerbombten Häusern. Zwei Betten mit jeweils drei bis vier Matratzen, mehrere Bettdecken, zwei Tische, zwei Stühle.

Das Brot im Keller

Die "Dusche" befindet sich im Garten: Zwei Plastikflaschen mit gelblichem Wasser werden von der Sonne erwärmt. Das Essen liegt im Keller. Das Brot ist feucht und muffig.

Auch die gestern gekaufte Wassermelone ist schon schlecht. Doch das merkt sie nicht, sie hat sich daran gewöhnt. "Ich esse richtig nur morgens. Ich brate sehr scharf den gekochten Reis mit Zwiebel und viel Pfeffer, das ist mein Fleisch. Mehr brauche ich kaum."

Der Krieg heißt auch Hunger und ihn erlebte sie. "Unweit von mir lebte ein Russe. Die geflüchteten Tschetschenen ließen ihn auf ihr Federvieh aufpassen. Zusammen mit ihm versuchten wir zu überleben. Er fing Tauben, daraus kochten wir die Suppe. Immer versteckt, damit man kein Lagerfeuer von den Flugzeugen aus bemerkt. Das Geflügel fassten wir natürlich nicht an, wir hatten doch kein Recht darauf. Später wurde der Mann getötet ... Ich sah alles, abgeschossene Panzer, Leichen, Menschenteile, ständige Schießereien, tschetschenische Scharfschützen, Bombardements, zerstörte brennende Häuser. Eigentlich haben Russen auch die Russen mitbombardiert, weil viele Tschetschenen Grosny verließen."

Nina erlebte auch Verwundete und Kranke, die vor ihr auf die Knien gingen und sie baten, das Krankenhaus nicht zu verlassen, als alle Ärzte schon weg waren. Und sie blieb bei ihnen.

Abends im Fernsehen erzählen Vertreter verschiedener Berufe und Jugendliche, welch großer Mann Achmat Kadyrow war. Die Rede ist auch von einer weiteren Organisation, die ehrenvoll den Namen "Achmat Kadyrows tragen wird". Sendeschluss.

Nina sagt, dass sie Grosny nicht verlassen will: "Ich bin alt und brauche Unterstützung. Doch meine Verwandten in Russland mögen mich nicht, sie sagen, dass ich eine Tschetschenin wäre. Außerdem sind die Menschen dort unfreundlich. Du hast doch gesehen, wie lieb alle hier dir gegenüber sind! Sie bedanken sich stets für den Kauf, wünschen alles Gute, freuen sich auf dich. Auf dem Markt empfahl dir eine Verkäuferin sogar das Essen woanders zu kaufen, weil bei ihr alles kalt war ... Und wenn man mich in Russland grob behandelt, das tut weh! Die Tschetschenen sind freundlich, fleißig."

Die Freundlichkeit einer Stadt

Nina hat Recht: Tagsüber waren selbst die Polizisten in der Stadt nett, sie lachten, schubsten und zogen einander weg, um ein Denkmal nicht zu verdecken. Schließlich fragten sie: "Können wir irgendwie behilflich sein?" Auch per Anhalter an den Stadtrand zu den Schwefelwasserquellen zu kommen, war gefahrlos. Eine Verkäuferin sagte: "Hier ist alles friedlich, obwohl man in Russland das Gegenteil sagt." Nachts ist die ganze Wohnung voll mit Mücken, sie summen und stechen.

Wir besuchen Ninas Freundin Makka Medina, etwa 48 Jahre alt. Sie freut sich außerordentlich, umarmt uns, macht Essen. "Es gab hier viele Russen, wir waren befreundet, besuchten einander, speisten zusammen. Wer hat sich bloß diese Kriege ausgedacht ... Ich möchte meine russischen Freunde zu mir einladen, man hat hier nichts zu befürchten! Ich schwöre, ich habe nichts gegen Russen!" Sara und Adam, Ninas Altersgenossen, führen uns in ein soeben fertiggestelltes Krankenhaus. Kadyrow- und Putin-Bildnisse zieren es. Drinnen treffen wir Chena, eine Ärztin. "Man tötet bei uns keinen! Die ganzen Debatten, wie schlimm es hier sei, kommen von oben. Der Staat zersetzt Menschen ..."

Die unsichtbare Grenze

Die "Segregation", die Trennung von Russen und Tschetschenen, ist nur zum Teil nach außen sichtbar. Die Grenze ist in den Köpfen gezogen, zwischen Tschetschenien bzw. dem Kaukasus und dem restlichen Land. Eine Ärztin meint, dass "keiner in Russland glauben wird, dass hier normale Menschen leben". Nina hat auch eine Befürchtung: "Ich mache mir Sorgen, weil ich auf dem Markt keine Zigeuner mehr sehe. Wenn sie da sind, kann man ruhig sein, ansonsten ..."

Es gibt kaum Russen in Grosny, meistens sind es alte Menschen. Kadyrow will die Vielvölker-Republik wieder erschaffen, auch um die Spezialisten zurückzugewinnen. Den Russen werden Privilegien versprochen, wenn sie zurückkommen. Aber das hilft kaum. Außerdem fahren viele Tschetschenen weg, weil es weniger Arbeit gibt und weil der Islam gestärkt wird.

Es gibt sehr strenge Regeln. Ein Nachtleben gibt es wohl gar nicht. Nur wenige Frauen wagen hier noch, kürzere Röcke zu tragen. Nina weiß Bescheid: "Das Bier ist überteuert. Alkohol wird nicht beworben und die Verkaufsstellen sind ein Geheimtipp." Auch das ist Politik.

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