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Der lange Weg nach Europa

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Immer wieder begegnet man in türkischen, aber auch in mitteleuropäischen Publikationen dem fast zum Schlagwort gewordenen Terminus von der Türkei als „Brücke zwischen Orient und Okzident“. Ist dieser Ausdruck wegen seiner Vieldeutigkeit und Unklarheit zu einer Untersuchung weniger geeignet, so trifft dies auf eine andere, ähnliche Formulierung nicht zu, die einen schärfer akzentuierten Gedanken ausdrückt und Programm wie Realität aufzuzeigen scheint.

„Die Türkei auf dem Weg nach Europa“ m in dieser Formulierung durch Friedrich von Rummel in seinem gleichnamigen Buch (München, 1952) ausgesprochen — scheint auch einer Großzahl von ausländischen Beobachtern und Kennern der Türkei tatsächlich die kürzeste Formel für jenen geschichtlichen Prozeß zu sein, der unter Atatürk seinen Kulminationspunkt erreicht hatte.

Es sei nicht geleugnet, daß die Türkei in kurzen Jahrzehnten auf einigen, einzelnen Gebieten das Menschenmögliche erreicht hat: der Islam ist nicht mehr Staatsreligion, die Stellung der Frau gesetzlich verankert, und das äußere Lebensbild ähnelt auf den Hauptstraßen der großen Städte weitgehend dem europäischen. Doch darf man über diesen Augenfälligkeiten nicht übersehen, wie weit die Fundamente des türkischen und des europäischen Denkens auseinanderliegen, muß man sich fragen, ob es zwischen diesen beiden Welten überhaupt eine Brücke geben kann, muß man die eigenartige Form türkisch-orientalischen Denkens in ihrem Wesen zu erfassen suchen. ' Schuld an manchem Irrtum in dieser Hinsicht haben — so seltsam dies auch. klingen mag — die gedankenlose Verwendung der Wörterbücher und einige gebildete Türken, die da.s Deutsche derart beherrschen, daß sich auch in einem längeren Gespräch keine größeren Differenzen in Lebensform und Mentalität andeuten.

Man übersieht ganz, daß ein deutsch-türkisches Wörterbuch in kürzester Form Ausdrücke als Aequivalent angeben muß, die bestenfalls Annäherungswerte darstellen und sich in ihren Begriffsumfängen nur zum Teil decken. Diese Behauptung mag einleuchtend scheinen, wo es sich um Begriffe wie „Bauer“, „Priester“ und ähnliche handelt, mit denen der kulturell gänzlich anders geschichtete Türke selbstverständlich keinesfalls die gleichen Begriffe verbindet wie wir. Erwartet man aber, daß diese Behauptung auch für das einfache Wort „nein“ zutrifft? Im Deutschen bedeutet es, kurz gesagt, die negative Aussage über einen (in Frage gestellten) Sachverhalt, den Ausdruck einer Realität. Anders im Türkischen. Dort drückt es nicht die an sich bestehende Sachlage oder Unmöglichkeit aus, sondern nur den subjektiven Wunsch und Willen des Sprechers. „Nein“ besagt also bloß: ich wünsche, daß dies oder jenes als unmöglich betrachtet wird, als nicht-existent.

In der Praxis äußert sich dies derart, daß. auch ein Nein auf etwa ein dienstliches, amtliches Ersuchen nicht als Aussage über einen bestehenden Sachverhalt usw gewertet wird, sondern als persönliches Nicht-Wollen des Sprechers, den man durch Bitten, Ersuchen, Drohen oder Bestechung schließlich und endlich umstimmen kann.

Das gleiche gilt für die Zusage, für das Ja, das ebenfalls keinen „absoluten“ Charakter besitzt, sondern prinzipiell wieder nur den Wunsch des Sprechers ausdrückt, einer Situation in freundlicher und eben bejahender Weise zu begegnen.

Diese Beispiele wurden gewählt, um zu zeigen, daß der Türke in seiner ganzen Denkweise von vorneherein nicht darauf eingestellt ist, in Tatsachen zu denken und auszusagen. Er erkennt eine Realität nur dann an, wenn sie gegenwärtig auf ihn selbst wirk-s a m .i s t. Dementsprechend besitzt er überhaupt keinen Sinn für den realen Begriff der Zeit, für die Zeit als Faktor. Als äußeres Zeichen dafür läßt sich anführen, daß die beiden Ausdrücke für Zeit im Türkischen, vakit und zaman. Fremdwörter sind. Die Orientierung ist auf das rein Räumliche beschränkt.

Das Dasein ist ein sich fortsetzendes Jetzt, die Zeit „vergeht“ für die stundenlang im Schatten hockenden Männer beileibe nicht. Ebensowenig besteht ein-Morgen, eine Zukunft, da sie im Augenblick nicht wirksam ist. Die Vergangenheit aber — ist schon vorüber und ebenfalls nicht wirk-lich.

Dieses Fehlen des Zeitbegriffes, wie überhaupt des Sinnes für Realität bildet wohl das größte Hindernis auf einem allfälligen „Weg nach Europa“.

Sie äußert sich darin, daß Gesetze einerseits in dem Augenblick an Wirksamkeit einbüßen, als sie, schon erlassen, nicht mehr gegenwärtig sind, anderseits ein ausgesprochenes Verbot, also ein Nein, im allgemeinen nur den Anfang eines Gespräches darstellt, an dessen Ende man das Verbotene doch tun kann, wenn der Gesprächspartner nicht gerade ein verbohrter Dickkopf ist, der justament darauf besteht. Das ganze Land weiß, daß die Einehe keineswegs schon überall Tatsache geworden ist; niemand findet einen Gegensatz zur Verfassung, wenn der Staatspräsident erklärt, daß das Land mohammedanisch ist und auch bleiben wird. Ebensowenig störte im zweiten Weltkrjeg die Tatsache, daß die Türkei mit England und Frankreich Verträge besaß, aber nicht nur nicht in den Krieg eintrat, sondern mit Deutschland einen Freundschaftspakt abschloß. Dann trat das Land in den Krieg ein. aber nur in der Form, daß man aus Höflichkeit „ja“ sagte. Man fand Deutschland weiterhin sympathisch und konnte das ruhig tun, ohne seine Denkart aufzugeben, da es sich dabei um ein fast persönliches Gefühl handelte und nicht um ein abstraktes, irreales Faktum, wie dies Tatsachen für gewöhnlich sind ...

Im wirtschaftlichen Leben äußert sicSi das Fehlen des Faktors Zeit darin, daß es vollauf genügt,- hie.et nunc ein Gebäude aufzuführen, das seine Qualität nur dadurch zu beweisen hat, daß es beim Bauen nicht einstürzt. Wenn man nachdenken könnte, dann müßte man wissen, daß man es in kurzer Zeit neu bauen müssen wird, aber — jetzt ist jetzt, und jetzt steht es.

Der Kausalgedanke kann sich in diesem gei-' stigen Klima in seiner vollen Form niemals entfalten, ja nicht einmal das einfache „post hoc, ergo propter hoc“. Das Denken reiht die Tatsachen einfach aneinander, ohne sie kausal oder auch nur temporal zu verbinden.

Man baut daher rein räumlich, ohne sich durch Ungreifbares und Unbegreifbares stören zu lassen. Es genügt, wenn man nur etwas beginnt (ob es nun die Oper in Istanbul ist, die seit ungezählten Jahren im Rohbau dasteht, oder die Universität, die ebenfalls unvollendet geblieben ist, während man ein Rathaus eben beginnt), eine Straße asphaltiert, eine moderne Maschine kauft — Das allein ist entscheidend. Dann schwindet der Reiz der Neuheit und damit die Wirk-lichkeit. Man pflegt die Dinge nicht, da es völlig genügt, daß sie jetzt in Ordnung sind oder scheinen: Fehlen der Realität und Ersatz der Zeit duch den Raum.

Spricht man, wie eingangs erwähnt, mit modernen Türken (und welcher wollte nicht modern sein) über diese und ähnliche Probleme, so werden sie zustimmen, Ja sagen, werden über ihr eigenes Volk ein unerwartet hartes Urteil fällen und genau aufzuzählen wissen, was man tun müßte. Man ist so lange überrascht, bis man endlich merkt, daß das ganze Volk dieser Meinung zu sein scheint, daß man immer und überall nur Ausnahmen antrifft, die nicht so denken, wie die anderen handeln.

Freiherr von der Goltz, ein wirklicher Kenner des türkischen Denk- und Lebensraumes, hat diese Beobachtung bereits vor dem ersten Weltkrieg gemacht: „Viele Tausende von intelligenten jungen Leuten wissen heute in der Türkei ganz genau, was der Großwesir eigentlich zu tun hätte und was sie an seiner Stelle tun würden, aber nicht, was im Augenblick und auf dem Platz, auf dem sie gerade stehen, ihre eigene Pflicht ist.“

Es ist daher nicht möglich, aus Gesprächen mit Türken irgendwelche positiven Schlüsse auf die geistigen und moralischen Aufbaukräfte des Landes zu ziehen.

Man verstehe diese Zeilen nicht falsch. Der Verfasser lebt seit langen Jahren in diesem Land, das er samt seinen Bewohnern liebgewonnen hat. Es soll über eine Daseinsform, die ihre Existenzberechtigung in langen Jahrhunderten aliein schon durch ihre bisherige Unzerstörbarkeit historisch bewiesen hat, keineswegs ein Werturteil abgegeben werden. Nur wollen wir uns darüber keine Illusionen machen, daß eine einfache Umetikettierung von Begriffen keine Aenderung bedeutet. Atich Importe aus Europa, wollte man sie auch in jeder Hinsicht vervielfachen, schaffen noch keine innere Wandlung.

Daß sich die Türkei, vor langen Jahren schon, von ihrem Krankenlager am Bosporus erhoben hat, um sich auf den Weg nach Europa zu machen, ist geschichtliche Tatsache. Wann sie aber ihr Ziel erreichen wird, das wissen nur Optimisten und türkische Politiker.

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