Vollkommenheit heißt, sich oft verändert haben

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Als 15-Jähriger hatte er ein evangelikales Bekehrungserlebnis, als anglikanischer Geistlicher konvertierte er zur katholischen Kirche, als deren Kardinal John Henry Newman starb.

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Als 15-Jähriger hatte er ein evangelikales Bekehrungserlebnis, als anglikanischer Geistlicher konvertierte er zur katholischen Kirche, als deren Kardinal John Henry Newman starb.

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John Henry Newman, am 21. Februar 1801 in London geboren, zählt zu den theologischen Klassikern der Moderne und den wichtigsten Erscheinungen der Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts. Wie bei nur wenigen Menschen verbinden sich bei ihm Theologie und Lebenslauf derart, dass die Biographie sein theologisches Denken erklärbar macht. Newman war ein radikaler Sucher nach der Heiligkeit des Individuums und der Kirche, kämpfte leidenschaftlich gegen den Liberalismus und für die Freiheit des Gewissens.

"Heiligkeit statt Frieden" lautete schon das Lebensmotto des hochbegabten Jünglings, dem ein Bekehrungserlebnis im Alter von 15 Jahren eine lebenslange Glaubensgewissheit brachte. Nach der Schulzeit im Eliteinternat Ealing ging er zum Studium ans Trinity College in Oxford und wurde schon mit 21 Jahren Fellow des dortigen Oriel College. Er ließ sich zum Priester der anglikanischen Kirche ordinieren, stieg später zum Pfarrer der Universitätskirche St. Mary's auf. In dieser Zeit vertiefte er sich in das Studium der altkirchlichen Väter, die zur Quelle seiner Spiritualität wurden, und sah sich herausgefordert, die seiner Ansicht nach desolate Kirche von England aus dem Geist des Urchristentums zu erneuern. Sein Hauptfeind war dabei der Liberalismus in der Religion, der eine eindeutige Wahrheit in theologischen Fragen bestritt und den Glauben als Privatsache betrachtete.

Krypto-Traditionalist Zusammen mit John Keble und Edward Pusey bemühte sich Newman in der hochkirchlichen Oxford-Bewegung (1833-43) darum, das Selbstverständnis des Anglikanismus als "mittlerem Weg" zwischen Protestantismus und Katholizismus aus dem Geist der alten Kirche neu zu begründen. Er kämpfte für die Trennung von Staat und Kirche, um Übergriffe einer vermeintlich liberalen Politik in den Hoheitsbereich der Kirche zu verhindern.

Als Newman aber im Februar 1841 eine quasi-katholische Interpretation der für die anglikanische Kirche grundlegenden 39 Artikel vorlegte, distanzierte sich die Mehrheit der Bischöfe von ihm. Halb England hielt ihn für einen Krypto-Katholiken. Enttäuscht zog sich Newman in das Oxford benachbarte Dorf Littlemore zu einem quasi klösterlichen Leben zurück. Nach dem erneuten Studium der Kirchenväter plagten ihnen nun starke innere Kämpfe, ob seine Kirche und nicht etwa der Katholizismus in Kontinuität mit der altkirchlichen Überlieferung stehe.

Die fehlende Gewissheit brachte ihm erst die Entdeckung des Entwicklungsgedankens, mit dessen Hilfe er die dogmatischen Neuerungen Roms als Fortentwicklung der ursprünglichen Offenbarung interpretierte. Die Offenbarungsüberlieferung war für ihn nicht statisch, sondern dynamisch. Sie präzisierte sich selbst im Laufe der Geschichte, weil sie in ihrer Komplexität für den begrenzten menschlichen Verstand nicht sofort verständlich war. In seinem "Essay über die christliche Lehrentwicklung" von 1845 entfaltete er die Frage nach Identität und Kontinuität des Glaubens im Wandel der Geschichte und erklärt das Entwicklungsparadigma zu einer der "notae ecclesiae": "In einer höheren Welt ist es anders, aber hier unten heißt Leben sich verändern und vollkommen sein heißt, sich oft verändert haben."

Katholischer Reformer Nun widerrief er seine gegen Rom gerichteten Aussagen, gab sein Pfarramt und seine Fellow-Stelle auf und trat schließlich am 9. Oktober 1845 der katholischen Kirche bei. Als seine Konversion bekannt wurde, reagierte das traditionell anti-römische England empört. Newman selber fiel der Wechsel aus seinem großbürgerlichen anglikanischen Umfeld in den von der Arbeiterschaft geprägten englischen Katholizismus nicht leicht, sollte seine neue Heimat doch ausgerechnet in den industriell geprägten Midlands liegen. 1846/47 zu einem Studienaufenthalt und zur Priesterweihe in Rom, trat Newman dort dem 1522 von Philipp Neri ins Leben gerufenen "Oratorium" bei und gründete in Birmingham dessen erste englische Dependance.

Von der Suche nach der wahren Kirche befreit wurde in der katholischen Kirche aus dem Traditionalisten ein Reformer, der sich vehement in die Auseinandersetzung mit der Moderne stürzte und nichts mehr als die Ghettomentalität der Kirche hasste. "Man kann nicht in unruhigem Wasser schwimmen lernen, wenn man sich nie hineinwagt", sagte er einmal und bemühte sich, die Bildung der katholischen Laien zu verbessern.

Newman schien seine Lebensaufgabe gefunden zu haben, als ihn der irische Episkopat 1851 zum Gründungs-Rektor der Katholischen Universität Dublin berief, die er drei Jahre später eröffnen konnte und, die ihn zu seiner mittlerweile klassischen Vortragsreihe "The Idea of a University" anregte. Für ihn sollte eine katholische Universität nicht nur Wissen vermitteln, sondern junge Menschen "aus der Welt für die Welt" vorbereiten, Verantwortungs- und Urteilsfähigkeit schulen. Newman setzte sich für die Freiheit der Forschung ein, plädierte für eine offene Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, den Thesen Darwins und der kritischen Bibelexegese.

Verkappter Modernist?

Er war davon überzeugt, dass es zwischen Wissenschaft und Offenbarungswahrheit keinen Konflikt geben könne: Wenn die Wissenschaften meinten, irgend etwas im Gegensatz zu den Glaubenslehren bewiesen zu haben, "so wird sich schließlich doch herausstellen, dass dieser Punkt entweder nicht bewiesen ist oder gar keinen Widerspruch enthält oder aber nicht etwa einem wirklichen Offenbarungsinhalt, sondern etwas anderem widerspricht, was man mit Offenbarung verwechselt hatte."

Mit diesem offenbarungstheologischen Selbstvertrauen war Newman jedoch seiner Zeit voraus und wurde von innerkatholisch unter Modernismusverdacht gestellt. Die Kirchenleitung lehnte seine Pläne ab, in Dublin eine naturwissenschaftliche Fakultät zu eröffnen, Laien an der Hochschulleitung zu beteiligen, die Studentenwohnheime nicht nach Vorbild von Priesterseminaren, sondern unter Eigenverantwortung der Studenten zu leiten. 1858 gab er sein Rektorenamt wegen fehlender bischöflicher Unterstützung auf, konzentrierte sich auf seine publizistische Tätigkeit und das Oratorium in Birmingham.

Dort schrieb er sein 1870 erschienenes religionsphilosophisches Hauptwerk, die "Grammatik der Zustimmung" und seine 1875 in Briefform verfasste Auseinandersetzung mit dem Premierminister William Gladstone über die Unfehlbarkeit des Papstes. Zwar verteidigte er die Dekrete des I. Vatikanums, interpretierte sie aber so, dass auch der Papst nicht gegen das Gewissen als "Statthalter Christi im Menschen" handeln könne: "Spräche der Papst gegen das Gewissen, dann würde er Selbstmord begehen. Auf das Gewissen stützt sich seine Autorität in der Theorie und seine tatsächliche Macht."

Konfessionsübergreifende Anerkennung erlangte Newman erst in seiner letzten Lebensphase, als er 1878 zum Ehren-Fellow des Trinity Colleges und 1879 von Papst Leo XIII. auf Initiative katholischer Laien unter Führung des Herzogs von Norfolk zum Kardinal ernannt wurde. Als Newman am 11. August 1890 in Birmingham starb, würdigte ihn die dortige "Daily Post" als denjenigen, der "den bigotten Hass" auf den Katholizismus in England zerstört habe.

Während Newman im hochkirchlichen Anglikanismus und im französischen Katholizismus auch heute noch stark wahrgenommen wird, ist er im deutschsprachigen Raum in Vergessenheit geraten. Dabei gab es nach beiden Weltkriegen eine regelrechte "Newman-Bewegung", die von maßgeblichen katholischen Gelehrten wie dem konvertierten Kulturphilosophen Theodor Haecker, den Theologen Erich Przywara, Heinrich Fries und - bis heute - von Günter Biemer geprägt wurde. In den zwanziger Jahren hat keine Geringere als Edith Stein Newman ins Deutsche übersetzt. Katholische Hochschulgemeinden nannten sich gerne nach dem englischen Kardinal. Romano Guardini schätzte ihn wegen der geglückten Verbindung von Dichtung und Theologie, die sich besonders in seinem von Edward Elgar vertonten Gedicht "The Dream of Gerontius" zeigt.

Der Konzilstheologe Höhepunkt der Newman-Rezeption aber war das 2. Vatikanische Konzil. Als einzigen Theologen der Neuzeit erwähnte Papst Johannes XXIII. Newman in seinem Einladungsschreiben. Die Aggiornamento-Idee war ebenso maßgeblich von ihm inspiriert wie die Betonung der Laien, die Bedeutung der Geschichtlichkeit der Lehrentwicklung, die pastorale Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit und Kultur. In den Augen mancher Newman-Forscher war das II. Vatikanum gleichsam ein "Newman-Konzil".

Der Begeisterung folgte der Traditionsabbruch. Der Tod maßgeblicher Newman-Forscher hat eine Lücke gerissen, in die in den letzten Jahren ausgerechnet die äußerst konservativ-katholische Bewegung "Das Werk" mit ihren Newman-Zentren in Bregenz, Rom und Littlemore gestoßen ist.

Für den Innsbrucker Theologen Roman Siebenrock, einen der führenden Newman-Forscher der jüngeren Generation, lässt sich Newman dagegen nicht einseitig konfessionell vereinnahmen. Auch als Kardinal sei er ein "kantiger Bursche" geblieben, in dem das evangelikale Berufungserlebnis fortlebe. In seiner Gottesunmittelbarkeit, der an Schleiermacher erinnernden autobiographischen Vergewisserung der Theologie zeige sich "ein Stück reformatorischer Tradition".

Die bleibende Aktualität Newmans besteht für Siebenrock in seiner Lehre von der Gewissensfreiheit sowie der Auseinandersetzung mit einem grenzenlosen Pluralismus: "Er ging mit der Zeit, um ihr eine Richtung zu geben." Der Innsbrucker Theologe sieht in Newman "einen beispielhaften Vertreter einer integrierenden, vermittelnden und für die universale Weite aller Wirklichkeit offenen Theologie. Er ist der Theologe der Zustimmung, des großen und unwiderruflichen Ja Gottes zu Person, Welt und Geschichte!"

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