6541798-1946_44_13.jpg
Digital In Arbeit

Die europäische Klimaänderung

Werbung
Werbung
Werbung

Bildet man mit Hilfe der langjährigen Wiener Temperaturreihe die Mitteltemperaturen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, dann erhält man, wie aus nachstehender Tabelle ersichtlich ist, das überraschende Ergebnis, daß die Jahrzehnte von der Jahrhundertwende an ständig wärmer geworden sind:

1881—1890 ........... 8,96

1891—1900 ......... . 9,15

1901—1910..........9,16

1911—1920 .......... 9,33

1921—1930 .......... 9,41

1931—1940 .......... 9,45

1941—1945 .......... 9,46

Die Mittelbildung der Jahrzehnte und die Homogenität der Wiener Temperaturreihe in diesem Zeitraum schließen den Verdacht aus, daß es sich bei dieser Temperaturänderung um ein Spiel des Zufalls handeln könnte. Die hier in nüchternen Zahlen zum Ausdruck kommende fortschreitende Erwärmung der Jahrzehnte erinnert uns an die wiederholte Behauptung alter Leute, daß es zu Großvaters Zeiten kältere Winter gegeben habe als in unseren Jahren. Auf Grund langjähriger meteorologischer Beobachtungen konnte tatsächlich wissenschaftlich erwiesen werden, daß die strengen Winter früher viel häufiger waren als später. Diese Erscheinung trat im Zusan-menhang mit einer Klimaänderung in Europa uncj, in anderen Gebieten, von der Jahrhundertwende an ausgeprägt, in Erscheinung. Von besonderer Bedeutung für die geänderten Temperaturverhältnisse des europäischen Festlandes seit etwa 1900 ist die Erwärmung des Golf Stromes.

Sehr aufschlußreiche Messungen wurden zum Nachweis dieses Phänomens an drei norwegischen Küstenstationen, die unter dem Einfluß des Golfstromes liegen, gemacht. . Bei sämtlidien Stationen ist eine beachtenswerte Erwärmung festzustellen, die bis zum Jahre 1925 verhältnismäßig langsam vonstatten ging, sich dann aber sprunghaft gesteigert hat. Insgesamt erreicht der Anstieg seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis jetzt 1 Grad. Auch für die britischen Gewässer ergeben sich ähnliche Resultate. Diese Erhöhung der Wassertemperatur längs der europäischen Westküste könnte unter Umständen nur ein lokaler Effekt im Zusammenhang mit einer gesteigerten atmosphärischen Zirkulation über dem Atlantischen Ozean sein. Daß dem nicht so ist. beweist die Tatsache, daß auch im Ursprungsgebiet des Golfstromes in der Florida-Straße, dem Yucatan-Kanal, dem Golf von Mexiko und der Karibischen See eine Erwärmung des Wassers von etwa gleidiem Ausmaß eingetreten ist. Im Mittel erhält man in den Jahren 1915—1930 für das Ursprungsgebiet des Golfstromes eine Temperaturerhöhung von fast einem halben Grad. Ein Betrag, der bei der Konstanz der Meerestemperatur in den Subtropen als sehr beachtenswert angesehen werden muß. Bei dieser Erwärmung des Golfstromes handelt es sich also um eine einschneidende Klima änderung von weltweiter Bedeutung. Ganz besonders bemerkenswert ist aber die Tatsache, daß die Temperaturerhöhung im Bereiche des Labrador-Stromes seit Beginn des zweiten Jahrzehnt sogar 1 Grad überschreitet. Hier zeigt sich auf eindruckvollste Weise, daß sich die Erwärmung der arktischen Meeresgebiete nicht auf die zufließenden Wassermassen beschränkt, sondern ebenso die abfließenden kalten Meeresströme ergriffen hat.

Das größte Ausmaß hat die Temperaturerhöhung in Spitzbergen erreicht. Die Temperaturzunahme trat hier erstmalig im Winter 1918/19 in Erscheinung. Im dritten Jahrzehnt war die Wintertemperatur bereits um 5 Grad größer als im zweiten Jahrzehnt, und nach 1930 hat die Erwärmung ein geradezu phänomenales Ausmaß erreicht. Gegenüber dem zweiten Jahrzehnt macht die Milderung der Winter beinahe 9 Grad aus! Der Winter 1937/38 hat auch diesen Rekord noch gebrochen. Er war im Mittel 16 Grad wärmer als der Winter 1916/17!

Das Dezemberklima von Spitzbergen entspricht jetzt fast den Temperaturverhältnissen, wie sie im vorigen Jahrhundert in Berlin herrschten. So betrug zum Beispiel die mittlere Jännertemperatur in Lonyearbeen im Jahre 1937 —2,4 Grad, ein Wert, der höher liegt als die mittlere Jännertemperatur von Berlin vor Beginn dieses Jahrhunderts. Im Jänner 1918 hatte Spitzbergen noch eine Temperatur von —26,2 Grad. Durch diese Zahlen tritt die dortige Klimaänderung in ihrer ganzen Bedeutung zu Tage, und man kann daraus einen Begriff bekommen, in welch gewaltigem Ausmaß die Vereisung der Arktis zurückgegangen sein muß.

Noch bis zum Jahre 1918 war die Eisgrenze in der Arktis über die normale Lage nach Süden vorgeschoben. Ab 1919 weicht dann der Eisrand stark zurück und verbleibt in der Folgezeit in seiner abnormalen, nach Norden verschobenen Lage. So wird es verständlich, daß sich gerade in Spitzbergen, an dessen Ostküste ungefähr die mittlere Eisgrenze liegt, die Schwankungen derselben in einer auffälligen Schwankung der Wintertemperatur widerspiegeln. Die Lufttemperatur geht hier im Winter völlig parallel mit den Schwankungen der Eisgrenze im vorangegangenen Sommer. Die vielen Erfolge, welche russische Expeditionen im vorigen Jahrzehnt in arktischen Gewässern erzielen konnten, sind zürn allergrößten Teil auf die außerordentlich günstigen ELsverhältnisse zurückzuführen. Früher galt die Nordostpassage als ein äußerst schwieriges Unternehmen und glückte lange Zeit nicht. Heute erscheint ein beschränkter Schiffsverkehr längs der Nordküste Eurasiern wenigstens gelegenthdi möglich zu sein. 1932 gelang es dem Schiff „Knipowitsch“ zum erstenmal in der Geschichte der Polarfahrten, das Franz-Josef-Land zu umfahren.

Nach allem kann wohl kein Zweifel bestehen, daß es sich bei der Temperaturerhöhung im Polargebiet umdie größte Klimaänderung handelt, die wir seit Anstellung regulärer meteorologischer Beobachtungen erleben.

Der Temperaturanstieg Wie deutlich auch in der gemäßigten Zone die kontinuierliche Erwärmung seit der Jahrhundertwende auftritt, möge an der folgenden Zahlenreihe, die im Mittel von 19 Orten Mitteleuropas als Abweichung von mindestens 50jährigen Mittelwerten erhalten wurde, studiert werden:

1901—1905 .........+ 0,10

1906—1910 .........+ 0,02

1911—1915 .........+ 0,40

1916—1920 .........+ 0,24

1921—1925 .........+ 0,18“

1926—1930 .........+ 0,46

1931—1935 ...“......+ 0,50

In der Kopenhagener Temperaturreihe, die wegen ihrer weitgehenden Homogenität besonders gut zur Untersuchung von Temperaturschwankungen geeignet ist, ergibt sich ein ähnliches Resultat: Seit 185C steigt die Luftwärme ständig an. Die Temperaturabweichungen einiger homogener Reihen südenglischer Stationen beweisen, daß auch dort die letzten Jahrzehnte um fast einen halben Grad zu warm waren. Aber auch jenseits des Ozeans ist eine auffällige Temperaturerhöhung eingetreten. Die mittlere Temperaturabweichung der letzten Jahrzehnte für das Gesamtgebiet der Vereinigten Staaten ergibt, daß der Zeitraum von 1921—1930 in Amerika um etwa 0,4 Grad zu warm gewesen ist. Im folgenden Jahrzehnt hat sich dieser Betrag auf fast 0,9 Grad erhöht und liegt damit sogar noch etwas höher als in Mitteleuropa. Milderung der Winter Untersucht man die Häufigkeit extrem kalter und warmer Wintermonate, so bekommt man erst einen rechten Begriff von dem Ausmaß der Klimaänderung, die wir zur Zeit erleben. Zu Anfang des vorigen

Jahrhunderts betrug die Anzahl sehr kalter Wintermonate im Verlauf von zwanzig Jahren noch mehr als fünfzehn. Seitdem ist deren Zahl ständig zurückgegangen und während der letzten zehn Jahre auf ganz wenige abgesunken. Die Zahl der erheblich 'zu warmen Wintermonate ist hingegen ständig gestiegen. Warme Winter sind jetzt fast viermal so häufig geworden und kalte Winter beinahe auf den zehnten Teil reduziert. Bis etwa 1850 waren die kalten Winter die häufigeren, seitdem verschwinden sie immer mehr. Wie verschiedene Forscher festgestellt haben, blieb die Klimaänderung nicht nur auf die Nordhalbkugel beschränkt, sondern die Milderung der Winter hat mit Ausnahme kleiner Anomaliegebiete fast die gesamte Erde ergriffen. Vor allem sei hervorgehoben, daß die gegenwärtige Milderung der Winter besonders in Westsibirien sehr ausgeprägt in Erscheinung tritt.

Rückzug der Alpengletscher

Die allgemeine Erwärmung Europas hat auch Änderungen in der Eisbedeckung der Gebirge zur Folge. Seit etwa fünfzig Jahren wird an zahlreichen Gletschern der Alpen die Längenänderung der Gletscherzunge mit Hilfe von Steinmarken bestimmt. Messungen an den Sonnblickgletschern ergaben im letzten Jahrzehnt ein Einsinken der Gletschermassen im Mittel alljährlich um einen Meter. Nach mehrjähriger Pause wurden im heurigen August die Messungen in den österreichischen Alpen wieder aufgenommen. Sie erstreckten sich auf die wichtigsten Gletschergebiete. Es wurde festgestellt, daß ein weiterer starker Rückgang der Gletscher eingetreten ist: Gebiete, die seit dem Mittelalter vergletschert waren, sind jetzt bereits völlig eisfrei. Dieser außerordentliche Gletscherschwund ist mit ähnlichen Erscheinungen in früheren Jahrhunderten gar nicht vergleichbar.

Wirtschaftliche Wirkungen der Klimaänderung

Die beträchtliche Erwärmung der Gewässer, insbesondere in hohen Breiten, hat auf die Entwicklung der Mikrofauna und Mikroflora im Meere Auswirkungen gehabt. In diesem Zusammenhang sind zum Beispiel auch die Lebensbedingungen für Seefische anders, teils günstiger, teils ungünstiger geworden. Ab 1917 trat plötzlich an der Westküste Grönlands eine große Ausbreitung des Dorsches auf. Zuerst trat er in größeren Mengen im Süden Westgrönlands auf und breitete sidi allmählich immer weiter nach Norden aus. Gegenwärtig findet sich der Dorsch noch bis in die Breite von Angmagssalik (65,6 Grad n. Br.) in solcher Menge vor, daß sich sein Fang lohnt. Auch an der Ostküste Grönlands ist in den nördlicheren Teilen das massenhafte Auftreten eines Fisches in neuester Zeit bekanntgeworden. Es handelt sich um die pazifi'che Sardine (Sardinops sagax melanosticta), die an den Küsten Japans massenhaft gefangen wird und zum erstenmal im Jahre 1913 an der Ostküste Sibiriens, und zwar in der Bucht Peter des Großen, festgestellt wurde. Bis 1931 war diese Sardine bis an die Ostküste Kamtschatkas vorgedrungen. Interessant ist auch das Auftreten einer Salmart bis in die Breite von Upernivik (72,8 Grad n. Br.), wo dieser Fisch den Eingeborenen gar nicht bekannt war. Während die erwähnten Fisdie sich im weiteren Vordringen nach Norden befinden, haben sich verschiedentlich Kaltwasserfische nach Norden zurückgezogen.

Die Klimaänderung hatte auch eine Änderung der Niederschlagsverhältnisse in der Weise zur Folge, daß im an sich niederschlagsarmen Gebiet der Roßbreiten (etwa 30 Grad Breite) der Niederschlag und auch die Bewölkung noch geringer und in der regenreichen Klimazone sowie vor allem im Gebiet der Westwindzone dagegen stärker geworden ist. Das Nachlassen des Niederschlags in der Roßbreitenzone und wahrscheinlich audi die Verminderung der Bewölkung, einhergehend mit einer Zunahme der Verdunstung, hat in einzelnen Gebieten der Mittelstaaten von Amerika bereits zu katastrophalen Folgen, insbesondere für den Getreidebau, goführt. Der Ackerboden trocknet aus, wird zerkrümmelt und vom Winde zum Teil fortgeführt. Einzelne Landstriche versanden, und die Farmer müssen das Land verlassen. Auch der Graswuchs hat in den Mittelstaaten während der Tro-~kenperiode sehr gelitten und erhebliche Mengen von Großvieh sind in der Folge durch “uttermangel zugrunde gegangen. Die amerikanischen Metereologen haben in verschiedenen Arbeiten gezeigt, daß es sich um eine weit ausgedehnte und zumindest im ganzen Bereich der USA erkennbare Klimaänderung handelt und daß dieselbe als ein außergewöhnliches, unvorhersehbares Ereignis beurteilt werden muß, da eine Trockenheit von solcher Dauer und solcher Intensität höchstwahrscheinlich seit einer ganzen Reihe von Jahrhunderten in Amerika nicht vorgekommen ist.

Ursachen der Klimaänderung Für die Ursache der Klimaänderung sind folgende Möglichkeiten denkbar: Es könnte sein, daß innerhalb der Erdatmosphäre Änderungen in der Verteilung der zugeführten Strahlungsenergie eintreten, in der Weise, daß zum Beispiel ein übernormaler Energieumsatz auf der nördlichen Halbkugel kompensiert wird durch unternormale Verhältnisse in anderen Gebieten. Oder, daß zwar der gesamte Wärmeumsatz Sonne-Erde-Weltraum gleichgeblieben ist und sich nur die Verteilung desselben geändert hat. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn weniger Wärme für Schneeschmelze und Wasserverdunstung verbraucht würde, oder wenn die Meere aus ihrem großen Vorrat Wärme an die Luft abgeben, also kälter würden. Beide Fälle kommen für die derzeitige Klimaänderung nicht in Betracht. Einerseits ist nämlich auf der ganzen Erde ein übernormaler Energieumsatz festzustellen, und andererseits hat der Wärmevorrat der Meere in letzter Zeit nicht abgenommen, sondern sogar zugenommen, und auch das durch die Eismassen dargestellte Wärmedefizit ist kleiner geworden. Sind ja doch gerade in den letzten Jahrzehnten die Eismassen der Gebirgsgletscher und des nördlichen Eismeeres beträchtlich zurückgegangen. Es bleibt daher nur die Möglichkeit, daß nämlich 'die Sonneneinstrahlung im Laufe des letzten Jahrhunderts zugenommen hat, sei es durch Zustrahlung der Sonne selbst, sei es, daß die Durchlässigkeit der Atmosphäre für kurzwellige Strahlung größer geworden ist. Verläßliche Messungen der Sonnenstrahlung werden erst seit dem Beginn unseres Jahrhunderts unternommen. Zur Erklärung der äußerst komplizierten Verhältnisse wären aber Untersuchungen über größere Zeiträume erforderlich. Vorläufig kann daher nicht entschieden werden, ob die Tatsache der seit Beginn der Messungen festgestellten geringen Zunahme der Sonnenstrahlung für die Erklärung einer einheitlichen, lange anhaltenden Klimaänderung ausreicht.

Die letzte Möglichkeit bestünde noch in einer Änderung der Durchlässigke't der Atmosphäre für kurzwellige Strahlen durch schwächende Beimischungen. Der Staubgehalt der Atmosphäre wird durch Aschenausbrüche von Vulkanen enorm vergrößert. Vulkanasche schwächt vor allem die kurzwellige Sonnenstrahlung, und zwar dreißigmal stärker als die langwellige Erdstrahlung. Eine nachhaltige Herabsetzung der Intensität der Sonnenstrahlung zeigte sich nach dem bekannten Krakatau-Ausbruch (1883). Durch eine ganze Reihe weiterer Vulkan-ausbrüdie in den neunziger Jahren wurde eine fast ständige Abschwächung der Sonnenstrahlung hervorgerufen. Dann erfolgten die Ausbrüche von Santa Colima und Santa Maria (1902) und des Katmai (1912), dessen Strahlungsverminderung bis Ende 1914 anhielt. Seitdem ist keine bedeutungsvollere Eruption mehr erfolgt und dementsprechend weist auch die Strahlung bis zur Gegenwart keine auffallende Herabsetzung mehr auf. Es ist natürlich äußerst schwer, die Wirkung eines Vulkanausbruches quantitativ zu erfasisen. Vor allem spielt die schwierig nachweisbare Menge des feinsten Staubes und die Höhe, bis zu welcher derselbe durch die Explosion hinaufgeschleudert wird, eine große Rolle. Denn nur dieser äußerst feine Staub vermag sich lange genug in den hohen Schichten der Atmosphäre zu halten und eine länger andauernde Schwädiung der Einstrahlung zu bewirken. Einem englischen Forscher verdanken wir aber den überzeugenden Nachweis, daß die Ansammlung vulkanischen Staubes in den hohen Schichten der Atmosphäre eine erhebliche Temperaturerniedrigung hervorruft. Er hat nachgewiesen, daß nach allen bedeutenden Vulkanausbrüchen strenge Winter eintraten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung