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Grönlands großes Erwachen

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In Kürze wird Grönland der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitreten. Die gewaltige Insel — projiziert man ihre Südspitze auf Norddeutschland, würde ihr Nordteil noch weit bis nach Nordamerika hineinragen — reiht sich damit in die Gemeinschaft der modernen europäischen Industriestaaten ein und dürfte wohl zum ersten Male in das Bewußtsein vieler Europäer als eigentliches Land treten. Die allgemein vorherrschenden Vorstellungen einer unendlichen, menschenleeren Eiswüste, in der jede Zivilisation unbekannt ist, sind längst korrekturbedürftig geworden, spätestens seit dem Jahre 1950, als der damalige dänische Ministerpräsident sein großes Grönlandprogramm anlaufen ließ. Wer weiß schon, daß die dänische „Kolonialmacht“ den 28.000 Einwohnern Grönlands das modernste Strafgesetzbuch der Welt beschert hat? Wer weiß schon, daß die älteste Zeitung der Welt, die regelmäßig mit Illustrationen herauskam, „Atua- gagdliutit" heißt und auf Grönland gedruckt wurde? Bekannter dürfte es dagegen sein, daß die dänische Kolonie Grönland fünfzigmal so groß ist als das Mutterland, daß von den 21,175.600 Quadratkilometern Landfläche nur ein schmaler Küstenstreifen — immerhin umfaßt er 341.ÖOO Quadratkilometer und ist damit eineinhalbmal so groß als Großbritannien — bewohnbar und die Tuberkulose auf dieser Insel eine wahre Volksgeißel ist.

Das gute Einverständnis, das heute zwischen Kopenhagen und Godthaab, dem Verwaltungszentrum der Insel, herrscht, beruht vor allem auf der Tatsache, daß Dänemark seine Kolonie niemals ausgebeutet hat. Im Gegenteil: unablässig wurden Millionenbeträge in das Landl gepumpt, wurde der Bevölkerung geholfen, den Anschluß an die Zivilisation zu finden. Doch wie sehr Grönland heute in einer Übergangsperiode, am Rande eines neuen Zeitalters steht, mag man daraus ersehen, daß noch der größte Teil der Alten auf der Insel in Erdhöhlen und primitivsten Behausungen aufgewachsen ist, daß es heute — im Jahre 1961 — erst zwei grönländische Juristen, je einen Zivilingenieur und Maschineningenieur, zwei eingeborene Journalisten und sechzehn einheimische Lehrer gibt. Dies dürfte sich allerdings sehr rasch ändern, rechnet man doch bald damit, daß jährlich 800 bis 1000 junge Grönländer die Schulen verlassen werden und somit die Möglichkeit erhalten, mit Hilfe des dänischen Staates in Kopenhagen zu studieren. Niemand verlangt zwar, daß sie nach dem absolvierten Studium in ihre Heimat zurückkehren, doch hat es bisher noch kaum einen echten Grönländer gegeben, den es nicht früher oder später in seine landschaftlich so reizvolle und einmalige Heimat gezogen hätte.

Vier Grad Celsius plus und die Folgen

In der Einstellung gegenüber Grönland und seiner Bevölkerung hat sich am meisten während der ersten Nachkriegsjahre geändert. Damals geriet das Land in eine kritische Lage: in den letzten hundert Jahren ist die Durchschnittstemperatur auf Grönland um vier Grad angestiegen, die Folgen waren verheerend. Die Robben, einstmals ein wichtiger Wirtschaftsfaktor des Landes, zogen sich gegen Norden zurück, gleichzeitig wanderte der Dorsch in südliche Gewässer ab. Der Bevölkerungszuwachs betrug in den letzten zehn Jahren 35 Prozent, zum ersten Male tauchte das Gespenst der Arbeitslosigkeit für die Grönländer auf. Zugleich erreichte die Tuberkulose ihren Höhepunkt, nahezu jeder zehnte Einwohner wurde früher oder später von dieser Geißel befallen. Das wiederum führte dazu, daß die Sterblichkeitsquoten ständig anstiegen, selbst heute liegt das Durchschnittslebensalter auf der Insel noch bei nur 40 Jahren. Das harte Klima und die urwüchsige Landschaft fordern Jahr für Jahr ihren Tribut: 25 Prozent aller Gestorbenen pro Jahr fielen Unglücken und Unfällen zum Opfer. Dänemark reagierte mit Sofortmaßnahmen, dem Land wurde eine gewisse Selbstverwaltung zugebilligt, zwei grönländische Abgeordnete zogen in den „Folketinget". das dänische Parlament, ein, und ein eigener Grönlandminister wurde ernannt. Man begann das gesamte Leben auf der Insel zu reformieren — 500 Millionen Kronen wurden allein an staatlichen Mitteln in den letzten zehn Jahren investiert, dazu kommen umfangreiche Anleihen und die privaten Investitionen. Man begann, die zerstreuten Siedlungen in größere Ortschaften zusammenzufas- sen, die mit elektrischem Strom versorgt wurden und die wichtigsten Ladengeschäfte erhielten. In diesen Orten wurden Schulen, Kirchen und Krankenhäuser errichtet — heute gibt es 15 Krankenhäuser an den Küsten, die kleineren Ortschaften werden regelmäßig durch ein Lazarettschiff besucht. Das wichtigste Problem war jedoch die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohnungen für die Bevölkerung. Rund 60 Prozent der Grönländer wohnen heute schon in den größeren Ortschaften, wie Goodthaab, Jakobshavn, Christianshaab, Holsteinsborg, Sukkertoppen und Fredrikshaab. Hier wiederum begann man mit der Industrialisierung. Moderne Tiefkühlanlagen und Fischverarbeitungsbetriebe wurden buchstäblich aus dem Boden gestampft. Die Produktion in den Tiefkühlbetrieben beträgt heute schon 50 Tonnen hochwertigen Fischfilets pro Tag. Vor allem mit dieser Ware sowie anderen Fischereiprodukten, Fellen und Pelzen sowie mit Spezialerzen wird Grönland versuchen, sich in der EFTA-Gemeinschaft als Handelspartner zu behaupten. Natürlich ist das Land auf Grund seiner exponierten geographischen Lage in hohem Maße auf Exporte angewiesen. Nur in einem schmalen Küstenstreifen gedeihen winterharte landwirtschaftliche Produkte, alle anderen Lebensmittel müssen eigentlich eingeführt werden. Dazu kommt die Notwendigkeit, Holz zu importieren — außer einer Versuchspflanzung auf Südgrönland, von dänischen Forstbeamten in den letzten Jahren angelegt, gibt es keine Waldbestände. Ein interessantes Experiment hat man mit der Ansiedlung norwegischer Rentiere gemacht. Vor einigen Jahren verschiffte man 260 Tiere aus den lappländischen Bezirken Skandinaviens nach Grönland, heute ist die Herde, die auf Grönland ideale Lebensbedingungen findet, schon auf einige zehntausend Tiere angewachsen.

Schätze unter Eisscholien

Die eigentliche Zukunft des in weiten Teilen noch unerforschten und unerschlossenen Landes liegt jedoch auf ganz anderem Gebiet. Man vermutet unter den Eismassen des Inlandes umfangreiche Bodenschätze. Daß diese Hoffnungen nicht unberechtigt sind, zeigte sich bei der Erforschung einiger Erz- und Kohlengruben bei Mestervig und an anderen Orten. Die Kryolitvorkommen bei Ivigtut sind schon seit einigen Jahrzehnten bekannt, und der Export dieses seltenen Produktes schlägt jährlich in der Außenhandelsstatistik — die Gesamtausfuhr beläuft sich etwa auf 60 Millionen Kronen — kräftig zu Buch. Ein wichtiges Gut sind auch die Bleivorkommen, die in den Gruben bei Mestervig abgebaut und von hier aus während der Sommermonate zum europäischen Kontinent verschifft werden. Beide Fundstellen sind nun jedoch nahezu erschöpft, und man muß damit rechnen, daß die Förderanlagen bald stillgelegt werden müssen. Der Kohlenabbau auf der Diskoinsel ist jedoch nicht so umfangreich, daß man an einen Export in größerem Stil denken kann. Trotzdem ist man in Goodthaab recht zuversichtlich, ln den letzten Monaten wurden die Probebohrungen nach Molybdän im Nordosten Grönlands erfolgreich abgeschlossen. Das überaus seltene Metall, aus dem besonders harte Werkzeugstähle und Speziallegierungen zum Bau von Jetmotoren gewonnen werden, hat einen großen Wert. Im Jahre 1949 betrug die Weltproduktion dieses Metalls nur Tonnen, im Jahre 1960 wurden bereits 3 3.000 Tonnen verbraucht. Da in Europa praktisch keine Vorkommen festgestellt werden konnten — nur in Nordsehweden gibt es eine kleinere Grube, die jedoch nur den Inlandsbedarf decken kann —, anderseits der Bedarf ständig wächst, rechnet man sich nicht zu Unrecht große Möglichkeiten für einen größeren Grubenbetrieb auf Grönland aus. Bis 1966 sollen die Gruben ihren Betrieb aufnehmen können, wurde unlängst in Kopenhagen angedeutet. Amerikanische Spezialisten hatten ein positives Gutachten geliefert.

Luftkreuz: Thule

Doch auch auf anderen Gebieten ist die Bedeutung der „Insel mit der grünen Küste" ständig angewachsen: als Landeplatz für den interkontinentalen Luftverkehr über den Pol, als Beobachtungsstation für den Wetterdienst und nicht zuletzt als Truppenstützpunkt für die Vereinigten Staaten. 14 Grad vom geographischen Nordpol entfernt liegt die amerikanische Luftbasis Thule, die die Amerikaner errichten konnten, nachdem während des zweiten Weltkrieges Dänemark mit Washington einen Militärvertrag für Grönland abschließen mußte. Doch Thule liegt auch für die Einwohner Grönlands weit entfernt. Sie konzentrieren sich viel lieber darauf, neue Hafenanlagen zu bauen, die auch für Überseeschiffe anlaufbar sind, ihre Hochseefangflotte zu modernisieren, so daß sie dem abgewanderten Dorsch nachfahren kann, und ihre sozialen Einrichtungen nach dem dänischen Beispiel zu formen. Nachdem die schweren Krisen der ersten Nachkriegsjahre überwunden sind, glaubt man wieder an die Zukunft Grönlands. 50.000 Grönländer werden in 30 Jahren den Küstenstreifen bevölkern, dazu kommen einige tausend Dänen, die dem Zauber der Insel verfallen sind und wohnhaft wurden. Bis dahin wird die bisher noch bescheidene Zahl der einheimischen Berufsvertreter bestimmt kräftig angewachsen sein. Im Jahre 1961 gibt es noch einige ausgesprochene Mangelberufe, außer den zwei Juristen zählt man zum Beispiel einen einheimischen Taucher, einen Damenfriseur, zwei Installateure, zwei Radiomechaniker und drei Typographen.

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