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Größte Firma der Welt - krank und unrentabel

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Aus der Reihe "Notizen zur sowjetischen Gesellschaft" - erster Teil.

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Aus der Reihe "Notizen zur sowjetischen Gesellschaft" - erster Teil.

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Ein Sprichwort besagt: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ - man soll seine Meinung also immer am besten für sich behalten... Diese „Weisheit“ ist inzwischen so tief in das Bewußtsein der Sowjetbürger eingedrungen, daß sie heute nicht einmal mehr genug Fleisch oder Brot, geschweige denn Gold oder Silber haben.

Diese „Weisheit“ war mir sogar zuwider, als das Wort für mich nicht Silber, sondern Gefängnis bedeutete. Und das war mir keine Lehre, ich fange wieder an zu sprechen, riskiere damit zwar nicht mehr meine Freiheit, dafür aber den Ruf, ein analytisch denkender Mensch zu sein.

Nein, ich will keine Prophezeiungen machen. Ich werde in meinem Bericht nur versuchen, in Kürze und mit aller Strenge die Lage in der Sowjetunion zu analysieren und einige vorsichtige Prognosen zu stellen. Dabei will ich gleich eines feststellen: Ich verfüge über keine genauen statistischen Daten; mein Bericht sind die Gedanken eines Menschen, der dieses Land seit 38 Jahren beobachtet hat: mal aus der Tiefe des Provinzlebens, mal aus der Vogelperspektive einer Universität, mal durch das Mikroskop des Arbeitslagers.

Bei der entfernten Betrachtung dieses riesigen, unrentablen Unternehmens stellt man sich unversehens die Frage, wie es denn weitergehen könne. Vom Standpunkt eines vernünftig denkenden Bewohner des Westens aus sollte diese größte Firma der Welt schon längst Konkurs anmelden: Man sollte sie versteigern und die Direktoren vollzählig in das Schuldgefängnis sperren.

Vor zwei Jahren, als ich in einer gewöhnlichen sowjetischen Fabrik arbeitete - zuerst als Elektriker, dann als Techniker im Hilfsarbeiterstatus -, kam ich nach einer Weile zu der festen Überzeugung, daß das Werk in ein paar Monaten schließen müßte, so desolat war sein Zustand. Und wirklich erlebte es in nächster Zeit so etwas wie eine leichte Krise: der Direktor und der Chefingenieur wurden entlassen, drei Monate lang wurden keine Prämien mehr ausgezahlt, der Plan wurde heruntergesetzt. Aber sonst blieb alles beim alten: die Produktion war genauso schlecht wie früher, der Plan konnte nur mit Müh' und Not erfüllt werden.

Dieser mißglückte Versuch einer Prognose machte mich schon vorsichtiger und ließ mich zu der Uberzeugung kommen, daß die Sowjetunion in den nächsten zehn Jahren nicht zusammenbrechen wird, auch wenn eine ernsthafte Krankheit ,das ganze System befallen sollte.

Genau genommen ist das Land schon seit vielen Jahren unheilbar krank. Schon 1960 sagte Chruschtschow vor einem geschlossenen Parteigremium, daß die wirtschaftliche Lage „sehr schwierig“ sei. Im Dezember 1969 sprach Parteichef Breschnew von einem Nullwachstum. Heute sind sogar die offiziellen Angaben über das Wirtschaftswachstum niedriger als etwa in Mitteleuropa, und der Plan wird ständig nach unten revidiert.

Das Jahr 1970 war offensichtlich der Wendepunkt in der wirtschaftlichen Entwicklung, nachdem das Bruttonationalprodukt nicht mehr weiter angewachsen war. Dafür lassen sich eine ganze Reihe indirekter Beweise anführen: die merkliche Verschlechterung der Versorgung mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Gebrauchs zum Beispiel, die Preissteigerungen, die die sporadischen Gehaltserhöhungen bei einigen Bevölkerungsschichten bereits überholen, der Rückgang des Wohnbaus und noch anderes mehr.

Die Lage könnte noch kritischer werden, gäbe es auf dem Weltmarkt keine Preissteigerungen für Gold, Erdöl und andere Rohstoffe, die der Sowjetunion jährlich etwa zehn Milliarden Dollar bringen, ebenso wie westliche Kredite, die inzwischen etwa dieselbe Summe ausmachen dürften. Erst diese Einkünfte haben die umfangreichen Getreideeinkäufe der Sowjetunion im westlichen Ausland möglich gemacht, die auch bei bester Ernte notwendig geworden sind...

Wir interessieren uns hier jedoch nicht so sehr für die Ursachen der Verschlechterung der Gesamtwirtschaftslage des Landes, sondern für die daraus resultierenden Folgen, nämlich für das Sinken des Lebensstandards:

Es begann Anfang der siebziger Jahre und wird heute von niemandem mehr angezweifelt. Für viele verlief dieses Sinken am Anfang unmerklich und wurde erst in den letzten Jahren offenkundig. Ich hatte die Gelegenheit, die Sowjetunion von 1970 und dann von 1976 zu vergleichen. Einer meiner ersten Eindrücke war dabei das Fehlen vieler Lebensmittel und anderer Erzeugnisse in den Geschäften.

Aus den sowjetischen Läden waren gute Wurstsorten, Tee, Kaffee, Konserven, Schokolade, Zitrusfrüchte (die vollständige Liste wäre zu lang) verschwunden. Es fehlten aber auch französische, finnische, belgische Anzüge und Mäntel, englische und italienische Schuhe.

Vor zehn Jahren gab es am Ural und in den zenträlrussischen Städten kein Fleisch, jetzt fehlt es auch in Georgien und in der Westukraine, ja sogar in Estland, Lettland und Litauen - eine in den baltischen Ländern bisher unbekannte Erscheinung. Aus Kiew wird das Fleisch per Flugzeug in alle Gebiete der Sowjetunion gebracht, aber auch hier beginnt es inzwischen schon knapp zu werden. Im Mai dieses Jahres mußte man sich schon um sechs Uhr früh anstellen, um überhaupt etwas Fleisch zu bekommen.

Gleichzeitig mit der Verknappung einiger Waren stiegen die Preise für Taxi, Wodka, Autos, Bücher, Benzin, Schuhe und Möbel um 100 Prozent, die Preise für Pelze, Teppiche und Kristall wurden verdreifacht, Kaffee, Gold und Juwelen sogar viermal so teuer. Eigentlich gibt es keine Artikel, die nicht teurer geworden wären: Flugkarten stiegen etwa um 25 Prozent, Schallplatten um 50 Prozent. Und natürlich führte das Verschwinden der Waren aus den offiziellen Geschäften auch zu ihrer Verteuerung auf dem Schwarzen Markt.

Das alles heizte die Inflation immer weiter an. Nach Meinung eines angesehenen sowjetischen Wirtschaftsexperten, dessen Namen ich nicht nennen darf, ist die Kaufkraft des Rubels in den letzten zehn Jahren um 58 Prozent gefallen.

Bemerkenswert ist auf den ersten Blick ein Umstand: daß das Sinken des Lebensstandards mit einer gewissen Verbesserung der Lebensqualität einhergegangen ist. (Die Verbesserung der Lebensqualität ist auf den technischen Fortschritt und den „Nachfrageimport“ zurückzuführen.) Dieser Prozeß begann und. erreichte seinen Höhepunkt in den sechziger Jahren, als Chruschtschow den „Eisernen Vorhang“ einen Spalt weit öffnete.'

In kürzester Zeit erfuhren die Sowjetbürger von der Existenz solcher Artikel wie Kühlschränke Fernsehapparate, Staubsauger, Waschmaschinen oder Fotoapparate. Und auf einmal wollten sie nun auch ihre eigenen Wohnungen, Autos und Dat-schas haben. Solange der Großteil der sowjetischen Bevölkerung noch an seinem Brot und seinen Kartoffeln gekaut hatte, war sie zufrieden gewesen; nun aber stiegen die Bedürfnisse, erfüllt werden konnten sie jedoch nur unwesentlich. Was einige den Schluß ziehen ließ, daß es unter Stalin „alles gegeben hat und das Leben bjess^jwjirV -j vwn-urs'/i ötort

Einen rasanten Konsumanstieg rief außerdem die in den sechziger Jahren begonnene, aber rasch wieder gestoppte Motorisierung der Sowjetbürger hervor. Denn das Auto ist kein einfacher Gebrauchsgegenstand, es ist ein ständiger und unersättlicher „Konsument“, quasi ein zusätzliches Familienmitglied.

Das Wohnungsproblem ist in den letzten Jahren nicht nur nicht gelöst, es ist noch viel akuter geworden. Kein Wunder, wenn man sich etwa vor Augen hält, daß sich die Bevölkerung Kiews in den letzten fünfzehn Jahren verdoppelt hat, viele Dörfer abseits der großen Stadt aber teilweise oder vollständig verlassen sind.

Zum einen wollen die Leute nicht mehr in Gemeinschaftswohnungen leben, zieht es die Landbevölkerung mehr denn je in die großen Städte, anderseits ist der Wohnbau in der Sowjetunion im Zusammenhang mit den bevorstehenden Olympischen Spielen aber eingebremst worden, da die Kapazitäten im wesentlichen für den Bau von Sportstätten aufgewendet werden.

Ein weiteres Problem ist noch hinzugekommen: Auch in der Sowjetunion hat sich in letzter Zeit die Energieknappheit bemerkbar gemacht. Im vergangenen Winter wurde etwa in Kiew die Straßenbeleuchtung, die ohnehin ziemlich schwach ist, noch um die Hälfte verringert. Viele der großen Fabriken mußten wegen Energiemangels für einige Tage stillgelegt werden.

Der Autor ist Physiker, Publizist, Lehrer und sowjetischer Dissident. 1941 in Sibirien geboren, wurde er 1971 vom Moskauer Stadtgericht wegen Hochverrats zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, die er in den Lagern Dubravlag und Perm absaß. 1979 wurde er zusammen mit zweihundert "unverbesserlichen" Dissidenten ins Ausland geschickt.

Zweiter Teil der Reihe: Sabotage - Reaktion der Bevölkerung auf das Sinken des Lebensstandards

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