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Grundlage von Wissenschaft und Kultur

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Geisteswissenschaft darf nicht an ihrem wirtschaftlichen Ertrag gemessen werden. Denn die Naturwissenschaft kommt nicht ohne sie aus.

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Geisteswissenschaft darf nicht an ihrem wirtschaftlichen Ertrag gemessen werden. Denn die Naturwissenschaft kommt nicht ohne sie aus.

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Seit Jahren wird seitens des Wissenschaftsministeriums der Universitätsbetrieb in den Augen der Öffentlichkeit herabgesetzt.“ Das beliebteste Objekt ministerieller Mißachtung sind die Kultur- und Geisteswissenschaften, die permanent durch neue Gesetze Reformiert' werden sollen. Erklärt wird, es ginge ums Sp'aren, gemeint ist die Abwertung der öffentlichen Bedeutung von Kultur- und Geisteswissenschaften“, hieß es vorige Woche in einem offenen Brief an Wissenschaftsminister Rudolf Schölten, der von rund 200 Mitgliedern der geisteswissenschaftlichen Fakultäten an vier österreichischen Universitäten unterzeichnet ist.

Dies ist nur das jüngste Kapitel in der sich seit einiger Zeit hinziehenden Diskussion um die Geisteswissenschaften. In Zeiten immer knapper werdender Budgetmittel mehren sich die Stimmen - vor allem aus der Wirtschaft - die die Geisteswissenschaften für einen kostspieligen und verzichtbaren Luxus halten. In der J at werfen die Ergebnisse philosophischer, historischer oder sprachwissenschaftlicher Forschung keinen unmittelbaren finanziellen Ertrag ab. Für Menschen, die nicht über den Band des Börseberichtes hinausblicken, ist klar: Ein Bilanzposten, der sich ökonomisch nicht rechnet, muß gestrichen werden.

Die Verteidiger der Geisteswissenschaften hingegen sehen die Basis des geistigen Lebens und der Kultur bedroht. Sie können auch darauf verweisen, daß der technische Fortschritt und der damit verbundene Wohlstand (in der westlichen Welt) untrennbar mit vorangegangenen geistigen Strömungen verbunden ist. „Bloße“ Denker - wie etwa Francis Bacon(1561 bis 1621) mit seiner Lehre von den Idolen (Trugschlüssen) -legten die geistige Grundlage für die neuzeitliche Wissenschaft, insbesondere die wirtschaftlich rentablen Naturwissenschaften. Vergangene Epochen, auch als von Geisteswissenschaften noch keine Bede war, werden im Rückblick vor allem durch ihre geistigen Vertreter repräsentiert: Griechische Philosophen wie Sokra-tes oder Piaton leben noch nach über zwei Jahrtausenden in der Erinnerung der Menschheit. Die Reeder oder Kaufleute in Athen, so viel Geld sie auch angehäuft haben mögen, sind tot und vergessen.

Die im 19. Jahrhundert erfolgte Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften ist die Konsequenz der 'Trennung von Geist (res cogitans) und der als Materie aufgefaßten Natur (res extenso) durch den französischen Philosophen Rene Descartes 200 Jahre zuvor. Der Begriff der Geisteswissenschaft wurde im deutschen Sprachraum vom deutschen Philosophen Wilhelm Dilthey (1833 bis 1911) eingeführt. In seinem heutigen Sinn umfaßt er die Deutungen der Welt in Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Philosophie und Wissenschaft. (Erst vor kurzem haben sich die Sozial- von den Geisteswissenschaften emanzipiert, was in der Errichtung entsprechender Fakultäten seinen Niederschlag gefunden hat.)

Während die Naturwissenschaften durch ihre technische Anwendbarkeit einen unaufhaltsamen Aufstieg erfuhr, ging es mit dem Ansehen der Geisteswissenschaften bergab. Vieles, was früher in den Bereich der Geisteswissenschaften fiel, wird heute von den Naturwissenschaften in Beschlag genommen. War in früheren Jahrhunderten die Physik die Leitwissenschaft, so ist es in diesem Jahrhundert die Biologie: Humanethologen führen alles menschliche Verhalten auf genetisch bedingte Anlagen zurück; Neurologen betrachten den menschlichen Geist als Produkt physiologischer Vorgänge im Gehirn. Die (Molekular)Biologie scheint den Geist mit immer größerem Erfolg aus seinen letzten Reservaten zu vertreiben.

Doch der Geist kann nicht einfach so vom Tisch gewischt werden; schon seit langem hat er sich durch die Hintertür in die Naturwissenschaften eingeschlichen - und das ausgerechnet in die Physik, die Grundlage der modernen Molekularbiologie: In der Quantenmechanik, jener Physik, die sich mit den kleinsten Bausteinen der Materie beschäftigt, ist nämlich der Beobachter an der Schaffung physikalischer Realität beteiligt. Die kleinsten Bestandteile der Materie erscheinen, je nachdem welche Versuchsanordnung der Wissenschaftler wählt, als Teilchen oder als Welle. Diesem Phänomen liegt kein Fehler zugrunde, sondern es gehört zum Wesen der Quantenmechanik. So entsteht ein logischer Zirkel: Die Biologie, die bestimmte geistige Fähigkeiten des Menschen erklären möchte, stützt sich auf die Physik, deren Ergebnisse davon abhängig sind, wie der Geist eines Wissenschaftlers ein Experiment konzipiert.

Auch verläuft die Entwicklung der Naturwissenschaften nicht rational, linear und nach dem Muster des Fortschritts auf einheitlicher Basis, wie der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn in seinem Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ ausführt. Er zeigte, daß die Entwicklung der Naturwissenschaften - ebenso wie in den Geisteswissenschaften und den Künsten - durch revolutionäre Veränderungen der Grundlagen und Methoden („Paradigmenwechsel“) gekennzeichnet ist. Da hält plötzlich der historische und soziale Kontext Einzug in die Naturwissenschaften. Und' wer ist dafür zustandig? 1 )ie Geisteswissenschaften .. .

Die Tatsache, daß der menschliche Geist - was auch immer das ist - trotz entgegengesetzter Bemühungen aus den Naturwissenschaften nicht weggedacht werden kann, sollte den Verächtern der Geisteswissenschaften zu denken geben. Geisteswissenschaft ist eben keine nutzlose Gehirnakrobatik, sondern zumindest eine notwendige Begleiterscheinung der nützlichen, ökonomisch verwertbaren Naturwissenschaft. Aber sie kann auch viel mehr sein: der lebende Beweis, daß der Mensch wesentlich mehr ist als ein kleinkarierter homo oeconomicus.

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