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Was ist das — das Neue Denken?

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Im Zusammenhang mit den Wandlungsvorgängen im Bereiche der Technik, der Produktionsmethoden und der Gesellschaftsstruktur wandeln sich auch Bewußtseinsinhalte, Bildungsgrad und Denkformen. Beide Prozesse bedingen und bestimmen einander wechselseitig. Bald kann man seine Umwelt nicht mehr verstehen, wenn man sich das Neue Denken nicht angeeignet hat.

Welche Bewandtnis es mit diesem „Neuen Denken“ hat, wurde erstmals am XIV. Internationalen Kongreß für Philosophie, der im September 1968 in Wien abgehalten wurde, sichtbar. Dies geschah im Zusammenhang mit einer Entwicklung, die man „Erneuerung der Metaphysik“ genannt hatte. Lange Zeit hindurch galt die Metaphysik als unwissenschaftlich; nun steht sie wieder gern allein zur Debatte. Der Terminus ist sogar aus dem Munde von Naturwissenschaftlern zu hören.

Der Begriff „Metaphysik“ wird heute freilich mit einem neuen Inhalt verwendet. Am deutlichsten hat dies Bertalänffy (Kanada) ausgedrückt, wenn er sagt, daß sich die Metaphysik als Denken von Ganzheiten oder Systemen bewähre; und Muck (Innsbruck) ergänzt, daß metaphysische Fragestellungen nur von ganzheitlichen Gesichtspunkten aus angestellt und gelöst werden können.

Von Leo Gabriel (Wien) und mehreren anderen Teilnehmern wurde die Meinung geäußert, daß der gegenwärtige Trend zum ganzheitlichen oder integrativen Denken die zwangsläufige Folge der übermäßigen Spezialisierung sei, die nicht nur den Bereich der Wissenschaft, sondern auch den des wirtschaftlichen und des sozialen Lebens erfaßt hat. Diese „Atomisierung“ mußte einmal überwunden werden; das analytische Denken mußte in neue Synthesen einmünden. Dieser Augenblick sei eben jetzt gekommen. Die Wahrheit sei nur durch Synthese erreichbar (Aguirre, Spanien), der Menschengeist suche das Ganze.

Was nun konkret unter der neuen Metaphysik zu verstehen sei, deutete Meurers (Wien) mit der Bemerkung an: An die Stelle metaphysischer Weltentwürfe seien nun Hypothesen getreten, deren Bedeutung für den Naturwissenschaftler kaum überschätzt werden könne. Philosophische Weltentwürfe nach Art von Hypothesen seien für die FAnzelwissenschaften notwendig, nicht nur weil sie deren Ergebnissen Sinn gäben, sondern auch weil sie die Richtung für neue Fragestellungen wiesen.

Demnach kann man den Wandel des Metaphysik-Begriffes etwa dahin deuten, daß nunmehr philosophische Weltentwürfe, Theorien, Hypothesen und heuristische Modelle als „Metaphysik“ bezeichnet werden, und daß ganzheitliche Konstruktionen dieser Art nunmehr eine wesentlich höhere Bewertung erfahren.

Eine ähnliche Ansicht vertrat auch Sir Karl Popper mit der von ihm vorgeschlagenen„Drei-Welten-

Theorie“. Diese Theorie nimmt neben der physikalischen und der bewußten Welt noch eine dritte Welt, die der objektiven Ideen, an. Zu dieser Dritten Welt zählten die Theorien und Hypothesen, die zwar Menschenwerk seien — wie etwa die Sprache —, denen man aber objektive Realität, Autonomie und ontolo-gische Relevanz zuerkennen müsse.

Im Zusammenhang mit dem Emporkommen einer neuen Metaphysik scheint auch der Neopositivismus eine neuartige Einordnung in den Kosmos der menschlichen Erkenntnis zu finden. Schon Popper, den man unter die positivistischen Denker eingeordnet hatte, erklärte ausdrücklich, daß er kein Positivist sei. Der Engländer Ayer, der die Philosophie des „Wiener Kreises“ besonders hervorhob, bemerkte doch gleichzeitig, daß der Bereich der Erkenntnis von dem der Entscheidung streng zu trennen sei, und daß der Positivist mit diesem existentiellen Bereich nichts zu schaffen habe. Und Bertalänffy wies darauf hin, daß Rudolf Carnap von seiner positivistischen Grundkonzeption insofern abgewichen sei, als er erkannt habe, daß „Protokollsätze“ nicht Daten schlechthin aussagten, sondern vielmehr als eine Auslegung von solchen begriffen werden müßten. Der Positivismus scheint heute also „aufgehoben“, und zwar in Hegel'schem Sinne: also negiert als ausschließlicher Weg zu Erkenntnis und Wahrheit, bewahrt als wissenschaftliche Methode von hohem Wert, und emporgehoben in einen neuen und weiteren Zusammenhang menschlichen Selbstverständnisses. Damit ist der Positivismus als Ideologie überwunden; gleichzeitig erscheint er an einen geistigen Ort gerückt, der seiner bedeutenden Rolle angemessen ist.

Das integrative Denken hat aber nicht nur im Bereich der Philosophie Bedeutung erlangt, sondern ist inzwischen auch zum geistigen Rüstzeug der meisten anderen Disziplinen, vor allem der modernen Wissenschaftsbereiche, geworden. Die Kybernetik, die Wissenschaft von

der Steuerung dynamischer Systeme von hoher Komplexität — also etwa einer Volkswirtschaft, sowie die Ökologie, welche die wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Umweltsanierung beistellt, beruhen auf der integrativen Denkweise.

Dieses Neue Denken wird, was sich von Tag zu Tag deutlicher zeigt, zur unabdingbaren Voraussetzung erfolgreicher Politik, weil allein diese Denkweise die Bedingungen dafür schafft, daß die Ordnung des stets komplexer werdenden gesellschaftlichen und politischen Ganzen gestaltet werden kann, ohne daß hie-durch Selbstsein und Freiheit der Teilstrukturen letztlich die menschliche Person vernichten oder unter unerträglichen Druck setzen. Die Frage nach der Synthese von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung ist natürlich nicht auf Österreich beschränkt, sie ist längst zum zentralen Problem einer Welt geworden, die um die organische und organisierte Einheit des gesamten Menschengeschlechts ringt.

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