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Confiteor vor Marx und Freud?

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Ein zeitgenössisches Urteil: Die Kirche versteht es meistens nicht mehr, mit dem jeweils herrschenden Zeitgeist zurechtzukommen. So war es zum Beispiel ihr Fehler, daß sie sich großen, bewegenden Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts, wie jenen Marx' und Freuds, verschloß. Seither wird ihr die Schuld dafür angelastet, daß sich solche modernen Ideen nicht rascher und fruchtbarer entwickeln können. Die Intellektuellen haben ihrerseits die Konsequenz daraus gezogen: sie stehen der Kirche mit wachsender Fremdheit gegenüber. Will die Kirche nicht, daß die Geschichte über sie hinweggeht, dann wird sie sich punkto bisheriger Versäumnisse einem Nachholunterricht der Geschichte stellen müssen.

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Ein zeitgenössisches Urteil: Die Kirche versteht es meistens nicht mehr, mit dem jeweils herrschenden Zeitgeist zurechtzukommen. So war es zum Beispiel ihr Fehler, daß sie sich großen, bewegenden Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts, wie jenen Marx' und Freuds, verschloß. Seither wird ihr die Schuld dafür angelastet, daß sich solche modernen Ideen nicht rascher und fruchtbarer entwickeln können. Die Intellektuellen haben ihrerseits die Konsequenz daraus gezogen: sie stehen der Kirche mit wachsender Fremdheit gegenüber. Will die Kirche nicht, daß die Geschichte über sie hinweggeht, dann wird sie sich punkto bisheriger Versäumnisse einem Nachholunterricht der Geschichte stellen müssen.

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Nicht nur „der Kirche Fernstehende“ geben dieser einen solchen, anscheinend gutgemeinten Rat. Die Unzufriedenheit mit dem geistigen Klima in der Kirche zeigt sich auch innerhalb derselben in bestimmten Kreisen, in denen man noch katholisch sein und katholisch bleiben möchte; wenn man es bloß nicht mit einer Kirche zu tun hätte, die für einen modernen Intellektuellen strapazierend ist und oft so gar nicht seinen höchst individuellen Ansichten entspricht. In einzelnen, bisher katholischen Vereinen und Verbindungen ist die religiöse Diskussion so weit gediehen, daß das Katholizitätsprinzip verneint wird und eine eklatante Religionsfeindlichkeit um sich greift.

Ohne daß es viele intellektuelle Unzufriedene bemerkt haben, führte der fragliche Nachholunterricht oft zu einer verspäteten Rezeption heute überholter Anschauungen, die noch aus dem 19. Jahrhundert und von früher herrühren, oder zu einem Confiteor angesichts eines Zeitgeistes, der zwar heute herrscht, der aber keineswegs „modern“ ist, sondern von gestern stammt.

Der Lehrstoff des Marxismus

Die Marx-Renaissance der vergangenen sechziger Jahre zeitigte ein höchst bezeichnendes Phänomen: Während die nach Herkunft und Anschauung längst dem Marxismus ergebenen Parteigänger den Neo-(besser: Spät-)Marxismus mit einiger Gelassenheit erlebten und Bruno Kreisky feststellte, es sei nicht so wichtig, ob Marx in diesem oder jenem Punkt recht gehabt hat oder nicht, wurden die katholischen Anhänger des Neomarxismus von einer geradezu stürmischen „ersten Liebe zum Marxismus“ erfaßt. Folgenschwerer als deren emotionelle Anwandlung war aber ihr intellektuelles Experiment, mit dem versucht wurde, das im 19. Jahrhundert entwickelte Denkmodell des Marxismus noch einmal funktionsfähig zu machen, um es in Betrieb zu nehmen.

Im 19. Jahrhundert hat der Fortschritt der Wissenschaft zu einem fast grenzenlosen Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Allgemeingültigkeit geführt. Es gehörte zu einem insbesondere von dem Astronomen und Mathematiker Laplace entwickelten Weltbild, anzunehmen, daß es in Zukunft gelingen würde, die ganze Zukunft im voraus zu erfassen, sobald man Ort und Geschwindigkeit eines jeden Teilchens des Universums bestimmen und hinreichend gut rechnen könnte. Solche Aussichten befreiten scheinbar den aus dem 18. Jahrhundert stammenden spekulativen Charakter des Denkens von irrationalen Anhängseln, um seinen Ergebnissen den Charakter einer „unentrinnbaren Realität“ zu geben. Zu dem damals von Auguste Comte aufgeführten Fundament des Positivismus (und seither des Liberalismus) gehören die Vorstellungen, daß auch die sozialen Erscheinungen „wirklichen Naturgesetzen“ unterliegen und daß es so etwas wie eine „soziale Physik“ gibt.

Dieser wissenschaftliche Absolutismus des 19. Jahrhunderts hat im modernen Denken von heute und in den „herrschenden Anschauungen“ unauslöschliche Spuren hinterlassen. Alle im Anschluß an Marx entwickelten Formeln und Modelle beruhen mehr oder weniger auf jenen

Irrtümern des 19. Jahrhunderts, die einem „unerbittlichen Ablauf der Geschichte“, aber auch einem „wissenschaftlichen Planen der Gesellschaft“ Glaubwürdigkeit und Sinn geben möchten. Gegen Ende des

19. Jahrhunderts, als Siegmund Freud immer stärker mit seinem Oeuvre hervortrat, betrachteten nicht wenige Physiker die Forschungsarbeit auf ihrem Gebiet als nahezu abgeschlossen.

Die Tatsache, daß inzwischen ehedem als absolut sicher angenommene wissenschaftliche Grundlagen, zumal in den Naturwissenschaften, in Frage gestellt, jedenfalls aber der vom Geist des 19. Jahrhunderts in Anspruch genommene wissenschaftliche Absolutismus widerlegt wurde, ist vielen hervorragenden Marxisten wie Lenin erst Jahrzehnte später bewußt geworden. Dem Geist des

20. Jahrhunderts, der vom Determinismus des 19. Jahrhunderts wegzu-lenken schien, vermochten sie nolens volens nur zum Teil zu folgen. In ihrem Weltbild hatte zum Beispiel jener „Zufall“, der in der Physik nach dem Tode Einsteins (1955) seine Rolle hat, keinen Platz. Trotzdem unternahmen es die revolutionären Intellektuellen der sechziger Jahre, bei ihrem Aufstand gegen das Industriesystem des Spätliberalismus das marxistische Denken des 19. Jahrhunderts, zumal die Klassenkampfideologie, noch einmal zu forcieren. Da ein „inneres Proletariat“ in den von diesem Aufruhr betroffenen modernen Industriestaaten zuweilen fehlte, reflektierten die dortigem Klassenkämpf er der sechziger Jahre auf die Kämpferqualitäten eines „äußeren Proletariats“ in den Entwicklungsländern, um diesmal die Revolution in allen Teilen der Welt ans Ziel zu bringen.

Für Einstein war bis zusetzt die „reine Anschauung der Naturgesetzlichkeit zugleich die ihm gemäße Form der Verehrung des Göttlichen. Natur ohne vollständige Kausalität wäre ihm gleichbedeutend gewesen mit einem Verzicht auf den Glauben an göttliche Vollkommenheit“ (Pas-cual Jordan). Wenn Einstein in diesem Verlangen nach kausaler Deutung angesichts der Probleme der Quantenphysik schrieb: „Wenn ich nur wüßte, welche Schräubchen der Herrgott dabei anwendet“, dann offenbart dieser Stoßseufzer eines aus vergangenen Jahrhunderten herrührenden Deismus ungemein deutlich die Funktion der Kirche angesichts des kalaidoskopartig wechselnden wissenschaftlichen Weltbildes: Die Kirche existiert nicht auf dem jeweiligen Stand der Wissenschaft in diesem oder jenem Jahrhundert oder auf einem Stand der Physik vor und nach Einstein, sondern auf einem Grundbestand an Wahrheiten, die absolut ungeschichtlich sind, die allerdings den Glauben an die Offenbarung voraussetzen.

Nach dem Abklingen der Marx-Renaissance der sechziger Jahre wird mit unabweisbarer Notwendigkeit eine neuerliche Revision der Einstellung der Intellektuellen zum Marxismus stattfinden. Ein Ergebnis dessen wird auch eine Änderung in der Gesprächssituation zwischen Intellektuellen und Kirche sein. Die eingangs zitierte totale Verurteilung der Kirche wird revidiert werden. Denn die historischen Vorbehalte der Kirche gegenüber dem geistigen Fundament des Marxismus werden

sich, unabhängig vom gerade herrschenden Zeitgeist oder von tagespolitischen Opportunitäten, als rechtens erweisen. Im übrigen wird eine Versachlichung der Marx-Kritik die Kritik am Theismus und an der Kirche entlasten.

Die Kirche ist Freud im Weg

Im jetzigen Zeitalter der Befreiung menschlicher Individuen und Gruppen von „sexuellen Zwängen“ und angesichts der Ausbreitung einer „ungehemmten erotischen Freiheit“ konnte es nicht ausbleiben, daß der Kirche ihre seinerzeitige Gegnerschaft zur Lehre Freuds angelastet wird. Friedrich Heer hat, insbesondere in seinem Werk „Der Glaube des Adolf Hitler“, dazu das Confiteor eines Autors katholischer Herkunft geleistet. Die Gegnerschaft zur Lehre Freuds wird so geradezu zum typischen Ausdruck spießbürgerlicher, klerikaler und antisemitischer Borniertheit gegenüber dem Genie gemacht; ein Gegenstand, in dem die Kirche einen Nachholunterricht einlegen sollte.

Hier soll nicht noch einmal auf die Frage: Freud und der Antisemitismus im Wien seiner Zeit eingegangen werden. (Vgl. dazu: DIE FURCHE vom 14. August 1971 ff.) Nichts ist indessen bezeichnender als die Tatsache, daß Theodor Herzl in seinem zur Zeit der „Affäre Freud“ in Wien erschienenen Werk „Der Judenstaat“ in dem speziellen Kapitel über Antisemitismus auf die österreichischen Verhältnisse nicht eingeht, und an anderer Stelle Beispiele aus dem Ausland zitiert. Und siebzig Jahre nacher (1966) bestätigt K. R. Eißler in seiner kritischen Untersuchung der Hindernisse auf der akademischen Laufbahn Freuds, daß diesem letzten Endes weder der Antisemitismus noch die Kirche im Wege gestanden sind, sondern jene „Schockwirkung“, die seine Schriften über die Sexualität zumal bei seinen Fachkollegen ausgelöst haben. Man darf hinzufügen: in erster Linie auch bei seinen Fachkollegen jüdischer Herkunft. Von Alfred Adler und Gustav Aschaffenburg angefangen, die sich schon vor dem Ersten Weltkrieg gegen Freud wandten.

Und wohl die härteste Kritik empfing Freud von Seiten der Linken, zumal der linken Linken. Die Kritik aus bolschewikischen Kreisen, die den „Einsatzort“ der Freudschen Therapie nur in der „bürgerlichen Gesellschaft“ zu erblicken vermochte, geht weit zurück. Sie koinzidiert mit der jüngsten Kritik aus Kreisen des Neomarxismus und der Neuen Linken, die Freuds Theorien nur in Zusammenhang mit der „Lebensnot des bürgerlichen Subjekts“ zu erkennen vermag. Demnach stünde es der Avantgarde der Neuen Linken in der Kirche eher zu, sich gegen die Kritik der Linken an Freud zu wenden, als die Kirche dafür anzuklagen, daß sie nicht erst heute in bezug auf Freud vor Enttäuschungen gewarnt hat, die Herbert Marcuse in jüngster Zeit (1970) als eine „unwidersprechliche Beobachtung“ erfahren mußte: Daß nämlich der „Zunahme des Libido“ nicht die erwartete Deaggressivie-rung folgte, sondern die „Brutalisie-rung der menschlichen Gesellschaft“.

In seinem Buch „The Sleepwal-her“ (als Pinguin-Book erschienen 1969) schreibt Arthur Koestler: the conflict between the Church and Galileo (or Copernicus) was not inevi-table. In längeren Ausführungen legt Koestler dar, daß es sich bei solchen Konflikten meistens nicht um solche der Kirche Christi mit dem Fortschritt der Wissenschaft handelt, sondern um Konfliktsituationen, die von klerikalen Intellektuellen heraufbeschworen werden. Letztere verstanden es nur zu oft, für ihren wissenschaftlichen Absolutismus und Monismus kirchliche Amtsträger zu engagieren, indem sie rationelle Probleme in der Tarnung von Glaubensfragen darboten.

Die Kirche steht in dieser Hinsicht einem Problem gegenüber, das sich auch auf vielen anderen Gebieten, zumal auf jenem der Politik, als äußerst gefährlich erweist: Das Ansehen der Wissenschaft oder eines Wissenschaftlers wird in maßgebenden Kreisen und vor der „öffentlichen Meinung“ dazu mißbraucht, um Konzepte auch dann als „wissenschaftlich begründet“ hinzustellen, wenn es sich nur um Ratschläge handelt, bei deren Erstellung ein Wissenschaftler sein Fachgebiet verläßt und in Wirklichkeit bloß als ein .gebildeter Laie“ seine Meinung äußert. Das klassische Beispiel dafür ist der seinerzeitige Rat Einsteins an US-Präsidenten Roosevelt zur Herstellung der Atombombe, ein Rat, den nicht der Physiker Einstein, sondern der politisch engagierte Antinazi erteilte.

In den heute vielfach als prekär eingeschätzten Beziehungen der Intellektuellen zur Kirche müßte daher nicht nur der Zustand der Kirche beleuchtet werden; zuerst müßte gesagt sein, um welchen Typ

des Intellektuellen es sich handelt. Es würde sich ergeben, daß dann, wenn von den Intellektuellen die Rede ist, deren Bezeichnung sich als eines jener Worte erweist, deren Formelhaftigkeit dazu führt, daß sie zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Verhältnissen eine ganz verschiedene Bedeutung haben. Es muß nicht gerade jene Bedeutung sein, die im Brockhaus-Lexikon, Ausgabe 1954, folgendermaßen formuliert ist: Intellektueller — ein Mensch, der seinem Verstand nicht gewachsen ist. Im Sinne einer abendländischen Kulturtradition wäre dem entgegen ein gebildeter Mensch ein solcher, der auf einen Kunstbegriff reflektiert, der nicht, wie heute vielfach, auf den Bereich der Geisteskultur beschränkt ist, sondern die Bereiche des Sittlichen und Religiösen mit einschließt. In diesem Zusammenhang bekommt rebus sie stantibus der Glaube die Bedeutung eines außerordentlich notwendigen Kriteriums auf dem Gebiet der Kulturpolitik.

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