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Das Opium der Intellektuellen

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Marxismus: das ist die Theorie und das aus der Theorie geborene politische Programm von Karl Marx. Die Russen haben dem einen zweiten Namen hinzugefügt: Marxismus-Leninismus. Es ist aber Lenins theoretischer Beitrag zum Lehrgebäude des Marxismus sehr bescheiden. Diamat, der dialektische Materialismus, geht auf späte Arbeiten von Engels zurück, der seinerseits die Lehre seines Freundes auf angelesene Erkenntnisse der Naturwissenschaften anzuwenden versuchte.

Der eigentliche Beitrag Lenins ist taktischer, praktischer Art: seine Ratschläge und Kniffe für das Gewinnen einer Revolution, und nach dem Sieg seine Taten. Wir haben aber immer wieder Versuche, zwischen Lenin und Marx zu unterscheiden und auf den reinen Marxismus zurückzugehen. Wir haben auch Versuche, zwischen dem alten und dem jungen Marx zu unterscheiden; der junge soll dann der wahre sein.

Wir haben auch Versuche, auf dem Boden des Marxismus doch über Marx hinauszugehen, ihn zu verfeinern, ihn veränderten Zuständen anzupassen.

Ich halte von all diesen Versuchen nicht viel. Marx ist Marx von Anfang an; er ist zumindest im Kommunistischen Manifest schon völlig da, und seitdem ist viel weniger Entwicklung, geistige Bewegung im Leben von Marx, als gern behauptet wird. Es ist Anwendung auf verschiedene Zweige der Humanwissenschaften, es ist Auffüllung, Illustrierung, Beweisführung im Konkreten der ökonomie, der Geschichte, der Zeitgeschichte; es ist nicht Wandlung.

Die Marxsche Theorie der Gesellschaft in Gegenwart und aller Vergangenheit ist eine sehr starre und -bei allem dialektischen Hokuspokus - im Grunde sehr einfache; darin lag und liegt ihre verführerische Kraft, deren erstes Opfer Marx selber wurde.

Natürlich kann man gewisse Marxsche Thesen aus ihrem dogmatischen Rahmen lösen und sie als heuristische Hypothesen gebrauchen; man kann möglichen Zusammenhängen zwischen dem Wirtschaftsleben und dem geistigen Leben oder zwischen Wirtschaft und Herrschaft nachgehen, wie das etwa Max Weber getan hat.

Das kann man allerdings tun, aber deswegen ist man nicht Marxist. Man ist es um so weniger, weil es solche Methoden der Analyse, solche hypothetischen Fragestellungen, solche konkrete Einsichten auch schon vor Marx gab, zum Beispiel bei Tocque-ville, zum Beispiel bei französischen Romanciers wie Balzac und Sten-dthal, bei ihnen in erstaunlichem Maße.

Das lag in der Zeit und dafür hätten wir Marx nicht nötig gehabt. Der Marxismus selbst ist unteilbar in seiner Starrheit und Geschlossenheit. Man ist Marxist oder man ist es nicht. Und Marx selber wäre der letzte gewesen, der einen halben Marxismus geduldet hätte; er, der, und zwar von Anfang bis Ende, jede Abweichung von seinem eigenen Denken mit Gift und Haß und Hohn überschüttete!

Marx hat auf die Intellektuellen von Anfang an eine sehr starke Anziehungskraft ausgeübt. Alles, was gegen seine Theorie schlagend und beweiskräftig angewendet werden konnte, alle Widerlegungen seiner Prophezeiungen durch werdende Wirklichkeit selbst, haben diese Anziehungskraft nicht schwächen können und tun es auch heute nicht. Jede neu ankommende Generation, in Westeuropa und in Deutschland wie auch in Amerika, dort weniger, und neuerdings in Afrika, stürzt sich in diese Irrlehre und kommt selten wieder heraus.

Es hat dieser immer wiederholte Vorgang etwas Deprimierendes und ödes. Ich sehe und höre dieselben jungen Leute, dieselben Typen, nur mit anderer Haartracht und Barttracht, die ich vor bald fünfzig Jahren sah, und höre dieselben Argumente: Der Imperialismus als letztes Bollwerk des zum Untergang verurteilten Kapitalismus, die aufsteigende Arbeiterklasse, das Reich der Freiheit, der überwundenen Entfremdung, welches sie bringen wird.

Keinerlei Erfahrung kommt dagegen an, kein auf Erfahrung gestütztes Argument und kein gedankliches. Folglich müssen sich auch die Gegenargumente, muß sich die geistige Abwehr des Marxismus ewig wiederholen. Zum Beispiel kann ich in der Pariser Nouveaux Philosophes beinahe überhaupt nichts Neues finden. Da steht, bei Glucksmann zum Beispiel, gar nichts, was nicht schon bei Benedetto Croce oder bei Bertrand Russell oder bei Thomas Masa-ryk oder bei Carl Popper gestanden wäre.

Wie könnte es anders sein? Da der Marxismus sich immer gleich bleibt, so müssen sich auch seine Kritiker im Kern immer gleich bleiben, können sie allenfalls Nuancen beitragen, wie das zum Beispiel Kolakowski tut. Dies Phänomen, die ewige Wiederholung des längst durch den Gedanken wie durch die historische Erfahrung Widerlegten, gilt es zu analysieren.

Nun ist, wenn man historisch genau sein will, Marxens Anziehungskraft älter als er selber; sie geht auf seinen Lehrer Hegel zurück, dessen Philosophie schon falsche Allwissenheit war, also ihren Adepten falsche Allwissenheit verlieh.

Natürlich war Hegel als Philosoph unvergleichlich origineller, zu deutsch ursprünglicher, tiefer und reicher als Marx; er fing nicht als Schüler, Nachahmer, raffinierter Hantierer mit Begriffen an, Bewußtsein, Negation der Negation, Aufhebung, Sprung von der Quantität zur Qualität und so weiter, sondern erfand sie sich selber mit schwerer Mühe.

Was Hegel bot, war Religionsersatz, wenn er auch, innerhalb seiner Philosophie, das Christentum noch auf eine verbogene Weise hatte retten wollen, ein später und gefährlicher protestantischer Kirchenvater sozusagen. Marx bot gleichfalls innerweltlichen, atheistischen Religionsersatz, den er als Wissenschaft, ja als Summe aller Wissenschaften ausgab.

Die Anziehungskraft war ungeheuer. Sie wurde noch stärker dadurch, daß Marx alles mögliche mit hineinpackte, ~was in der Zeit lag: englische Ökonomie, französischen Sozialismus, deutschen Historismus, den Positivismus, der von den popularisierten Triumphen der Naturwissenschaften ausging; dabei war Engels, in demagogischer Plattheit einige Stufen unter ihm, sein rüstiger Gehilfe.

Bekanntlich hat Marx die Religion das Opium des Volkes genannt, des ausgebeuteten, leidenden Volkes. Mit Leid und Ausbeutung entfällt die Religion. Der Vorsitzende der deutschen Jusos hat das noch neulich wiederholt, indem er erklärte: Man sollte nicht die Kirchen bekämpfen, wohl aber gesellschaftliche Zustände schaffen, welche die Kirchen „vielleicht“ überflüssig machten. Das „Vielleicht“ hat er aus Feigheit hinzugefügt; er wollte nicht als der waschechte Marxist erscheinen, welcher er trotzdem ist.

In Antwort auf Marx hat Raymond Aron den Marxismus das „Opium der Intellektuellen“ genannt: das Gedankensystem, das innerweltliches Dogma ist, aber vorgibt, Wissenschaft zu sein, das den Glaubenslosen Glaubensersatz, Halt und unangreifbare Überlegenheit gibt. Solche Überlegenheit können schon Zwanzigjährige haben, es ist ein Jammer, es zu sehen. Und unglaublich, zu welchen Albernheiten das marxistische Begriffsspiel gehen kann.

Es ist die marxistische Überzeugung, daß die beiden Weltkriege durch die inneren Widersprüche des agonisierenden Kapitalismus verursacht wurden, theoretisch begründet in Lenins Schrift „Der Imperialismus als letztes Stadium des Kapitalismus“, ebenso, daß Hitler ein Kapitalistenknecht war und von der deutschen Industrie an die Macht gebracht wurde.

Als ob es Imperien, Eroberungen und Großkriege nicht gegeben hätte, längst bevor es Kapitalismus gab. Als ob es nicht heute einen gefährlichen Machtkonflikt zwischen zwei kommunistischen Großreichen gäbe!

Der Generalsekretär der CDU, Herr Geißler, hat vor einiger Zeit ein Rundschreiben an die deutschen Kultusminister gerichtet: man möge doch dafür sorgen, daß neben marxistischer Philosophie und Gesellschaftsbetrachtung den Studenten auch andere Angebote an den Hochschulen reichlicher als bisher gemacht würden. Er wollte den Marxismus keineswegs ausgeschlossen, er wollte ihn nur durch Gegengifte balanciert sehen.

Der Bremer Kultussenator antwortete ihm: Er wisse wohl gar nicht, daß der Marxismus selber das Endprodukt der edelsten philosophischen Tradition in Deutschland sei und daß er einen so großen Philosophen wie Ernst Bloch hervorgebracht habe.

Daß Bloch kein so großer Philosoph war, ein brillanter Feuilletonist und Erzähler allerdings, auch ein faszinierender Redner, daß man sich indes fragen muß, ob ein Schriftsteller, der den ebenso lächerlichen Begriff vom „Roten Geheimnis“ prägte, ob der überhaupt den Ehrentitel eines Philosophen verdient - wer solches öffentlich ausspräche, der würde, so fürchte ich, aus der Gemeinschaft der Geister für immer ausgestoßen. So stark sind die Tabus, die man uns auferlegt.

Die vollständige Version dieses hier auszugsweise wiedergegebenen Referates von Golo Mann vom Oktober 1978 wurde in Heft 10 der Quartalsschrift „Kontinent“ (Unabhängiges Forum russischer und osteuropäischer Autoren) veröffentlicht.

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