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Ein Bild ohne Retuschen

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Seit in Deutschland neuerdings an Häusern, in denen Marx einmal wohnte, Gedenktafeln angebracht werden, deren Inschrift Marx als den „größten Sohn des deutschen Volkes“ bezeichnet; seit die linke Linke bei der Erfassung der Person und des Werkes Marxens jede kritisch-nüchterne Einschätzung bewußt außer acht läßt, ohne dabei auf Widerspruch zu stoßen; kurz, seit auch im Westen die Lesebuchgeschichten vom jungen Marx und jene vom Größten Deutschen haufenweise unter die Massen gebracht werden, fürchtet man in Kreisen mehr einsichtsvoller Linksintellektueller, es könnte des Guten doch bereits zu viel getan worden sein.

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Seit in Deutschland neuerdings an Häusern, in denen Marx einmal wohnte, Gedenktafeln angebracht werden, deren Inschrift Marx als den „größten Sohn des deutschen Volkes“ bezeichnet; seit die linke Linke bei der Erfassung der Person und des Werkes Marxens jede kritisch-nüchterne Einschätzung bewußt außer acht läßt, ohne dabei auf Widerspruch zu stoßen; kurz, seit auch im Westen die Lesebuchgeschichten vom jungen Marx und jene vom Größten Deutschen haufenweise unter die Massen gebracht werden, fürchtet man in Kreisen mehr einsichtsvoller Linksintellektueller, es könnte des Guten doch bereits zu viel getan worden sein.

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Also beginnt man, die geschönten Marxbildnisse wegzuräumen, um statt ihrer ein „wahres, historisch richtig gesehenes“ Bild Marxens herauszustellen.

Noch heute gilt Franz Mehrings Marx-Biographie aus dem Jahre 1918 — nicht nur in Linkskreisen — als der zeitlos gültige Maßstab zur Beurteilung aller späteren Marxbiographien. 1974 wurde die deutschsprachige Übersetzung der Marxbiographie des Engländers David McMillian als so groß und umfassend beurteilt, daß sie alles übertreffe, was seit Mehring über Marx geschrieben worden sei. Der in McMil-lans Buch eingeschlagene Ton der Kritik an der Person Marxens und dessen bisherigen Biographien schwillt in dem 1975 von dem deutschen Linksintellektuellen Fritz J. Raddatz geschriebenen Werk (Karl Marx. Eine politische Biographie) erstmalig zu voller Lautstärke und Intensität am Aber selbst für dieses neueste Werk wird noch immer Mehrings Propagandaschrift aus dem Jahre 1918 als Maßstab herangezogen.

Wer aber war Franz Mehring (1846 bis 1918)? Mehring wuchs in seiner Jugend unter den Epigonen der bürgerlichen Revolution von 1848 heran. Folgerichtig ging er den Weg des Linksliberalen ins Lager der deutschen Sozialdemokratie bis zu Ende. 1917 stieß er zur Kerngruppe des Spartakusbundes, aus dem die KPD hervorging. Bekanntlich wurde auf dem ersten Parteitag der KPD, am 1. Jännner 1919, das von Rosa Luxemburg inspirierte Programm der Spartakisten auch Parteiprogramm der deutschen KLommunisten. Auf diesem historischen Parteitag wurde zugleich die Parole herausgegeben, die Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung der späteren Republik von Weimar seitens der KP zu sabotieren. Anstatt bei dieser Wahl die zu erwartende blamable Niederlage hinzunehmen, entschlossen sich die Kommunisten, rechtzeitig vor der Wahl zu putschen, um mit Gewalt die Macht im Staat an sich zu reißen. Dieser bolschewikischen Methode der Machtergreifung durch eine Minderheit des Wählervolkes weihte Mehring, wie es in kommunistischen Lesebuchgeschichten heißt, „seine letzten Kräfte“.

Aus gutem Grund haben 3919 die deutschen Kommunisten lieber geputscht, als zur Wahl zu gehen. Hatten sie doch bereits das Fiasko vor Augen, das in Rußland die Partei Lenins, obwohl sie bereits durch einen Putsch in der Hauptstadt mit ihren bolschewikischen Methoden die Macht an sich gerissen hatte, bei der nachfolgenden Wahl der Konstituante Rußlands einstecken mußte. Trotz der Diktatur Lenins und seiner Genossen und trotz der Massenliquidierungen konnten nämlich die Bolschewiken, also die „Mehrlinge“, nur 175 von den insgesamt 707 Sitzen in der Konstituante erringen. Aus dieser Tatsache zog der Kommunismus eine Konsequenz, die heute noch unbedingte Gültigkeit hat. Kommunisten lassen Demokraten ihre Rituale abhaspeln und ihre Redseligkeit austoben, bis sie selbst die Stützen ihrer Gewalt der Tatsachen aufgerichtet haben. Im Rußland von 1917/ 18 waren das die schwer bewaffnete Rote Garde, die Bolschewiken unter den Matrosen des Baltischen Flottengeschwaders und vor allem eine Abteilung absolut verläßlicher lettischer Scharfschützen. Diese nachher berüchtigt gewordenen „Letten“ erwiesen sich unter dem Kommando Leo Trotzkis als die Elitetruppe bei der Liquidierung von Gegnern des Kommunismus und bei der VerÜbung unvorstellbarer Grausamkeiten. In der russischen Konstituante aber ging es zu, wie es seit 1917 in jedem Land, das kommunistisch geworden ist, zugeht. Unter dem hysterischen Geschrei: „Wir weichen der

Gewalt!“ verließen die nicht-kommunistischen Fraktionen nacheinander das Parlament, überließen sie das Feld den Kommunisten und jenen Überläufern, die nach dem „Sieg“ des i Kommunismus sich ra-schest in deren Partei einschreiben ließen. (Hinweis: Italien, 1975, 400.000 Neubeitritte zur KPI!) Das getan, konnte Leo Trotzki zynisch bemerken: „Die Auflösung der Konstituante bedeutet die vollständige und offene Liquidation der Idee der Demokratie zugunsten der Diktatur. Es wird eine heilsame Lehre sein“.

Keine heutzutage geübte Politische Mohrenwäsche kann die Tatsache •aus der Welt schaffen, daß anfangs 1919 Franz Mehring und die angeblich so human gesinnte Rosa Luxemburg lieber ihre Putschisten gewähren ließen, als zu „demokratisieren“. Mehring und die Luxemburg waren eben auch in dem Sinn Bolschewiken, als sie letzten Endes ihren Mitkämpfern lieber Waffen als bessere Argumente in die Hand gaben.

Das also waren die Zeitverhältnisse, die Akteuere und die Methoden, inmitten derer Mehring vor 57 Jahren in kommunistischer Gläubigkeit die sogenannte Standardbiographie Marxens schrieb. Jetzt, im Zeitalter des Anti-Antikommunismus ist Mehrings Version selbst für liberale und christliche Marxkritiker immer noch Richtlinie.

Mit dem vorliegenden Werk geht Raddatz sehr couragiert auf die überall hängenden Marxbilder los. Raddatz ist kein antikommunistischer Bilderstürmer; er möchte nur Bilder ohne beschönigende Übermalungen im derzeit sozialistischen Deutschland hängen sehen. Trotzdem ist es selbstverständlich, daß die kommunistische Orthodoxie vom Fleck weg und mit dem Haß blinder Apologeten das eben erschienene Werk angreift. Das deutsche Wochenmagazin „Der Spiegel“, dem im letzten Jahrzent wohl das größte Verdienst um die Propagierung der im Apschluß an Marx entwickelten

Ideen zukommt, übertrug denn auch die „Besprechung“ des Werkes von Raddatz dem Ostberliner Kommunisten Wolfgang Harich. Und Harich versuchte mehr, als das ihm zugedachte Plansoll zu erfüllen.. Er versucht, die Fülle des von Raddatz systematisch geordneten Tatsachenmaterials mit einer Handbewegung vom Tisch zu fegen. Um unzählige erwiesene Tatsachen zu entwerten, spießt er Irrtümer in einzelnen Details auf, um diese dann der Masse der Unwissenden als Beweise für den Irrtum und die Lüge des Ganzen zu demonstrieren.

Der Apologet aus dem Osten darf im Westen auf großes Verständnis rechnen. Das wäre ja noch schöner, wenn jetzt, nachdem auch tan Westen Marx auf die politischen Altäre gehoben worden ist, die endlich zum Marxismus Bekehrten in ihrem jungen Glauben wieder erschüttert würden!

Was Marx Klassenbewußtsein nennt, ist ebenso eine Irreführung, wie Rousseaus Behauptung, es gebe einen politisch realisierbaren, ursprünglichen und unverdorbenen Volkswillen. Raddatz beweist, vielleicht ungewollt, wieviel Geld und Mühe und Verführungskünste notwendig sind, um den Massen das einzuhämmern, was man jetzt unbesehen als „Klassenbewußtsein“ hinnimmt. In diesem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, was auch Raddatz über den Geldaufwand rheinischer Liberaler schreibt, die sich einmal für ihre Zeitung den „Jungen Marx“ kauften, um später erfahren zu müssen, daß sie sich den Totengräber der Bourgeoisie angelächelt hatten.

Raddatz ist kein Konservativer und kein Klerikaler. Er tut sich daher in vielem leichter, wenn er bisher sakrosankt gewesene Materialien betreffend Marx genauer untersucht; und feststellt, daß manches von dem, was in Moskau oder Berlin „gesichtet und gesammelt“ worden ist, allzulange als „wissenschaftlich völlig einwandfrei“ und „erschöpfend dargestellt“ gegolten hat. Mögen Kommunisten vorläufig weiterhin mit ihren Methoden der Konspiration, des Terrors ihrer Minoritäten und der Schlagfertigkeit ihrer „Milizen“ sowie dank bürgerlicher Feigheit Positionen erobern; mag an gewissen Hochschulen im deutschen Sprachraum ein Philosophieren im Anschluß an Marx noch dominieren; all das und vieles andere kann nicht länger darüber hinwegtäuschen, daß Marxens Lehrgebäude in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Koloß auf tönernen Füßen ist.

Jener wissenschaftliche Absolutismus, dem Marx zu seiner Zeit blindgläubig anhing, ist in der Welt nach dem Tode Albert Einsteins ein Leichnam, dem die Materialisten aller Richtungen vergebens mit einem warmen Umschlag noch einmal beleben möchten. Heute ist anerkannt, daß die Zukunft nicht Marxens Gesetzen unterworfen, sondern ofien ist; daß sie ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat; und daß Marxens Historischer Materialismus eine Ideologie unter vielen anderen geworden ist.

Zugleich haben inzwischen Millionen Menschen die Auswirkungen jenes im Anschluß an, Marx entwik-kelten Kommunismus am eigenem Leib verspürt. Ernst Fischer, Stalinist der vierziger Jahre, schrieb kurz vor seinem Tode (Das Ende einer Illusion, Wien 1973), wie gut es sei, daß Österreich 1945 nicht kommunistisch wurde. Die von Marx anvisierte angeblich klassenlose Gesellschaft „des Kommunismus hat keineswegs“ die Herrschaft von Menschen über Menschen beseitigt, sondern vielmehr in Form der sogenannten Diktatur des Proletariats die Diktatur einer neuen Klasse gezeitigt. Schon erleben wir, wie nicht wenige Abkömmlinge dieser neuen „Elite“ noch viel eher und viel krasser gewissen Verwahrlosungen verfallen als die Abkömmlinge jener Klasse, deren angebliche Verkommenheit für Kommunisten Grund genug für brutale Liquidierung ist.

Wo immer die Macht im Staate im Anschluß an Ideen Marxens ausgeübt wird, ob unter dem demokratischen oder unter dem totalitären Sozialismus, findet nicht das von Marx vorhergesagte angebliche „Absterben des Staates“ statt. Vielmehr eine ins Unermeßliche gehende Verstaatlichung, eine Gigantomanie des Staatskapitalismus, dessen Kommandowirtschaft alles übertrifft, was Marxens Kritik am Kapitalismus jemals erhellte. Die von Marx versprochene „Freie Assoziation der Einzelnen“ erweist sich als eine amorphe Masse in den Händen kommunistischer Meinungskneter und Spezialisten in der KP-Mechanik.

Raddatz trägt keineswegs Eulen nach Athen, wenn er die läppische Bummelwitzigkeit des alternden Marx bloßstellt. Während der Marx-Renaissance der sechziger Jahre haben nämlich die vielen jungen Bewunderer des jungen Marx, die es in katholischen Vereinigungen und Verbindungen gegeben hat, die „Alt-Heidelbergromantik“ ihrer zu „alten Männern“ abqualifizierten Alten Herren verabscheut; und mit zum Anlaß genommen, um nach links zu rücken. Marx, als Student aktiv bei einer später in ein feudales Corps umgewandelten Landsmannschaft, hat in Wirklichkeit noch als alter Mann, zusammen mit dem Corpsier Wilhelm Liebknecht (1826 bis 1900) und dem Burschenschafter Ferdinand Wolff (der „Rote Wolf“, 1812 bis 1895), genau jenes bierselige Bummelanten-tum zelebriert, dessetwegen unlängst eine Fünfte Kolonne des Neo-Marxismus im CV die Alten Herren von Figl bis zu unsereinem maßlos verachtet und lächerlich gemacht hat.

Marx hat, und das stellt Raddatz fest, alles, aber auch wirklich alles an sich, was Marx am Typ des Bourgeois verächtlich gemacht . hat öjtu ohne sich dieser bourgeoisen Laster entledigen zu können. Er war ein Banause, er war ein überdurchschnittlich leistungsfähiger Kneipant (der auch üppige Tafelfreuden liebte), und er war unglücklich darüber, daß ihm, dem Sohn aus gutem Hause, zuweilen die Armut der Proletarier zugemutet wurde, deren Hunger er nur als Triebkraft seiner Machtbestrebungen zu schätzen wußte.

Um einen Indianer fertigzumachen, bedarf es eines Indianers. So ein Sprichwort amerikanischer Pioniere von einst. Auch Raddatz braucht Marxisten, bessere Marxisten, um aus dem derzeitigen Marxidol wieder eine in der modernen Öffentlichkeit präsentable Marxbüste zu machen. Er stützt sich daher weniger auf den Kommunisten Mehring; vielmehr ruft er Kenner in den Zeugenstand, deren bolschewikische Vergangenheit heute vielfach unbekannt ist oder andere, die als Vertreter eines „humanen Sozialismus“ Achtung genießen. Wenn Raddatz zum Beispiel an zahlreichen Stehen Georg von Lukäcs (1885 bis 1971) zitiert, dann erfährt der Leser nicht, daß dieser Sohn aus einer begüterten Budapester Familie nach 1918 kommunistischer Agitator und Politkom-missar in der Armee des roten Diktators Bela Kun gewesen ist. Man wird bei Raddatz keines jener Worte finden, mit denen Lukäcs -.vährend der sechziger Jahre den Aufruhr der Neuen Linken bestätigt und ermuntert hat. Heute ist Lukäcs im Westen nur noch das späte Opfer einer „reaktionär-orthodoxen kommunistischen Parteiherrschaft“. Dieser „weise gewordene“ Greis ist auch für Raddatz Zeuge dafür, daß es edle Spätfrüchte Marxens geben kann. Statt Liquidierung der Klassenfeinde nun „Harmonisierung gesellschaftlicher Zustände“ (siehe das Wüten der derzeitigen außerparlamentarischen Demokratie in Italien). Statt „Demonstrierung gefährlicher Gegensätze“ deren „Ausgleich im Sinne ästhetischer Theorien“ (Portugalisie-rung). Jedenfalls aber: Kommunismus allerwege.

Je unhaltbarer große Teile des Gedankengebäudes Marxens werden, je unangenehmer die Erinnerungen an die Blutspur, die der Marxismus in der Weltgeschichte hinterlassen hat, je kompromittierender heute die einstens eilfertig gebrauchten Slogans marxistischer Schreibtischmör-der sind, desto gläubiger und einfältiger wird die Hinwendung zu Reformisten und Abweichlern des Marxismus, zu Eduard Bernstein (tl932), Karl Kautsky (t 1938), Karl Karsch (t 1961), Herbert Marcuse (1898). Diese hat der Autor reichlich be-

Trotzdem: Raddatz hat Courage. Courage in diesem Jahar 1975, in dem in Italien den gläubigen Katholiken der Kommunismus von einzelnen Bischöfen unverdächtig gemacht wird. In dem Jahr, da in Österreich die katholische Jugend oft nicht das Bild des kommunistischen Terrors von heute zu sehen bekommt, sondern den KZ-Terror und die KZ-Opfer von gestern. In dem Jahr, in dem die unlängst von einem linksradikalen Generalsekretär geleitete Ökumene in Genf über das Los von Christen schweigt, die in Afrika und Asien ihr Martyrium unter dem Kommunismus ertragen müssen. Wenn also viele schweigen, die reden sollten, dann ist dem antiklerikalen Linksintellektuellen Raddatz dafür zu danken, daß er in Fluten kommunistischer Propaganda der Wahrheit die Ehre verschaffen wollte.

Karl Marx. Von Fritz J. Raddatz. Eine politische Marxbiographie. Hoffmann und Campe, Hamburg 1975, 540 Seiten.

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