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Brief an nicht mehr imaginäre Freunde

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Dr. Günther Nennings „Brief an einen imaginären Freund“ über das Thema „Katholik und Sozialist" hat uns eine Flut von Zuschriften und Stellungnahmen eingebracht, die zeigen, wie breiteste Kreise durch diese Fragestellung sich angesprochen fühlten. Wir haben, auf engen Raum beschränkt, in der letzten Nummer der „Furche“ unsere Leser mit einer kleinen Auswahl von Stellungnahmen bekannt gemacht, die aber charakteristisch sind für ,einige grundsätzliche Haltungen, die, vielfach variiert, sich doch auf einige wenige Positionen rückführen lassen. Wenn wir nun dem Initiator dieser Kettenreaktion, Dr. Nenning, wie es ritterlicher Brauch verlangt, das Schlußwort übergeben, dann soll dies nicht heißen: Die Diskussion ist zu Ende. Eine Diskussion hat, wenn sie ein solches „Ende" auf dem Papier findet, in Wirklichkeit noch gar nicht angefangen: nämlich als offene Aussprache über offene Lebensfragen, die jeden Staatsbürger in Oesterreich und weit darüber hinaus angehen; als eine Aussprache, die auf konkrete Handlungen und Situationen zuführen will und muß, wenn sie sich selbst ernst nimmt. Das kommende Jahr und die folgenden werden erweisen, wie weit das große Gespräch, das ja seit Jahrzehnten bereits im Gange ist, nun über die Schwelle alter, harter Widerstände findet. Das ist eine Arbeit, die weit über die Möglichkeiten einer Zeitschrift hitjausführt; sie aber zu fördern und kritisch zu beobächten, wird weiterhin unsere engere Aufgabe sein. Die Redaktion

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Dr. Günther Nennings „Brief an einen imaginären Freund“ über das Thema „Katholik und Sozialist" hat uns eine Flut von Zuschriften und Stellungnahmen eingebracht, die zeigen, wie breiteste Kreise durch diese Fragestellung sich angesprochen fühlten. Wir haben, auf engen Raum beschränkt, in der letzten Nummer der „Furche“ unsere Leser mit einer kleinen Auswahl von Stellungnahmen bekannt gemacht, die aber charakteristisch sind für ,einige grundsätzliche Haltungen, die, vielfach variiert, sich doch auf einige wenige Positionen rückführen lassen. Wenn wir nun dem Initiator dieser Kettenreaktion, Dr. Nenning, wie es ritterlicher Brauch verlangt, das Schlußwort übergeben, dann soll dies nicht heißen: Die Diskussion ist zu Ende. Eine Diskussion hat, wenn sie ein solches „Ende" auf dem Papier findet, in Wirklichkeit noch gar nicht angefangen: nämlich als offene Aussprache über offene Lebensfragen, die jeden Staatsbürger in Oesterreich und weit darüber hinaus angehen; als eine Aussprache, die auf konkrete Handlungen und Situationen zuführen will und muß, wenn sie sich selbst ernst nimmt. Das kommende Jahr und die folgenden werden erweisen, wie weit das große Gespräch, das ja seit Jahrzehnten bereits im Gange ist, nun über die Schwelle alter, harter Widerstände findet. Das ist eine Arbeit, die weit über die Möglichkeiten einer Zeitschrift hitjausführt; sie aber zu fördern und kritisch zu beobächten, wird weiterhin unsere engere Aufgabe sein. Die Redaktion

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Liebe Freunde!

Als mich als Sozialist die „Furclje" zu einem Beitrag aufforderte, über das Thema „Katholik und Sozialist“, wählte ich die Form eines „Briefes an einen imaginären Freund", vermutete freilich schon damals, mein Partner eines Gespräches zwischen Katholik und Sozialist sei vielleicht gar nicht so imaginär wie ich für den Anfang der Vorsicht halber annahm; ich sprach von „heimlichen“ Freunden. '

Nun, nach den vielen Briefen, die sowohl die „Furche“ wie auch ich selbst erhalten haben, ist es ganz gewiß: die Gesprächspartner sind nicht imaginär und auch nicht mehr „heimlich".

Ich stimme mit der „Furche“ überein, daß die von ihr veröffentlichte Antwort an mich von Dr. Alexander Appenroth, Klagenfurt, besonders wertvoll ist. Ebenso wertvoll ist mir, daß nicht wenige Bedenken, die Dr. Appenroth äußert über die Vereinbarkeit von Katholizismus und Sozialismus, bereits ohne mein Zutun zerstreut worden sind: von keinem Geringeren als Anton Burghardt in seinen beiden Aufsätzen in der „Furche“ über „Gedanken eines Katholiken vor dem Parteitag der SPOe“.

Dr. Appenroth meint: „Die sozialistische Weltanschauung geht davon aus, daß wirtschaftliche, materielle Produktionskräfte das gesellschaftliche, geistige und religiöse Leben bestimmen. Der gläubige Katholik (hingegen)... baut sein weltanschauliches Gebäude auf die Anerkennung von selbständigen geistigen Werten auf.“ Also könne „weder in der Theorie noch in der Praxis ein überzeugter Sozialist gläubiger Katholik sein und umgekehrt“.

Daher sei der Beginn des freundschaftlichen Gespräches leider „mit einem klaren Nein“ zu eröffnen. Das ist rasch! Sollten wir nicht doch vor einem etwaigen Nein, die Mühen gemeinsamen Nachdenkens auf uns nehmen?

Das sähe dann etwa so aus: Sie, lieber Doktor Appenroth, sprechen von „sozialistischer Weltanschauung". Was meinen Sie damit? Wie aus Ihrem nachfolgenden Definitionsversuch hervorgeht, meinen Sie die materialistische Weltanschauung des Marxismus. Anton Burghardt mahnt uns aber mit Recht: man könne

„nicht von dem Sozialismus sprechen, sondern muß jeweils prüfen, um welche Art des Sozialismus beziehungsweise um welche Phase seiner Entwicklung es sich handelt... Gesprächspartner der Kirche in Oesterreich ist also derzeit nicht ein Sozialismus in unverbindlichem Sinn, sondern der Sozialismus in der institutionellen Darstellungsform der SPOe.“

Nun ist es zweifellos möglich, die SPOe, den Sozialismus in der gegenwärtigen Phase seiner Entwicklung in Oesterreich, schlicht und einfach gleichzusetzen mit dem theoretischen Marxismus der Sozialdemokratischen Partei der Ersten Republik. Es ist nur möglich, wenn man die gesamte zwölfjährige Regiérungspraxiš der SPOe übersieht Es ist neuerdings auch nur möglich, wenn man die Theorie der SPOe übersieht, wie sie im neuen Programmentwurf zum Vorschein kommt. Aber sicherlich: mit dem nötigen Aufwand an Großzügigkeit, des Liebersehens ist es zur Not immer noch möglich.

Man kommt dann sofort zum „Nein“ als Gesprächsanfang. Andernfalls wird die Sache viel komplizierter — aber in einem geistigen Gespräch läßt sich das eben kaum vermeiden.

In Wahrheit ist im österreichischen Sozialismus wie im gesamten demokratischen Sozialismus des Westens der Marxismus längst Privatsache. Man mag das auf sozialistischer Seite bedauern oder begrüßen — jedenfalls ist es so. Was bleibt dann als „weltanschauliche" Grundlage des Sozialismus? Es bleibt die Lehre von der Demokratie mit ihren Grund- und Freiheitsrechten der verantwortlichen Einzelperson und die Forderung nach Ausbau und Vollendung des damit umrisseneri Gesellschaftssystems.

Damit aber befinden wir uns meilenweit weg vom philosophischen Materialismus und mitten im gemeinwestlichen Naturrecht. Der Sozialist kann nun hier stehenbleiben; dann ist er immerhin auf gemeinsamen Boden mit Katholiken, anderen Christen, Liberalen. Er kann aber ebensogut und unbehelligt weiterschreiten von der „lex naturalis“ zur „lex aeterna“ — und ist dann mitten im Herzen des Christentums.

Ich gebe gerne zu, daß dies so manchem Leser unbehaglich in den Ohren klingt — auf der einen Seite wie auf der anderen. Aber ist das nicht immer so, wenn man ausspricht, was ist? Sollen wir kopfscheu werden und uns in das Appenrothsche „Nein“ flüchten — auf der einen Seite wie auf der anderen? Oder wollen wir weiterschreiten?

Wenn wir weiterschreiten, erhebt sich prompt eine weitere Komplikation. Angenommen, wir wären uns einig, daß Sozialismus nicht identisch sei mit dem Marxismus — in Oesterreich nicht und im gesamten Westen nicht. Dann aber hätten wir fast das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn der Marxismus ist zwar nicht identisch mit dem Sozialismus, wohl aber ist er ein Bestandteil des Sozialismus; und nicht nur des Sozialismus, sondern längst des westlichen Denkens überhaupt — in einem gleich zu erörternden, scharf begrenzbaren Umfang.

Was geschah mit dem Marxismus im Gesamtstrom des westlichen Denkens? Er wurde in zwei Teile zerspalten. Da ist erstens ein weltanschaulicher Teil: die Philosophie des „dialektischen Materialismus“; er gehört rettungslos zum vergangenen Jahrhundert und überall zum alten Eisen außer im Osten, wo er als offizielles Religionssurrogat mißbraucht wird. Da ist zweitens ein national-ökonomisch-historischer Teil: der „historische Materialismus".

Der „historische Materialismus“ behauptet, alles „gesellschaftliche, geistige und religiöse Leben (um Appenroths Paraphrase Marxens nochmals zu zitieren) sei durch wirtschaftliche, materielle Produktionskräfte bestimmt“. In dieser dogmatischen Ausschließlichkeit starb er zugleich mit dem philosophischen Materialismus, auf dem er beruht.

Ohne solche Ausschließlichkeit lebt er aber kräftig weiter; kein Nationalökonom, kein

Kulturhistoriker, kein Religionssoziologe kommt heute ohne den Hinweis aus, welch bedeutsame Einflüsse auf das gesellschaftliche und geistige Leben von gewissen wirtschaftlich-materiellen Ursachen ausgehen. Die historisch-analytische Methode, die solche Ursachen aufdeckt, ist heute, als eine wertvolle Methode unter anderen, längst Bestandteil der „opinio communis" in den zuständigen Wissenschaften. Daß dabei die Quellenangabe oft vergessen oder gar nicht gewußt wird, ist kein Malheur. Selbstverständlich zu werden, ist das Schicksal aller wirklich fruchtbaren Ideen.

Man kann heute nicht mehr glauben, der Mensch könne Mensch bleiben ohne Anerkennung und Hilfe der Macht und Uebermacht des Geistes. Der Geist ist ein gewaltiger Beweger und Verursacher. Aber man kann heute auch nicht mehr glauben, daß für alles und jedes geistige Ursachen bemüht werden müssen, das würde uns zurückwerfen auf die blasphemische Verkündigung, jenes ungeheure Elend, das der Kapitalismus mit sich brachte, wäre nicht etwa die ökonomische Wirkung ökonomischer Ursachen, also abwendbar, sondern hätte zur geistigen Ursache stracks den unabwendbaren Willen Gottes, daß die einen arm zu sein haben und die anderen reich.

Solches „Christentum“ versieht Anton Burghardt mit Recht mit Gänsefüßchen und sagt von ihm mit Recht, es würde „in der Tat und unverblümt die Verdeckung asozialer Interessentenmeinungen darstellen“. Genau hier steckt ja übrigens die historische Wurzel des marxistischen Materialismus: er ist der extreme Protest gegen einen extremen Spiritualismus, der noch die jammervollsten materiellen Bedingtheiten als geistig, ja göttlich verursacht hinstellt.

Aber das ist hoffentlich historisch. Wir sollten heute von dem einen Extrem gleich weit entfernt sein wie von dem anderen. Vom extremen philosophischen Materialismus führt keine Brücke zum Christentum; daß die Materie alles sei und der Geist nichts, ist unvereinbar mit ihm und mit der westlichen Kulturtradition insgesamt. Das gleiche gilt aber vom extremen Spiritualismus; daß der Geist alles sei und die Materie nichts, ist der westlichen Kulturtradition insgesamt ebenso fremd wie etwa einem katholischen Christentum im Zeichen der aristotelischen Ausgewogenheit eines Thomas von Aquin oder gar der starken Beachtung der materiellen Produktivkräfte in den Sozialenzykliken.

Die mittlere Auffassung, daß die wirtschaftlich-materiellen Kräfte zwar keineswegs die alleinigen, wohl aber sehr bedeutsame Verursacher gesellschaftlicher und geistiger Erscheinungen sein können, ist durchaus vereinbar mit der Anerkennung selbständiger geistiger Kräfte. Zwischen den materiellen und geistigen Ursachen herrscht in Geschichte und Soziologie kein einseitiges Ursache-Wirkung-Verhältnis, weder in der einen noch in der anderen Richtung, sondern vielseitige, kompliziert-strukturierte Interdependenz; dieser wissenschaftliche Tatbestand läßt den weltanschaulichen Primat des Geistes in den letzten und höchsten Dingen gänzlich unangetastet.

Nachdem ihm solcherart die zeitbedingte materialistisch-atheistische Spitze von der Entwicklung abgebrochen worden war, konnte der Marxismus in seiner Restform: als analytischer Hinweis auf die Bedeutsamkeit materieller Kräfte in der Geschichte — auf gehen im allgemeinen Strom der Geistestradition des Westens, der nur mit sich trägt, was die Prüfung der Zeit bestanden hat.

Diesen Sachverhalt meint etwa auch, so glaube ich, Anton Burghardt mit seinem Hinweis auf die „beachtlichen theoretischen Versuche, das Weltanschauliche vom Marxismus abzulösen und ihn auf eine nationalökonomische Theorie zu reduzieren“; er nennt dabei mit Recht den Namen des Berliner Theologen Marcel Reding (der auch in Oesterreich tätig war; an der Universität Graz). Auch katholische Autoren arbeiten also mit an der Einverleibung des wertvollen Teiles des Marxismus in das Gesamtkorpus der westlichen Geistestradition. (Hier wäre eine Fülle von Namen zu nennen: Steinbüchel, Mounier, Desroches, Dirks usf.)

.Wie weit sind wir da schon? Nun, Benedikt Kautsky pflegt mit Behagen die Geschichte vom ständestaatlichen Zensor zu erzählen, der ihm 1934 strikt wortgetreue Zitate aus den Sozialenzykliken in einem Rundfunkmanuskript wegstrich, weil sie „zu marxistisch“ seien—!

So kompliziert liegen also die Dinge, lieber Dr. Appenroth: erstens ist Sozialismus nicht identisch mit Marxismus; und zweitens ist ein Teil des Marxismus durchaus vereinbar sowohl mit einem geistig bestimmten Sozialismus wie auch mit dem geistig bestimmten Christentum. So weit kommt man, wenn man nicht mit Nein beginnt, sondern mit gemeinsamem Nachdenken.

Aehnlich längeres gemeinsames Nachdenken an Stelle eines Nein wäre nun erforderlich angesichts der weiteren Erklärung Dr. Appen-

roths, „ein Sozialist etwa, der glühender Anhänger des Verstaatlichungsgedankens sei, könne nicht im gleichen Atemzug Katholik sein, da dieser aus weltanschaulichen Grundsätzen heraus nur eine organische, auf der Basis der individuellen Verantwortung des einzelnen Wirkende Gesellschaft anerkennen kann“.

Erstens hat nackte Verstaatlichung mit Sozialismus gar nichts zu tun, sondern ist eine legislative Maßnahme der beiden Koalitionsparteien; der Sozialismus will die Gemeinwirtschaft, in der jeder einzelne Mitwirkende auch mitbestimmend und mitverantwortlich sei. Und zweitens, gesetzt es bliebe bei bloßer Verstaatlichung: warum soll hier im Felde des Staates, im Felde des Beamtenethos also gegenüber dem Staats- und Volksganzen, die „individuelle Verantwortung des einzelnen“ nicht ihren Platz haben können, wohl aber in der privaten Profit- Wirtschaft?

Ich muß hier abbrechen; nicht freilich, ohne zu wiederholen, wie schade es wäre, das Nein vor das Nachdenken zu setzen; wie schade es weiter wäre, vbn solchem Nein folgerichtig weiterschreitend, nun höflich auszuweichen auf das geistig unverbindliche „weite Feld der praktischen sozialen Betätigung“. Aehnlich schlägt auch Anton Burghardt vor: einen „modus vivendi", ein „Stillhalteabkommen", ein „schöpferisches Schweigen“, einen Zustand, in dem „von der Härte theoretischer Auseinandersetzungen Abstand genommen wird und beide sich mit dem anderen Partner in der Sorge um den Menschen finden."

Liebe Freunde, das ist gut und schön. Aber glaubt ihr, daß es ausreicht: gemeinsames Schweigen, gemeinsame soziale Arbeit — geistig aber Flucht ins Nein, jeder zieht sich in sein gewohntes, bequemes Schneckenhaus zurück, das mit den alten Möbeln ausgestattet ist. Jeder zurück in sein Ghetto!

Oder sollten wir endlich einmal herauskriechen aus dem Schneckenhaus, ausbrechen aus dem Ghetto und einen Pfifferling uns kümmern um „taktische Maßnahmen“ und „parteistrategische Kurskorrekturen“, die Dr. Appenroth argwöhnt?

Wir brauchen Luft, viel frische Luft!

Oder sollten wir wirklich unsere große gemeinsame Aufgabe nicht sehen: den gemeinsamen geistigen Angriff gegen Osten, der nur gelingen wird, wenn die beiden lebendigsten Geistesströme des Westens den geistigen Weg zueinander finden.

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