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Auch Politiker können irren

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Oswald von Nell-Breuning, der Nestor der Katholischen Soziallehre sagte einst: „Politiker, die den Mut zur Ehrlichkeit haben, werden Stimmen gewinnen und nicht verlieren". Hat sich die ÖVP vergeblich darauf verlassen?

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Oswald von Nell-Breuning, der Nestor der Katholischen Soziallehre sagte einst: „Politiker, die den Mut zur Ehrlichkeit haben, werden Stimmen gewinnen und nicht verlieren". Hat sich die ÖVP vergeblich darauf verlassen?

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Katerstimmung nach der Wahl bei der ÖVP, Euphorie bei der SPÖ. Was hat man hier falsch gemacht, was dort richtig? Einig ist man sich, daß es ein „Angstwahlkampf" war: Angst vor „Schwarz-Blau", aber noch stärker vor dem „Rentenklau". Bentenklau, das war der entscheidende Slogan im Wahlkampf 1953, der schon einmal seine Wahlwirksamkeit bewiesen hat. Nur mit einer Stimme konnte damals die ÖVP sich gegen den Bentenklau behaupten; ein entscheidender Wahlsieg, der den Raab-Kamitz-Kurs begründete, dem wir heute unseren Wohlstand verdanken.

Diesmal scheiterte der Schüssel-Ditz-Kurs am Rentenklau. Wahlentscheidend war sicher auch der Brief des Bundeskanzlers vom 7. Dezember 1995 (siehe Faksimile oben), mit dem er sich an alle über 50jährigen wendete. Dieser Brief strotzt geradezu von falschen Argumenten: sein Ziel, Angst vor einer Pensionskürzung zu erregen, hat er offensichtlich erreicht. Wer fragt denn schon nach einer erfolgreichen Wahlwerbung, ob die entscheidenden Argumente bewußt falsch waren: „Nie wird soviel gelogen als vor einer Wahl" ist uralte Volksweisheit; trotzdem sind Lügen, in diesem Fall also die „Pensionslüge", im Wahlkampf scheinbar nach wie vor erfolgreich, sie müssen nur zumindest kurzfristig glaubhaft sein.

Oswald von Nell-Breuning, der Nestor der Katholischen Soziallehre - er starb vor einigen Jahren mit 101 Jahren -, sagte kurz vor seinem Tode:

„Die Politiker sollten den Mut aufbringen und sagen: Liebe Leute, was wir euch da erzählt haben von der bruttolqh^bezogenen Rente (=Pensi-on), ist Unsinn. Wir haben selber diesen Unsinn geglaubt. Wir haben den Strukturwandel im Altersaufbau der Revölkerung nicht vorhergesehen und seine Bedeutung völlig verkannt. Auch wir Politiker sind nur Menschen, und Menschen können sich irren. Wir gestehen unseren Fehler ein, bitte seht ihn uns nach. Ich bin davon überzeugt, der Politiker, der als erster den Mut zu dieser Ehrlichkeit aufbringt, verliert dadurch keine Wählerstimmen, sondern gewinnt."

Hat sich Wolfgang Schüssel vergeblich auf Nell-Breuning verlassen, hat dieser unrecht? Sind die Österreicher nicht bereit, die „Pensionswahrheit" zur Kennntis zu nehmen?

Offensichtlich nicht. Denn bewußte Unwahrheiten im Wahlkampf müssen auch geglaubt werden, sollen sie wirksam sein. Ist es richtig, wie Franz Vranitzky in diesem Wählerbrief schreibt, „sichere Arbeitsplätze sind die beste Garantie, daß die Pensionen auch in Zukunft gesichert sind?" Nein, das ist nicht richtig.

Pensionen sind nur dann sicher, wenn die nachfolgende Generation bereit ist, innerhalb des Generationenvertrags - zu dem sie niemals ihre Zustimmung gegeben hat - die Versprechungen zu honorieren. Solange das für sie zumutbar ist, wird sie es tun; steigt aber die Belastung über diese Grenze der Zumutbarkeit, wird sie aus dem Generationenvertrag aussteigen (müssen). Nur diese Zumutbarkeit garantiert die Finanzierbarkeit der Pensionen.

Die Sozialpartner selbst - in ihrer Studie „Soziale Sicherung im Alter" — haben uns vorgerechnet, was auf uns zukommt:

■ entweder das Pensionsniveau ist auf 29 Prozent des Letztgehalts zu kürzen oder

■ 240 (!) Milliarden pro Jahr sind aus Steuermitteln für die Defizitfinanzierung der Pensionsversicherung (PV) aufzubringen, das heißt, alle Direktsteuern sind praktisch zu verdoppeln oder

■ der Beitragssatz von derzeit 22,8 ist auf 40,1 Prozent anzuheben oder

■ im Schnitt müssen Mann und Frau bis 68 Jahre arbeiten.

Und das bei Vollbeschäftigung. Steigt die Arbeitslosigkeit über die zirka vier Prozent von heute, dann ist die Belastung der nächsten Generation noch stärker.

Die „Pensionswahrheit" ist, daß bestehende Pensionen nur dann gesichert werden können, wenn man allen, die noch nicht in Pension sind, deutlich sagt, daß sie in Zukunft

■ weniger an Pension erhalten oder

■ mehr dafür bezahlen und

■ länger arbeiten müssen.

Mehr dafür bezahlen heißt Übergang auf ein Mehr-Säulensystem der Ältersvorsorge, das heißt, mehr Eigenvorsorge, was auch zumutbar wäre (siehe dazu auch das Dossier Nr. 51/52/1995).

Länger arbeiten aber heißt (kurzfristig) Anhebung des faktischen -nicht des gesetzlichen - Pensionsalters von derzeit (inklusive den Beamten) 55 (!) Jahren, das das niedrigste Pensionsalter der Welt ist.

Nur ein Jahr länger arbeiten, brächte, inklusive und vor allem der Beamten, eine Entlastung des gesamten Sozialsystems einschließlich aller Beiträge (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) von 29 Milliarden Schilling (!).

Ein Prozent mehr Arbeitslosigkeit - das wären 30.000 Versicherte -ebenfalls inklusive aller Beiträge -würde „nur" neun Milliarden kosten.

Allein dieser Größenordnungsvergleich zeigt die überragende Bedeutung der Anhebung des Frühpen-sionsalters. Daß wir länger arbeiten müssen, sollte unbestritten sein. Um diese Weichenstellung ging es bei den Wahlen, es war eindeutig ein Rich-tungsstreit.

Die ÖVP hat ihr Wahlziel nicht erreicht. Die Ursachen liegen aber nicht allein beim Brief des Bundeskanzlers. Auch die ÖVP hat Fehler gemacht:

■ Die Angst vor jeder Änderung bei den Pensionen wurde unterschätzt.

■ Man kann nicht jähre- ja jahrzehntelang die „Pensionslüge" mittragen und dann kurz vor einer Wahl, wenn auch sehr vorsichtig und nur einen

Zipfel lüftend, die „Pensionswahrheit" verkünden.

Wenn Oswald von Nell-Breuning recht hat, und er hat langfristig sicher recht (!), siegt letzten Endes doch die „Pensionswahrheit". Aber das erfordert jahrelange Aufklärungsarbeit und offene Diskussion. Die EU-Diskussion hat deutlich gezeigt, daß eine offene Diskussion auch - zunächst unpopulärer - Probleme durchaus erfolgreich sein kann.

Es bleibt nun die Hoffnung, daß sich im Interesse Österreichs ein „Wolfgang Vranitzky-Kurs" durchsetzt. Denn die wirtschaftlichen Notwendigkeiten werden stärker als alle ideologischen Bedenken sein.

Um die Anhebung des Frühpen-sionsalters kommt aber dieser Wolfgang-Vranitzky-Kurs nicht herum.

Der Autor ist

Sozialversicherungsexperte.

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