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Gegen das Bildungsgefälle

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Aber der Lehrermangel war nicht der Hauptgrund für die ins Rollen geratene strukturelle Reform. Ausschlaggebend war vor allem das angesichts der steigenden Anforderungen, die die moderne Zeit an das Bildungsniveau aller Berufstätigen stellt, besonders kraß zutage tretende Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land.

Wie kommt es zu diesem Bildungsgefälle? In weiten Teilen Niederösterreichs ist die einklassige Schule, in der alle Schulstufen in einem einzigen Raum von einem Lehrer gleichzeitig betreut und abwechselnd unterrichtet werden, noch immer der vorherrschende Schultyp. Daß sich bei einer solchen Unterrichtsmethode Leerläufe ergeben, ist “klar. *Sie - summieren sich derart; daß — wie genaue Berechnungen ergaben — die Schüler im Laufe ihrer achtjährigen Schulzeit gegenüber den Besuchern höher organisierter Schulen zweieinhalb Jahre verlieren. Der Absolvent einer einklassigen Schule hat mit 14 Jahren also das gleiche Bildungsniveau erreicht, das Stadtkinder für gewöhnlich bereits mit elfeinhalb Jahren erlangen.

Wie sehr die einklassigen Schulen in Niederösterreich „grassieren“, zeigen folgende statistische Daten: Von insgesamt 1253 Volksschulen des Landes sind 938 nieder organisiert. Sie werden von 45 Prozent der niederösterreichischen Schulkinder besucht. Die Zahl der einklassigen Volksschulen beträgt 438! Die Schülerzahl von 101 dieser Schulen liegt unter 20 Schulkindern. Fünf Schulen weisen weniger als zehn Schüler auf.

Daß eine solch niedere Schulorganisation kein notwendiges Attribut ländlicher Gegenden ist, beweisen die Verhältnisse in anderen Bundesländern. Oberösterreich beispielsweise besitzt nur 17 einklassige Schulen. Fallen in Niederösterreich rund 34 Prozent aller Volksschulen in die Kategorie der nieder organisierten, beträgt deren Anteil in Oberösterreich 2,9 Prozent, in Salzburg 10,5 Prozent, in der Steiermark 10,9 Prozent und im Burgenland 25,4 Prozent. Daß Niederösterreich in bezug auf seine Schulorganisation ein bedauernswerter Sonderfall ist, zeigt auch die Tatsache, daß sich hier 49 Prozent aller einklassigen und 38 Prozent aller zweiklassigen Volksschulen Österreichs befinden. Niederösterreich ist also nicht nur das Land der Kleingemeinden, sondern auch das Land der Zwergschulen.

Das Seltsame an der niederösterreichischen Schulstruktur ist, daß die einklassigen Schulen nicht in jenen Gebieten konzentriert sind, wo man sie eigentlich erwarten würde: in den Streusiedellandschaften und gebirgigen Landesteilen. Sie häufen sich vielmehr in den durch ein dichtes Netz von Verkehrsadern bestens erschlossenen Gebieten nördlich der Donau. Besitzt beispielsweise der in die alpinen Regionen hineinreichende Scheibbser Bezirk nur vier tinklassige Volksschulen, weist der

Bezirk Hollabrunn 53, der Bezirt Mistelbach 54, der Bezirk Horn 39

der Bezirk Gänserndorf 36 und dei Bezirk Tulln 27 dieser Zwergschuler auf. Selbst im Dunstkreis der Großstadt, im politischen Bezirk Wien-Umgebung, fristen noch immer Ii einklassige Volksschulen ihre fragwürdige Existenz. Bis vor kurzerr konnte sich in Weidlingbach, wenige hundert Meter von der Wienei Stadtgrenze entfernt, eine einklassige Volksschule mit sechs Schülern standhaft behaupten.

Von allen Argumenten, die für eine Abschaffung der nieder organisierten Schulformen sprechen, ist dei Lehrermangel zweifelsohne das ein-leuchterwlsteiiiUBd .am» schwerster widerlegbare. Geplagte Schulreformatoren' seufzen sogar: „Ein Glück, daß wir den Lehrermangel haben!“ Würde man die niederösterreichischen Volksschulklassen — was allerdings nur theoretisch möglich ist — bis zur derzeit gesetzlich erlaubten Höchstgrenze auffüllen, ergäbe sich daraus eine Einsparung von nichl weniger als 700 Lehrpersonen.

Die Februar-Enquete

Wie viele Schulen müßte man in Niederösterreich stillegen, um zu einer einigermaßen befriedigenden Schulstruktur zu gelangen? In dem von einer im Februar heurigen Jahres abgehaltenen Enquete ausgearbeiteten Grundsatzprogramm heißt es: „Die Idealform der Volksschule ist die vierklassige Volksschule mit den ersten vier Schulstufen.“ Um dieses Ziel zu erreichen, müßten 50 bis 60 Prozent der bestehenden Schulen aufgelassen werden. Die derzeit angestrebte Stillegung von rund 100 Schulen stellt also nur einen ersten Schritt der Strukturbereinigung dar. Ganz wird man aber auf die einklassigen Schulen in Niederösterreich nie verzichten können. In Nestelberg etwa oder in Trübenbach — beide Orte liegen in schütter besiedelten Gegenden des Alpenvorlandes — wird man um die Zwergschule auch in Zukunft nicht herumkommen. Als sinnvolle Ausnahme wird man sich die einklassige Volksschule aber gerne weiterhin gefallen lassen, nur als Regel wird man sie nicht länger dulden.

Aufgeschlossene Schulmänner des Landes werben schon seit Jahren dafür, den niederösterreichischen Schuldschungel einmal gründlich auszuholzen. Erst das durch die Schulreform des Jahres 1962 eingeleitete und geförderte Umdenken auf die der Schule gestellten modernen Aufgaben verlieh dem Gedanken der schulischen Strukturbereinigung in Niederösterreich allmählich die nötige Durchschlagskraft. Noch galt es jedoch, auch das Trägheitsmoment der bisherigen veralteten Auffassungen zu überwinden. Zu diesem Zweck wurde anfangs des heurigen Jahres eine große Schulenquete einberufen, bei der Politiker, Lehrer, Priester, Gemeinde- und Elternvertreter ihre Standpunkte präzisierten und in unvermuteter Einmütigkeit betonten: Niederösterreich braucht ein höher organisiertes Schulwesen. Im Prinzip waren also alle einig, daß die einklassige Volksschule als Relikt einer nicht mehr zeitgemäßen Art der Unterrichtserteilung abgeschrieben gehört. Schwierigkeiten tauchten erst auf, als der Landesschulrat diese prinzipielle Einmütigkeit als Legitimation betrachtete,“ an den desolaten Verhältnissen tatsächlich etwas zu ändern. Viele, die sich grundsätzlich gegen die einklassige Volksschule ausgesprochen hatten, steckten zurück, als es um die Stilliegung der Zwergschule in ihrem eigenen Ort ging.

Die Sorgen der Gemeinden

Daß die Stillegungsankündigungen in den einzelnen Gemeinden einen derartigen Sturm der Entrüstung entfachten, ist nicht nur auf lokalpatriotische Wehleidigkeiten zurückzuführen. Sicherlich bringt die Auflösung einer Schule für die betroffene Gemeinde einen gewissen Bedeutungsverlust mit sich. Als viel schmerzlicher wird jedoch die Tatsache empfunden, daß manche Schüler, die bisher nur über die Straße zu gehen brauchten, um die Schule zu erreichen, nun einen bis zu vier Kilometer langen Marsch in die Nachbarortschaft in Kauf nehmen müssen.

Manche Gemeinden, deren Schulen nun geschlossen werden sollen, haben in den vergangenen Jahren erhebliche Mittel aufgewendet, um ihr Schulhaus instandzusetzen. In einigen Fällen sind die einklassigen Schulen, die nun der Auflösung verfallen sollen, sogar in funkelnagelneuen Gebäuden untergebracht. Eine besondere Kuriosität am Rande: In der Knopfdrechslerortschaft Felling bei Hardegg ist die Schule, die nun stillgelegt werden soll, noch nichl einmal eröffnet worden. Derartige Schönheitsfehler liefern — stark aufgebauscht — den Stoff für massive Einwände. Daß auch noch dpr übliche Konservatismus mitspielt und heftige gefühlsmäßige Reaktionen gegen die neuen Bestrebungen schürt, versteht sich von selbst. Allenthalben werfen sich ergraute Honoratioren in die Brust und glauben, ihren Landsleuten einen Dienst zu erweisen, wenn sie ihnen weismachen: „Seht mich an, ich habe es trotz einklassiger Volksschule zu etwas gebracht!“ Sie vergessen allerdings hinzuzufügen, daß sie meist nicht mit zehn Jahren — wie dies in der Stadt von jeher üblich war — ans Gymnasium kamen, sondern erst als Vierzehnjährige.

Härten vermeiden

Bei näherer leidenschaftsloser Prüfung zerschmelzen die meisten der vorgebrachten Einwände aber wie Schneeflocken in der Frühjahrssonne. Die Klage über den drohenden Bedeutunesverlust eines Ortes bei Auflassung der Dorfschule erweist sich als Schlagwort. Die Bedeutung einer Schule für einen Ort hängt von der Persönlichkeit des jeweiligen Dorfschullehrers ab. Der Typus des die Ortsbevölkerung beratenden, ambitionierten Dorfschullehrers ist so gut wie ausgestorben. Infolge des Lehrermangels wurden die Dorfschulen zu Durchgangsstationen für Junglehrer, die zum überwiegenden Teil gar nicht mehr im Ort selbst wohnen.

Daß ein längerer Schulweg unangenehm ist, wissen auch die Initiatoren des niederösterreichischen Schulkommassierungsprogrammes.

Mit Recht aber betonen sie: Es kommt nicht so sehr auf den kürzeren Schulweg, als auf den besseren Bildungsweg an. Im übrigen wurde die Zumutbarkeit des Schulweges in jedem einzelnen Fall einer geplanten Schulstillegung sorgfältig geprüft. Die Landesregierung ist außerdem bereit, Gemeinden bei der Einrichtung eines Schülerbusverkehrs nach besten Kräften zu unterstützen. Hier zeichnet sich auch ein zeitgemäßer Ausweg aus dem Dilemma des verlängerten Schulweges ab.

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