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Stiefkinder: Bauernkinder

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Der Prozentsatz der Mittelschüler, die aus dem Bauernstand kommen, wird in Österreich mit zirka zwei Prozent angenommen. Der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung am Gesamtvolk wird immer noch mit 22 Prozent angegeben. Wo liegen die Gründe für dieses offensichtliche Mißverhältnis?

Zunächst sei die Frage gestellt: Haben in früheren Jahrzehnten mehr Bauernkinder studiert? Wir verfügen zwar nicht über entsprechende Unterlagen, dürfen aber vermuten, daß absolut nicht mehr Bauernkinder als heute studiert haben. Bei der relativ geringeren Zahl an Gebildeten und dem hohen Anteil der bäuerlichen Bevölkerung fiel jedoch, besonders im Priester- und Lehrerstand, der Gebildete aus dem Bauernstand auf. Das enorme Anwachsen der Gebildetenschicht in diesem Jahrhundert hat hierin starke Veränderungen gebracht. Die Berufsmöglichkeiten nach einem abgeschlossenen Studium haben sich vervielfacht, und dieser Prozeß wird voraussichtlich noch andauern. Woher also der Rückstand an studierender Jugend im Bauernstand? Fehlen dem Stand die Begabungen, oder sind es andere Gründe, die die Bauernkinder vom höheren Studium abhalten?

Ich glaube, daß die Zahl der Begabten in Bauernkreisen keineswegs geringer als anderswo ist. Soweit die im Jahre 1960 an allen landwirtschaftlichen Lehranstalten Tirols bei Burschen und Mädchen durchgeführten psychologischen Untersuchungen ejnen Schluß zulassen, ist eher das Gegenteil der Fall. Ich möchte also versuchen, einige dieser anderen Ursachen aufzuzeigen, die vor allem für Tirol und für die bäuerliche Welt in den Alpenländern bestimmend sein mögen.

UNGLEICHE CHANCEN Parallel mit dem Rückgang der Landbevölkerung verläuft der wirtschaftliche Aufschwung der übrigen Wirtschaft auf Grund der Industrialisierung. Der Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften wird immer größer, vor allem in den Bergen, wo keine Mechanisierung der Betriebe Erleichterung bringen konnte.

Dazu kommt die ungünstige Verkehrslage; der Besuch einer höheren Schule ist nur bei Unterkommen in einem Internat möglich, was natürlich Geld erfordert. In den kleinen und entlegenen Bergschulen ist der Lehrer nicht in der Lage, im Unterricht der Zehnjährigen auf die Aufnahmeprüfung am Gymnasium Rücksicht zu nehmen. Daß schließlich gerade unter den Bauernkindern häufig „Spätentwickler“, gehemmt in Ausdruck und Auftreten, und die „Stillen“ zu finden sind, ist allgemein bekannt.

Ist es da nicht voll verständlich, daß, wenn etwa in einer Bauernfamilie die Frage erwogen wird, ob dem zehnjährigen Kind ein Studium ermöglicht werden soll oder nicht, die Entscheidung der Eltern fast durchweg negativ ausfällt? Acht, zwölf oder gar vierzehn Jahre lang soll das Geld für Studium und für Internat aufgebracht werden. Wenn es auch momentan tragbar erscheint, wird das auch noch nach fünf und zehn Jahren möglich sein, auch wenn Unglücksfälle, Mißernte und Preisverfall kommen? Es sind außerdem noch andere Kinder da, die auch ihren Erbteil erhalten sollen. Dringende Verbesserungsmaßnahmen sind auf dem Hof notwendig geworden, der womöglich noch durch den letzten Erbgang — Auszahlung der Weichenden — belastet ist. Außerdem wartet man doch schon so hart auf die heranwachsende Arbeitskraft, die nun endlich eine Hilfe werden könnte. Soll man darauf verzichten und sich noch zusätzlich für mehr als ein Jahrzehnt diese materiellen Opfer auflasten? Und die Mutter soll nun das Kind in die Obhut fremder Leute in die Stadt geben? Sie wird in ihrer Sorge all die Gefahren besonders kraß sehen, die diese unbekannte Welt in sich birgt. Kann man diese Einstellung der bäuerlichen Eltern verurteilen?

Und nun kommen die Kinder aus der Schule. Das Landhandwerk hat nicht mehr den goldenen Boden. Verdienstmöglichkeiten gibt es jedoch genug für alle jene, die auf dem Hofe nicht unbedingt gebraucht werden. Die Burschen braucht man im Baugewerbe, die Mädchen im Fremdenverkehr. Die bäuerliche Welt stellt das Heer der Hilfsarbeiter und der Angelernten. Zu mehr hat es eben zu Hause nicht gereicht. Die noch mit der Landwirtschaft Verbundenen und Aufgeschlossenen finden sich dann mit 17 und 18 Jahren an den landwirtschaftlichen Fachschulen zur Weiterbildung ein. Jetzt ist die Jugend in einem Alter, wo sie versucht, selbst Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen. Sie versucht, frei zu werden von der Arbeitsverpflichtung auf dem elterlichen Hof, entdeckt sich selbst und stellt fest, daß sie auch das Zeug zum Studium hätte. Das ist aber in diesem Alter nicht mehr so leicht. Geld von zu Hause ist kaum zu erwarten, Ersparnisse sind nicht da. Was und vor allem wo kann man

überhaupt noch studieren? Zu den Vierzehnjährigen kann man sich doch nicht mehr auf die Schulbank setzen?

Eine Möglichkeit stellt der Besuch der landwirtschaftlichen Mittelschulen dar. Die sind jedoch überfüllt; die Hälfte derer, die um Aufnahme ansuchen, werden jährlich abgewiesen. Wenn es gut geht, kommt man also mit 19 oder 20 Jahren zum Studium.

WAS SOLL GESCHEHEN?

Nach der Fachmatura gibt es Möglichkeiten im Landwirtschaftlichen Förderungsdienst, im Lehrdienst, in der Privatwirtschaft. Aber ein Weiterstudium außer in der Landwirtschaft ist natürlich nicht möglich, denn dazu befähigt dieses Maturazeugnis nicht. Selbst der Besuch eines Abiturientenkurses etwa an der Lehrerbildungsanstalt oder an der Handelsakademie ist nicht möglich. Dazu ist zusätzlich eine Exter-nistenmatura notwendig. Da versucht man doch lieber, so unterzukommen. Dabei würden die landwirtschaftlichen Genossenschaften froh sein, wenn diese Mittelschüler eine kaufmännische Ausbildung erfahren könnten. Der Lehrermangel auf dem Lande wird immer größer, doch der weichende Bauernsohn hat auch bei allem Bildungswillen nicht mehr die Möglichkeit, etwa zu diesem Beruf zu kommen.

In erster Linie muß endlich einmal erreicht werden, daß in unserem Lande alle annähernd die gleichen Bildungschancen haben. Wenn von Begabtenförderung die Rede ist, dann kann diese nicht erst bei der Hochschule einsetzen. Es muß endlich auch denen der Zugang zur

Mittelschule ermöglicht werden, die auf Grund der geographischen und wirtschaftlichen Ungunst bisher nicht zum Studium finden konnten. Das heißt Schaffung und Förderung von Schülerheimen für Landkinder und ausreichende Stipendien auch für den Besuch der Mittelschulen.

Die Schaffung von Aufbaumittelschulen mit Internat ist als besonders dringlich anzusehen, um der bildungswilligen Landjugend ab 15 Jahren das Studium zu ermöglichen und sie in fünf Jahren zur Gymnasialmatura zu führen. Diese Studenten werden außerdem in besonderem Maße der finanziellen Unterstützung bedürfen.

Die Begabtenförderung darf nicht ausschließlich eine Sache des Staates und der öffentlichen Dienststellen bleiben, sondern muß das Interesse und die Anteilnahme weiter Kreise finden.

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