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Bildungsgefälle nach Westen?

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Die Verteilung der österreichischen Mittelschulen und die Frage des geistigen Proletariats

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Die Verteilung der österreichischen Mittelschulen und die Frage des geistigen Proletariats

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Man liebt es heute, auf den traditionsreichen Bildungsweg durch die Mittelschule mit leichtem Lächeln herabzublicken. Ebenso wird. auf die Überflutung der. akademischen Berufe verwiesen, und mancher meint, es sei ein Verbrechen, der Jugend den Weg zu höherer Schulbildung zu öffnen. Es soll hier nicht über die grundsätzliche Frage beraten werden, ob Eltern gut daran tun, wenn sie ihre begabten Kinder zur Reifeprüfung und vielleicht gar zuro Hochschulstudium bringen- Das möge man der Entscheidung des einzelnen überlassen. Aber kaum, zu zweifeln ist daran, daß unsere mitteleuropäische Gesellschaftsordnung ohne das höhere Schulwesen nicht denkbar ist. Es wird auch niemand ernstlich die Mittelschulen und die Hochschulen überhaupt abschaffen wollen.

Trotz allem gilt es heute doch noch als eine Bevorzugung, eine Mittelschule besuchen zu dürfen. Mögen auch die Auslesemethoden ' mangelhaft sein und manches Genie im Älter von zehn Jahren noch nicht erkannt werden, im großen gesehen ist es wohl richtig, daß die geistige Leistungsfähigkeit der Mittelschüler die der anderen Jahrgangsgenossen über- ragt.

Aber gleich, ob man nun die Mittelschulbildung für gut und nützlich hält oder nicht, man wird nicht bestreiten können, daß allen Staatsbürgern ein einigermaßen gleiches Recht auf Schulbildung zusteht. Das Wort .einigermaßen“ muß wohl eingefügt bleiben, denn feine1 völlige Gleichheit ist praktisch nur duf den untersten Schulstufen erreichbar. Je weniger Schulen eines Typs bestehen, desto theoretischer wird die Gleichheit und um so stärker die wirtschaftliche. Bevorzugung der Standorte dieser Schulen.. In einer Stadt, die Haupt- und. Mittelschulen besitzt, fallen die Mehrkosten, die dem einzelnen durch den Besuch einer höheren Schultype ent stehen, nicht ins Gewicht. Anders ist es dort, wo Hauptsehüler täglich Verkehrsmittel benützen müssen und eine Mittelschule überhaupt nicht zu erreichen ist. Solche Ungleichheiten werden sich wohl nie vermeiden lassen, aber die Gleichheit sollte doch wenigstens im Rahmen des vernünftig Möglichen hergestellt werden.

Es gibt natürlich viele historische Erklärungen des heutigen Zustandes. Da aber die Entwicklung nicht stehenbleibt, wird man es wohl auch übers Herz bringen müssen, ihr Rechnung zu tragen.

Der Eintritt in eine Mittelschule ist im allgemeinen an eine Aufnahmeprüfung gebunden. Ein Kind, das sie bestanden bat, kann am Besuch einer Mittelschule nicht gehindert werden. Die Zahl der Mittelschüler hängt daher grundsätzlich von den Schwierigkeiten der Aufnahmeprüfung beziehungsweise von der Ausscheidung weniger geeigneter Schüler in den ersten Jahren ab. Davon hängt schließlich aber auch die Frage der überfüllten Hochschulen und eines akademischen Proletariats ab. Es ist wohl nicht notwendig, Argumente dafür zu bringen, daß man bei einem bundesstaatlichen Mittelschulwesen keine örtlichen oder etwa gar kastenmäßigen Unterschiede machen kann.

Die folgende Untersuchung soll nun zeigen, daß die örtliche Verteilung unserer Bundesmittelschulen den Anforderungen der Gleichheit auch nicht annähernd entspricht. Während auf der einen Seite ein Überfluß an Bildungsmöglichkeit ist, der ein geistiges Proletariat bringen muß, herrscht auf der anderen Seite ein ungesunder Notstand. Einige Zahlen und Übersichten mögen diese Meinung eindeutig belegen.

In Österreich gibt es 127 Bundesmittelschulen. Die Bundeserziehungsanstalten, Lehrerbildungsanstalten, höhere Fachschulen usw. sind dabei nicht mit- gerechnet, auch nicht die privaten Anstalten. Wenn man die Einwohnerzahl Österreichs durch 127 teilt, so ergibt sich, daß im Durchschnitt auf 55.000 Ein- wohne.r eine Bundesmittelschule kommt. Nach diesem Schlüssel sollten in Wien 32 Mittelschulen sein. Tatsächlich sind aber 55! In Niederösterreich gibt es genau entsprechend dem Schlüssel 23 Bundesmittelschulen. In Oberösterreich sollten 21 sein, es sind aber nur 11, die Steiermark hätte Anspruch auf 20, hat aber nur 15, der Sollstand von Kärnten wäre 9, es sind aber nur 6, dem Burgenland würden 5 zustehen, es hat aber nur 3, auch Salzburg hat statt 6 nur 3, Tirol statt 8 nur 6, nur Vorarlberg macht die Ausnahme: es hätte nur auf 3 Mittelschulen Anspruch, hat aber 5.

Noch eindeutiger wird die Frage durch die nächste Aufstellung beantwortet.

Diese beiden Übersichten erweisen die ungeheure Bevorzugung unserer Bundeshauptstadt. In Wien hat — grob genommen — ein Volksschüler bis zu fünfmal soviel Aussicht, in die Mittelschule zu kommen, wie in einzelnen Bundesländern. Dieses Übermaß bewirkt, daß kein anderes Bundesland den Bundesdurchschnitt erreicht. Nur Vorarlberg und Niederösterreich sind ausreichend mit Mittelschulen versorgt.

Gerade Niederösterreich zeigt, wie die durchschnittliche Verteilung aussehen soll. Außer den politischen Bezirken Melk und Scheibbs verfügt jeder Bezirk über wenigstens eine Bundesmittelschule. Melk hat ein altes Stiftsgymnasium und der Bezirk Scheibbs hat nur 35.000 Einwohner und kein einziger Ort mehr als 5000.

Bemerkenswert sind Vergleiche im einzelnen: Wiener Neustadt (Stadt und Land) und Steyr (Stadt und Land) haben die gleiche Einwohnerzahl (86.000). In Wiener Neustadt gibt es drei Bundös- mittelschulen, in Steyr aber nur eine. Krems (Stadt und Land) hat 78.000 Einwohner, Braunau (politischer Bezirk) 77.000. Krems besitzt drei Mittelschulen, Braunau keine. Die Bezirke Gmunden und Vöcklabruck haben zusammen fast so viel Einwohner wie Vorarlberg, sie müssen sich aber mit einem Bundesrealgymnasium mit etwa 700 Schülern begnügen, während in Vorarlberg fünf Bundesmittelschulen von 1600 Schülern besucht werden. In Wien entfällt auf

32.0 Einwohner eine Bundesmittelschule, im Bezirk Vöcklabruck auf 100.000 nicht einmal eine! Von den 15 Bundesmittelschulen der Steiermark sind zehn in Graz, obwohl Graz-Stadt und Graz-

Land zusammen nur 320.000 Einwohner haben, das übrige Land aber fast 800.000!

Diese ungleichmäßige Verteilung wird besonders schmerzlich von jenen empfunden, die, der wirtschaftlichen Entwicklung folgend, ihre Existenz in der Provinz gefunden haben und nunmehr ihre Kinder nicht mehr in Mittelschulen schik- ken können.

Als Beispiel möge der zweitgrößte Bezirk Österreichs, Vöcklabruck, herausgegriffen werden. über das rapide Wachstum der wichtigsten Gemeinden gibt die untenstehende graphische Darstellung Auskunft.

Mit großer Energie wurde hier vor zwei Jahren die Gründung einer Mittelschulexpositur betrieben. Obwohl dieser Bezirk ein Sechstel der Steuern von ganz Oberösterreich aufbringt, muß selbst dieser Embryo einer Mittelschule aus den Mitteln der Stadtgemeinde Vöcklabruck und der Elternschaft errichtet werden, der Bund zahlt nur die Gehälter der Lehrkräfte. Diese Expositur zählt derzeit drei Jahrgänge mit fünf Klassen und 161 Schülern. Die Eltern dieser Schüler waren vor dem 1. März 1938 zu 38 Prozent im Bezirk, 22 Prozent kamen seitdem aus Wien, 21 Prozent aus dem übrigen Österreich und 19 Prozent aus dem Ausland, das heißt zwei von den fünf Klassen sind sozusagen bodenständig, eine stammt aus Wien, eine aus dem übrigen Österreich und eine aus dem Ausland (in der Hauptsache Repatrianten).

Welche starke soziale und wohl auch politische Bedeutung die Aufteilung des höheren Schulwesens hat, zeigt eine andere Aufstellung aus der Vöcklabrucker Mittelschulexpositur: von ihren 161 Schülern stammt kein einziger aus der Landwirtschaft, nur zehn aus Arbeiterkreisen, aber die Väter von 62 Schülern haben Hochschulbildung! Es braucht an dieser Stelle wohl nicht weiter ausgeführt werden, was es bedeutet, daß in einer Bevölkerungsgruppe von 100.000 Einwohnern sowohl die Bauern als auch die Arbeiter bisher kaum einen Zugang zur Mittelschule und damit auch zur Hochschule gefunden haben. Dabei ist Vöcklabruck e i n Beispiel.

Ein echtes Bedürfnis nach höherer Bildung kann niemals zum Entstehen eines geistigen Proletariats führen, dieses kann sich nur dort bilden, wo eine Übersättigung mit Mittelschulen unberufen in falsche Bahnen lenkt.

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