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Digital In Arbeit

Mythen des Arbeitsmarktes

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Der Handelsvertreter Kairi S. is' arbeitslos geworden. Die Ursache dafür ist seine etwas angegriffene Gesundheit, die es ihm nicht mehr möglich macht, einen Beruf auszuüben der vor allem im Umherreisen besteht. Aber warum sollte sich Karl S. Sorgen machen? Er hat Matura, kann zwei Fremdsprachen und besitzt aui Grund seiner 'beruflichen Tätigkeil gute Auslandskontakte — Qualifikationen, die ihm zuletzt monatlich 7000 Schilling einbrachten. Warum sich also allzu viele Gedanken machen? Weil er schon 50 Jahre alt ist? Karl S. fühlt sich — sieht man von seiner Unfähigkeit, einem „reisenden“ Beruf auszuüben, ab — durchaus noch dynamisch, leistungs- und einsatzfähig. Mit seinen Qualifikationen wird es doch nicht schwer sein, eine ähnliche berufliche Position wie 'bisher zu finden; so denkt er

Etwas skeptischer wird Karl S., als er sich die Stellenangebote in den Zeitungen ansieht. Weder kommt der Posten eines „Verkaufsleiters in den Bundesländern“, für den ein „Herr zwischen 30 und 40 Jahren" gesucht wird, für ihn In Frage, noch die Stelle eines „Leiters der 'betriebswirtschaftlichen Abteilung“, für den „Herren zwischen 35 und 45 Jahren“ gefragt sind. Karl S. ist auch kein „jüngerer Mitarbeiter für die Werbeabteilung“ eines Unternehmens, und als Verkäufer in einem Elektrogeschäft oder als Büroangestellter in einer Maschinenhandlung will Karl S. doch nicht nochmals von vorne beginnen.

Karl S. geht nun zum Arbeitsamt, in der Meinung, zumindest dort müßte man ihn mit offenen Armen aufnahmen und ihm die verschiedensten, ihm genehmen Posten anbieten, von denen er sich dann nur den besten aussuchen müßte. Denn es herrscht doch Vollbeschäftigung, und er ist doch bestens für eine führende Position in einem Handelsunternehmen qualifiziert.

Mit 45 zu alt?

Man nimmt ihn dort nicht mit offenen Armen auf, man ist auf dem Arbeitsamt auch gar nicht überrascht, daß ein Mann wie Karl S. nicht sofort eine neue, adäquate Steilung gefunden hat. Man kennt in den Arbeitsämtern dieses Problem der Arbeitslosigkeit älterer Angestellter. Es ist ein ernstes Problem: Angestellte im Alter von über 45 Jahren (weibliche Angestellte noch früher) können, wenn sie einmal aus dem Arbeitsprozeß herausgefallen sind, nur mit größten Schwierigkeiten wieder in diesen eingegliedert werden. Sie werden bereits zum alten Eisen gerechnet; sie gelten als verbraucht. Ganz im Gegensatz dazu warnt ein OEOD- Bericht aus dem Jahre 1964 davor, auf diese älteren Arbeitskräfte leichtfertig zu verzichten. Es gebe letztlich keine rationalen Gründe, die eine Einstellung älterer Stellenanwärter verhindern könnten. Die wenigen, echten Nachteile einer Neueinstellung älterer Arbeitskräfte (Kosten einer Umschulung, verminderte Anpassungsfähigkeit) werden durch manche Vorteile (größere Berufserfahrung und andere) ausgeglichen. Was sich wirklich zuungunsten der älteren Arbeitssuchenden auswirkt, sind keine Vernunftgründe, sondern ist der Mythos des jungen, dynamischen, rasch die Kar- niereleiter emponstedgenden Managers. Mit diesem Leitbild kann ein älterer Arbeitsloser, auch wenn er noch so qualifiziert ist, nicht konkurrieren. Er unterliegt nicht auf Grund einer mangelnden Leistungsfähigkeit, er unterliegt einem irrationalen Leitbild.

Auch Karl S. unterliegt. Es erweist sich als unmöglich, für ihn eine Stellung zu finden, die seinem Ausbildungsniveau und seinem bisherigen Einkommensstandard entspricht. Er muß schließlich froh sein, einen Posten zu bekommen, der seinen Fähigkeiten überhaupt nicht entspricht, der ihm aber wenigstens erlaubt, zu arbeiten und zu leben. Er wird zweiter Buchhalter einer kleinen Firma, mit einem Monatseinkommen von 3000 Schilling. Die Folgen dieser Geschichte: Der Volkswirtschaft ist eine wertvolle, qualifizierte Arbeitskraft verlorengegan

gen, und Karl S. fühlt sich in seinei neuen 'beruflichen Position vernachlässigt und unterbezahlt — sein ganzer Fleiß, seine Ausbildung, sein Aufstieg waren umsonst.

Die Fluktuation der Jungen

Karl S. war gezwungen, seine Stellung zu wechseln, zu „fluktuieren“. Seine Geschichte ist insofern ein vordergründige, als ihre Ursachen — die Ursachen der Arbeitslosigkeit älterer Angestellter — bekannt sind und auf längere Sicht auch eine Abhilfe möglich ist: Durch „aktiv Arbeitsmarktpolitik“ der zuständigen Behördeh, durch Um- und Nachschulung kann den Stellung

suchenden geholfen werden, leichter einen Posten zu finden. Aufklärungsfeldzüge können Unternehmer davon überzeugen, daß ein 50jähriger einem Betrieb noch sehr, sehr nützlich sein kann. Weniger vordergründig ist eine andere Erscheinung des modernen Arbeitsmarktes: die immer stärker werdende Fluktuation jüngerer Arbeitnehmer. Dieses Phänomen ist mit allen seinen ökonomischen, soziologischen, sozialpsychologischen und politischen Aspekten noch weitgehend unerforscht. Derzeit arbeitet allerdings das Landesanbeitsamt Wien an einet eingehenden Strukturanalyse dieser Fluktuation.

I Keine Bindung an die Arbeit

Was bestimmt einen jungen Bauarbeiter dazu, sich ständig abwerben zu lassen? Was bestimmt ihn dazu, wegen der Differenz von einem Schilling Stundenlohn immer wieder, oft Woche für Woche, den Dienstgeber zu wechseln? Ist wirklich nur der höhere Lohn die Ursache? Was bestimmt einen jungen Angestellten dazu, seinen Arbeitsplatz häufig zu wechseln? Sind es wirklich nur die 50 oder 100 Schilling, die er nun monatlich dazuverdient? Ist es wirklich nur die für jüngere Arbeitnehmer so günstige Situation des Arbeitsmarktes, die dazu führt, daß die Wiener Krankenkassen, wie ein Seismograph, jährlich über eine Million Ab- und Anmeldungen als Zeichen vollzogener Arbeitsplatzwechsel registrieren (1964: 1,034.000)? Es ist ohne Zweifel mehr hinter diesen Erscheinungen verborgen. Daß junge Arbeitskräfte bereit sind, wegen der geringsten Ein- kommensverbesserung den Arbeitsplatz zu wechseln, zeigt, wie wenig sie ein inneres Naheverhältnis zu ihrer bisherigen Arbeit gewonnen haben und wahrscheinlich auch zu ihrer zukünftigen gewinnen werden. Sie stehen ihrer Arbeit ohne innere Bindung, ohne Engagement gegenüber, sie sind daher auch jederzeit bereit, das dünne Band äußerer Bindung zu zerreißen.

Irrationale Leitbilder

Die Ursachen für dieses distanzierte Verhältnis zur Arbeit ist aber nicht einfach ein prinzipielles Unvermögen einer Generation, in der Arbeit mehr als nur ein notwendiges Übel zu sehen. Oft setzt der junge Arbeitnehmer, wenn er am Beginn seiner Elingliederung in den Arbeitsprozeß steht, sehr wohl hohe Erwartungen in seine zukünftige berufliche Tätigkeit. Aber was sind beispielsweise die Leitbilder eines jungen Angestellten, der frisch von der Handelsschule kommt? Sicherlich nicht der sich langsam „hinaufdienende“, bis

zur Pensionierung einer Firma treu bleibende Angestellte, dessen Karriere ruhig und sicher verläuft, aber aller Besonderheiten entbehrt. Das Leitbild der meisten jungen Angestellten, die nur irgendwie mit Phantasie ausgestattet sind, ist der junge Manager, der bereits im Alter von 35 Jahren als Direktor eines Weltkonzerns zwischen Paris, Buenos Aires und Tokio hin- und herreist. Ein irrationales Leitbild? Gewiß, aber dennoch ein effektives Leitbild, das dem Jugendlichen von heute durch die Film-, Literatur- und Werbeindustrie ununterbrochen ein

gehämmert wird. Wenn er schon nicht James Bond werden kann, warum nicht wenigstens der James Bond der Manager, ein James Bond ohne Waffen, ohne Politik, ohne Gefahren, aber mit denselben persönlichen Erfolgen, mit demselben Luxus?

Nicht um Brot allein

Und nun wird der junge Angestellte, der mit diesen (zumeist uneingestandenen) Erwartungen seine berufliche Laufbahn begonnen hat, mit den Realitäten konfrontiert. Das Erlebnis der Differenz von Erwartung und Sein muß Reaktionen auslösen, muß eine Frustrierung hervorrufen. In dieser persönlich kritischen Situation verliert nun der junge Arbeitnehmer jede innere Bindung an seinen Beruf, was ihm einen Wechsel der Arbeitsstelle erleichtert. Dazu wird er auch noch von dem Wunsch gedrängt, neu zu beginnen, es nochmals zu versuchen, der eigenen Minderleistung zu entkommen, vielleicht doch noch Realität und Erwartung in Einklang zu bringen. Und wenn sich auch durch einen Arbeitsplatzwechsel nichts an seiner Frustrierung und an seinem distanzierten Verhältnis zur Arbeit ändert, er hat wenigstens die Scheinbefriedigung, jetzt 100 Schilling im Monat (oder ein Schilling in der Stunde) mehr als bisher zu verdienen.

Man ist allzu leicht geneigt, Probleme des Arbeitsmarktes zu bagatellisieren, sie überhaupt zu leugnen, solange nur im Zeitalter der Vollbeschäftigung der ökonomische Mechanismus klappt und für jeden das materielle Existenzminimum (und noch ein Stück dazu) gesichert erscheint. Es wäre aber seichtester Vulgärmaterialismus, würde man sich auf diesen Gesichtspunkt beschränken. Auch bei Vollbeschäftigung zeigen sich auf dem hier als Barometer fungierenden Arfoeitsmarkt Symptome, die auf eine ungesunde Entwicklung weisen. Die Arbeitslosigkeit und (erzwungene) Fluktuation älterer Angestellter ist ein solches Symptom, die (freiwillige) Fluktuation jüngerer Arbeitnehmer ein zweites. Beide Symptome haben gemeinsam, daß sie sich auf ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit zurückführen lassen. Der ältere Angestellte, der unverschuldet aus dem Arbeitsprozeß herausfällt, kämpft gegen ein irrationales Leitbild, gegen einen Mythos. Dasselbe irrationale Leitbild, derselbe Mythos lenkt den Blick des jungen Arbeitnehmers von der Nüchternheit der Wirklichkeit ab, erweckt in ihm Erwartungen, die nicht erfüllt werden können, und erzeugt schließlich geradezu eine Fluktuationsneurose.

Hinter den in dürren Zahlen faßbaren Symptomen, hinter dem Wort „Frustrierung" aus dem Fachjargon der Psychologen und Soziologen stehen aber menschliche Schicksale, kaum wahrgenommene Tragödien, die in ihrer Summierung unsere ganze Gesellschaft entscheidend beeinflussen.

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