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Viel Kreativität und Idealismus

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Eine Schulklasse wie viele andere, zumindest auf den ersten Blick. Nur ein Schüler ist „anders", gehört scheinbar nicht hierher: Er kann nicht sprechen, weil er an einer Art Autismus leidet. Alle, Lehrer und Mitschüler, bemühen sich um ihn, scheinbar vergeblich. Bis er dann im Lateinunterricht zum ersten Mal auf die Frage nach seinem Namen antwortet, zuerst leise, dann laut und deutlich, unter dem Jubel und Beifall der Mitschüler. Die Zuwendung, die Mühen waren doch nicht fruchtlos; der Klang der „neuen" Sprache hat schließlich den Bann gebrochen.

Ein Einzelfall, ein besonderer Glücksfall. Dennoch ist die Heilung dieses Kindes für Karl Bössel-Majdan, Präsident des „Kuratoriums für künstlerische und heilende Pädagogik" in Wien, die beste Bestätigung für die vom österreichischen Pädagogen und Philosophen Rudolf Steiner entwickelte Erziehungs- und Unterrichtsmethode.

Begonnen hat alles 1919 mit der Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart für die Kinder der Mitarbeiter der Waldorf-Astoria-Zigaret-tenfabrik. Heute stehen die Begriffe „Waldorfschule" oder „Rudolf-Steiner-Schule" für Unterricht nach der „ganzheitlichen" Methode, für das Streben nach einem Einklang von Körper, Seele und Geist.

Zweitgrößter Betreiber

von Privatschulen ist die Waldorfbewegung nach der katholischen Kirche. Die zwölf Schulen kämpfen ums finanzielle Uberleben.

Vor allem bei den Jüngsten müsse „Willens- und Charakterschulung", „Gefühlserziehung" im Vordergrund stehen, erläutert Karl Rössel-Majdan, bei den älteren Schülern verlagere sich der Schwerpunkt immer mehr auf das Intellektuelle. „Das entspricht der Entwicklung des einzelnen Menschen genauso wie der Phylogenese."

Zwei Grundprinzipien prägen die Waldorf-Pädagogik: „ Klassenlehrer-Prinzip" und „Epochen-Unterricht". Das Klassenlehrer-Prinzip bedeutet, daß während der gesamten Schulzeit nicht nur der Klassenverband erhalten bleibt, sondern bis zum achten Schuljahr auch der Klassenlehrer, der alle „Hauptfächer" unterrichtet, „mit der Klasse aufsteigt". Der Epochen-Unterricht" beruht auf der Überzeugung Rudolf Steiners, daß die üblichen Stundenpläne nur zu einer „Zerrissenheit" beim Lernen führen und die Konzentration erschweren. Also werden viele Fächer in „Epochen" von mehreren Wochen unterrichtet, täglich eine Doppelstunde am Morgen.

Bis zur Hauptschulreife ist die Ausbildung in Waldorfschulen staatlich voll anerkannt. Was die Oberstufe betrifft, scheiden sich die Geister - auch zwischen den Betreibern von Waldorfschulen. Aus der Sicht jener zwölf Schulen, die dem österreichischen Dachverband „Vereinigung Freier Bildungsstätten auf anthroposophi-scher Grundlage" angehören, sind Waldorfpädagogik und Maturavorbereitung in vier Oberstufenjahren schlicht unvereinbar. Benate Turek, geschäftsführende Mitarbeiterin des Schulvereins an der Rudolf-Steiner-Schule in Wien-Mauer: „Es gibt eine weitgehende Übereinstimmung mit den AHS-Lehrplänen, bis auf vier Fächer wurde uns sogar die Zulassungsprüfung für die Externistenma-tura erlassen. Aber mehr Annäherung ist nicht erreichbar, sonst müßten wir uns völlig verändern, und das wollen wir nicht." Gerade das 12. Schuljahr sei „die Krönung der Waldorf-Pädagogik": Eine Art Forschungsjahr, abgeschlossen mit einer „Jahresarbeit" zu einem vom Schüler selbst gewählten Thema. Für die Matura ist ein dreizehntes Schuljahr erforderlich, das bereits an einzelnen Rudolf-Steiner-Schulen - unter anderem in Wien-Pötzleinsdorf - angeboten wird. „Die meisten gehen aber einfach in die 8. Klasse einer AHS."

Karl Rössel-Majdan, dessen „Kuratorium" außerhalb des Dachverbandes steht, sieht das anders: „Warum soll man nicht den Beweis erbringen, daß mit der ganzheitlichen Methode

auch das intellektuelle Lehrziel erreicht werden kann?" An der Fried-rich-Eymann-Schule in der Feldmühlgasse in Wien Hietzing gibt es daher das „Rudolf Steiner Oberstufenrealgymnasium mit Öffentlichkeitsrecht", der erste Maturajahrgang im kommenden Schuljahr soll Skeptiker endgültig überzeugen.

Einen Vorwurf weisen alle einhellig zurück: Jenen, eine „Sektenschule" zu sein. Rössel-Majdan: „Rudolf Steiner wird oft in Zusammenhang mit der ,Christengemeinschaft' gebracht. Tatsache ist: Er wurde gefragt, wie man lateinische Texte verständli-

eher fassen könnte, und er hat geholfen. Aber darüber hinaus wollte er keinerlei Verbindung dazu." Ganz ähnlich Elisabeth Gergely, eine Mitbegründerin der Schule in Mauer: „Die Christengemeinschaft und die ,anthroposophische Gesellschaft', zu der sich Steiner bekannt hat, sind zwei völlig getrennte Einrichtungen. Wir pflegen die Religion, aber wir selbst sind keine Kirche, wir wollen eine saubere Trennung." In Waldorfschulen gibt es katholischen und evangelischen Religionsunterricht ebenso wie jenen der „Christengemeinschaft". Und schließlich einen „freichristlichen" Unterricht, laut Turek „eine ethische Unterweisung, basierend auf christlichem Grundge-

dankengut" für Kinder, die keinen konfessionellen Unterricht besuchen.

Rund 2.500 Schüler besuchen in Österreich Waldorfschulen, spezifische „Zielgruppen" gibt es nicht. „Der ursprüngliche Sinn der Sache war es, Fabriksarbeiter-Kindern eine gute Ausbildung zu geben, jetzt regelt sich der Zugang über das Schulgeld!" Für Karl Rössel-Majdan ist die derzeitige Situation alles andere als ideal. Zwischen 3.000 und 5.000 Schilling pro Monat - steigende Beträge von der Volksschule bis zum OBG -müssen die Eltern der Schüler in der Feldmühlgasse aufbringen. In Mauer gibt es eine Selbsteinstufung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit: „Kostendeckend wären 3.800 Schilling, im Durchschnitt werden 2.200 Schilling pro Kind bezahlt", so Renate Turek. Die finanzielle Situation ist prekär: „Bei uns absolvieren die Lehrer für geringe Bezahlung die doppelte Lehrverpflichtung. Aber irgendwann endet der größte Idealismus."

Österreichs EÜ-Beitritt läßt die Betreiber der Waldorfschulen aber wieder hoffen. Bössel-Majdan: „Eine Re-solution des EU-Parlaments verlangt die Gleichstellung öffentlicher und privater Schulen. Der Staat muß für die Erhaltung sorgen. Auf Dauer gesehen wird es sicher auch in Österreich nicht haltbar sein, daß Eltern zweimal zahlen: für die öffentlichen Schulen mit ihren Steuern, und dann noch das Schulgeld bei uns."

Dr. Christine Kary, Juristin,

ist freie Journalistin in Wien.

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