Angstschweiß beim Elfmeter

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Fürchtet sich der Tormann mit gutem Grund? Oder sollte eher der Schütze bangen? Otto Konrad weiß, was sich im Kopf eines Spitzentormanns abspielt - vor, während und nach dem alles entscheidenden Schuss.

Unentschieden nach 90 Minuten. Noch einmal müssen alle Kräfte mobilisiert werden - es geht in die Verlängerung. Die Zeit verrinnt, doch der Torjubel bleibt aus. Nach 120 Minuten ist es Gewissheit: Die Entscheidung über Sieg und Niederlage, über Weiterkommen oder Ausscheiden, fällt im Elfmeterschießen. Eine häufige Situation im Fußball, die alle Nerven strapaziert - jene der Fußballspieler wie jene der mitfiebernden Fans im Stadion und an den Fernsehschirmen. Auch bei dieser Weltmeisterschaft wird diese Tortur wieder durchlitten werden, die sich so mancher gern ersparen würde. Am liebsten wohl die Torwarte, die beim Elferschießen notgedrungen im Mittelpunkt des Geschehens stehen.

Gänzlich unbegründet erscheint "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" also nicht. (Peter Handke geht in seiner gleichnamiger Erzählung aus dem Jahr 1970 über den schizophrenen ehemaligen Fußballtormann Josef Bloch übrigens nur in einem Satz auf dieses Phänomen ein.) Die Wissenschaft begibt sich freilich immer öfter auf den grünen Rasen, um dieses angespannte Ereignis zu erforschen. Ihre Ergebnisse sind ernüchternd: 130 km/h kann der Ball beim Schuss vom Elfmeter-Punkt erreichen - eine viel zu hohe Geschwindigkeit für einen Menschen, um reagieren zu können. Auch reicht sein Sehvermögen schlichtweg nicht aus, um das runde Leder in diesen Sekundenbruchteilen überhaupt zu "erfassen". Trotzdem sind es gerade die gehaltenen Elfmeter, die zu Ruhm und Ehre verhelfen.

"Den hau' ich rein ..."

Österreichs ehemaliger Spitzen-Tormann Otto Konrad kann das bestätigen: Vielen wird jenes Spiel des Jahres 1994 in Erinnerung sein, das ihn in den Tormann-Olymp aufsteigen ließ. Mit Austria Salzburg im Viertelfinale des UEFA-Cups wehrte er im Elfmeterschießen gegen Eintracht Frankfurt zweimal erfolgreich ab und verwertete dann selbst den entscheidenden Elfer. Ein Ereignis, das mehr in Erinnerung blieb als die anderen Erfolge, an denen der heute 41-Jährige großen Anteil hatte - etwa der zweimalige Meistertitel der Salzburger und das Erreichen des UEFA-Cup-Finales. Auch Konrad selbst, mittlerweile Tormanntrainer der österreichischen Nationalmannschaft, bekommt beim Gedanken an 1994 noch eine Gänsehaut: "Ich habe den zweiten Elfer gehalten und auf einmal gewusst - jetzt musst du schießen. Für mich war klar: Den hau' ich rein ..."

Perfektion in Gedanken

Situationen im Kopf durchzuspielen, war lange Zeit Konrads Erfolgsgeheimnis - erlebte Spielsituationen genauso wie imaginäre: "Ich bin oft im Bett gelegen, habe mir vorgestellt, der Bergkamp oder ein anderer Torjäger läuft auf mich zu", erzählt er. "Ins Spiel gegangen bin ich dann mit dem Bewusstsein: Den habe ich in Gedanken schon einmal besiegt. Oder wenn ich einmal im Tor danebengegriffen habe, habe ich gleich danach die Situation in Gedanken richtig gelöst. Bis zur Perfektion." Ein Perfektionismus, der gehörig zur Steigerung seiner Erfolgsquote beigetragen hat - und zur Erhöhung seines Selbstbewusstseins. Eine der wichtigsten Eigenschaften eines guten Tormannes.

Dass der Mann im Tor eine Schlüsselposition inne hat, gilt als unbestritten: Fußballexperten beurteilen seine Wichtigkeit in der Mannschaft mit 20 bis 35 Prozent - schließlich hängt in wenigen Momenten alles von ihm ab. Keiner im Team steht an so exponierter Stelle wie er, Triumph und Tragödie liegen dicht beieinander. Er ist es meist, der gegenüber der Öffentlichkeit für alles geradestehen muss - und dann und wann auch "ausrastet": Schreiattacken und körperliche Angriffe auf Mitspieler von Torleuten wie Oliver Kahn (FC Bayern München) oder Joey Didulica (FK Austria Magna) liefern Gesprächsstoff. Auch Konrad musste sich Arroganz und Präpotenz nachsagen lassen: "Ich habe nach dem Match immer gesagt, ich habe keinen Fehler gemacht, sondern nur Erfahrungen. Ich habe keine Ausreden, nur Erklärungen gesucht - viele Leute hab ich damit vor den Kopf gestoßen."

Dass ein Tormann über sportliche Kompetenz verfügen muss, ist Faktum. Dass aber laut Konrad "emotionale Intelligenz" der Grundstein zum Tormann-Erfolg (und gegnerischen Tor-Misserfolg) sei, mag verwundern: "Einerseits gibt es den Druck, die Erwartung, denen man gerecht werden muss, andererseits wirkt extern viel auf einen ein", erzählt Konrad. "Du musst das Publikum für dich gewinnen, musst aggressiv sein, um auf den Ball vorbereitet zu sein, für den Gegner auch aggressiv wirken. Es ist eine Frage der emotionalen Intelligenz, all diese Faktoren zu verarbeiten, zu verkraften. Nur dann kann ich es als Tormann schaffen."

Auch bedarf es mentaler Kraft, 90 Spielminuten im Tor zu über-stehen - im wahrsten Sinne des Wortes, schließlich ist die "Steh-Zeit" wesentlich länger als die Zeit aktiver Betätigung. Allzeit bereit zu sein ist daher die Kunst, allzeit konzentriert zu sein aber unmöglich: "Es ist ein Wechselspiel zwischen Spannung und Entspannung - man muss sich bewusst rausnehmen, die kurzen Phasen, wenn der Ball anderswo ist, bewusst zur körperlichen und geistigen Regeneration nützen. Die so wichtige Feinkoordination leidet unter Nervosität und körperlicher Belastung", weiß Konrad. Wenn der Angriff anrolle, sei neben der Intuition, die mit dem Erfahrungsschatz wachsen sollte, auch Automatisierung gefragt: "Im Spiel sollten die Erfahrungen automatisch abgerufen werden können. Denn sobald wir uns erst eine Situation bewusst machen und nachdenken müssen, haben wir keine Chance mehr."

Dirigent und Kontrollor

Durch Konrad, der seine persönlichen Erfahrungen auch in seine Abschlussarbeit zur Erlangung der höchsten Trainer-Lizenz einbringt, ergibt sich ein ziemlich konturiertes Bild der Rolle des Tormannes im heutigen Fußball: Er sollte die gesamte Mannschaft dirigieren, zumindest aber die Verteidigung und das defensive Mittelfeld unter Kontrolle haben. Er ist es, der den besten Überblick über Spielgeschehen und Aufstellung hat - weniger der Trainer am seitlichen Spielfeldrand. "Vom Tormann wird einfach verlangt, entscheidende Maßnahmen zu setzen. Wenn von hinten ein Kommando kommt, müssen die vorne wissen, was zu tun ist." Eine Entwicklung, die seit der Auflösung des umsichtigen Liberos und der Hinkehr zur Vierer-Abwehrkette fortschreitet und immer mehr von Trainern und Mitspielern anerkannt wird.

Dass diese "Schlüsselrolle" manchmal auch mit "Sonderrolle" im Sinne von "(ab)sonderlich" gleichgesetzt wird, ist Konrad bewusst: "Die Meinung, dass der Tormann und der Links-Außen einen ,Pecker' haben müssen, teile ich zum Teil". Konrad hat diese Rolle jedenfalls auf sich genommen - ebenso wie die Herausforderung Elfmeter als Anforderungsprofil seines Berufs. "Angst vor dem Elfmeter" würde folglich auf Berufs-Verfehlung deuten - sie wäre ein Eigentor.

Eine Ansicht, die von der Wahrscheinlichkeitsrechnung gestützt wird: So lastet der Druck weniger auf dem Tormann als vielmehr auf dem Schützen. Er hat höhere Chancen, das Elferduell für sich zu entscheiden - und somit mehr zu verlieren. Das Motto lautet: Hält der Tormann, ist es Können. Hält er nicht, ist es Pech. Trifft der Spieler, lief es erwartungsgemäß, trifft er aber nicht, ist er ein Versager. Die Folge: Elferschützen scheitern vor eigenem Publikum um 35 Prozent häufiger. Auch soll weiteren Studien zufolge dem Tormann ein kurzer Blick auf den Körper des Schützen helfen: In 80 Prozent der Fälle zeigt das Standbein die Richtung des Schusses an. Ist die Hüfte eines Rechtsfüßers zum Torhüter gerichtet, geht der Elferschuss zumeist in die rechte Ecke.

Gefühl und Glück

Was zählt nun für den Tormann in der alles entscheidenden Situation? Ein Blick auf die Beine und Hüften des Schützen? Nichts von alldem: "Du kannst dich nie auf den Spieler verlassen, nur auf dein Gefühl", ist Otto Konrad überzeugt. Außerdem: "Die Ecke erraten ist gut, den Ball auch halten, ist eine andere Sache." Dazu brauche es neben allem Instinkt eben noch etwas: ein Quäntchen Glück.

Die Autorin ist Sportjournalistin und-moderatorin beim orf.

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