Die Macht der Mythen

19451960198020002020

Die Ereignisse von 1934 haben zu emotional aufgeladenen Erinnerungskulturen geführt. Der 19. Wiener Kulturkongress beleuchtete die Folgen bis heute.

19451960198020002020

Die Ereignisse von 1934 haben zu emotional aufgeladenen Erinnerungskulturen geführt. Der 19. Wiener Kulturkongress beleuchtete die Folgen bis heute.

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn sich heute manche Abgeordnete im Parlament zu unflätigen Aussagen hinreißen lassen, können Historiker nur auf den Wert der guten Sitten verweisen - und daran erinnern, dass etwa in der Ersten Republik weitaus schlechtere Umgangsformen an der Tagesordnung standen.

Damals gaben Aufmärsche der paramilitärischen Parteiverbände den Volksvertretern immer wieder Anlass für untergriffige Behauptungen und derbe Beschimpfungen. Auch die skurrile Praxis, trotz gröblicher Schimpfreden die förmliche Anrede mit allen Titeln beizubehalten, änderte nichts an der Vergiftung des geistigen Klimas. Feindschaften, wechselseitiger Hass und Verachtung bereiteten den Nährboden für die tragischen Ereignisse des Jahres 1934, wie der Historiker Michael Dippelreiter beim 19. Wiener Kulturkongress vor Augen führte. Es war der Auftakt zum Untergang der Ersten Republik.

Neue Forschungsergebnisse

Beim diesjährigen Kulturkongress im Festsaal der Diplomatischen Akademie standen der Februaraufstand und der Juli-Putsch von 1934 als historische Folgen des Ersten Weltkriegs zur Debatte - und vor allem als Ereignisse, die noch heute nachwirken und emotional leicht reaktiviert werden können. Von den beiden (einstmals) großen Lagerparteien SPÖ und ÖVP werden sie weiterhin zur Traditionspflege und Vergangenheitspolitik instrumentalisiert. "Kein Ereignis der Ersten oder Zweiten Republik erregt nach wie vor so sehr die Gemüter wie die Februarkämpfe 1934", bemerkte der Salzburger Geschichtsprofessor Robert Kriechbaumer bei der von der Österreichischen Kulturvereinigung ausgerichteten Veranstaltung, die zur Historisierung und Versachlichung beitragen sollte.

Im März 1933 hatte das autoritäre Regime von Engelbert Dollfuß den Republikanischen Schutzbund als paramilitärischen Arm der Sozialdemokratie aufgelöst und in der Folge führende Schutzbündler verhaften lassen. Nachdem am 12. Februar Vertreter des Schutzbunds in Linz entgegen Anordnungen der Parteileitung das Feuer eröffnet hatten, kam es vor allem in Wien und den Industrieregionen von Oberösterreich und der Steiermark zu blutigen Kämpfen. Binnen drei Tagen wurde der Aufstand vom Bundesheer, der Polizei und den Heimwehren niedergeschlagen; in Wien wurden Gemeindebauten sogar mit Artillerie beschossen.

Die wissenschaftliche Literatur zum Februar 1934 ist mittlerweile fast unüberschaubar. "Eine unabhängige, parteipolitisch unvoreingenommene Aufarbeitung des Februaraufstands hat bislang aber nur fragmentarisch stattgefunden", kommentierte der Historiker Kurt Bauer, der beim Kulturkongress neue Forschungsergebnisse präsentierte: Die Zahl der Todesopfer wird heute in seriösen Schätzungen mit bis zu 360 Personen angegeben. Die meisten Opfer gehörten weder den Aufständischen noch der Regierung an, sondern waren Unbeteiligte, die zufällig in die Feuerlinien geraten waren. In Wien, wo sich die Kämpfe auf dicht besiedelte Wohngebiete konzentrierten, waren dies sogar mehr als 50 Prozent. Vier Fünftel aller zivilen Todesopfer gehörten Arbeitermilieus an.

Tiefe Traumatisierung

Die Übertreibung der eigenen Opfer in frühen sozialdemokratischen Darstellungen wird von Historikern teils als effektive Propagandamethode im Kampf gegen den "Austrofaschismus" erklärt. Später habe dann oft eine Scheu davor bestanden, die überhöhten Opferzahlen, wie sie in der Arbeiterbewegung tradiert wurden, in Frage zu stellen. Schließlich rankt sich der "Februarmythos" des sozialdemokratischen Lagers um den Opfergang der österreichischen Arbeiter, der als Ausgangspunkt für den antifaschistischen Kampf und die "Wiedergeburt" im Jahr 1945 betrachtet wird. Dieser Mythos wurde auch im Laufe der jüngsten Geschichte herbeizitiert - etwa bei der politischen Wende des Jahres 2000, als sich die Auseinandersetzung um die "historische Erzählung" in Österreich wieder verschärfte und die Regierungsbildung unter Wolfgang Schüssel von sozialdemokratischen Stimmen mit dem Staatsstreich von 1933 verglichen wurde.

Der "Februarmythos" zeigt jedoch blinde Flecken, wie Dieter Binder, Geschichtsprofessor an den Universitäten Graz und Budapest, erläuterte. Nach den Februarkämpfen hatte die Regierung Dollfuß die sozialdemokratische Partei sowie assoziierte Organisationen und Gewerkschaften verboten. "Im Hass auf Dollfuß fanden Teile des sozialdemokratischen Widerstands gegen den 'Austrofaschismus' zu einem partiellen Zusammenwirken mit den illegalen Nazis und verloren in diesem symbiotischen Widerstandsverhalten ihre politische Unschuld gegenüber dem Nationalsozialismus", so Binder. Andererseits hätten die Reste des alten christlich-sozialen Lagers und die nach 1945 hervorgegangene Volkspartei (ÖVP) die tiefe Traumatisierung des sozialdemokratischen Milieus infolge des Februar 1934 ignoriert.

Neuer Blick auf den Juli-Putsch

"Dem sozialdemokratischen Erinnern stellte man seitens der ÖVP den Anti-NS-Habitus des autoritären Ständestaats und das Bild des von den Nazis ermordeten Bundeskanzlers Dollfuß gegenüber", sagte Binder. Analog zum "Februarmythos" sprechen Historiker vom "Dollfuß-Opfer-Mythos" des christlich-sozialen Lagers, wonach Dollfuß mit seinem Märtyrertod die Basis für die Geburt eines neuen Österreich gelegt habe.

"Februar- und Julimythos haben sich jeweils um Niederlagen und Katastrophen gebildet. Sie sind in ihrem Kern Auferstehungsmythen", resümierte Historiker Kurt Bauer, der in seinem Buch "Hitlers zweiter Putsch"(2014) mit neuen Thesen zu den Ereignissen um den 25. Juli 1934 für Aufsehen gesorgt hat. Demnach war es Hitler selbst, der nach einem Gespräch mit Mussolini den Staatsstreich in Österreich befohlen hatte. Es gebe aber kein Indiz dafür, dass die Ermordung von Dollfuß seitens der Nazis geplant war. Hitler sei sich bewusst gewesen, dass für Mussolini die Ermordung von Dollfuß einen Affront ohnegleichen dargestellt hätte. Durch unglücklichen Zufall wurde Dollfuß sofort bei Besetzung des Kanzleramtes tödlich getroffen - laut Bauer der wichtigste Grund für das Scheitern des Putsches, der in den Bundesländern weiter entfesselt und verlustreich fortgeführt wurde.

Anhand der Ereignisse des Jahres 1934 lässt sich jedenfalls die Wirkungsmacht politischer Mythen exemplarisch verfolgen. Diese können mit historischem Abstand zu verblassen beginnen - und idealerweise auf allen Seiten Raum geben für eine zunehmend nüchterne Geschichtsbetrachtung.

Hitlers zweiter Putsch.

Dollfuß, die Nazis und der 25. Juli 1934. Von Kurt Bauer. Residenz, 2014. 312 S., geb., € 24,90

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung