"Ein Übel, aber das kleinere"

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Politologe anton pelinka und helmut wohnout, Historiker und Geschäftsführer des Karl Vogelsang-Instituts, zum 12. Februar 1934.

Die Furche: Sind 70 Jahre nach dem Bürgerkrieg die Wunden verheilt?

Anton Pelinka: Wunden sind keine mehr wirklich offen. Es gibt zwar Menschen, die persönliche Erinnerungen mit dem ersten Bürgerkrieg des Jahres 1934 verbinden, aber es gibt nicht mehr viele, die sich direkt als Opfer fühlen können. Daher ist es an der Zeit, sehr nüchtern und ohne Fragen nach Schuld, Mitschuld, geteilter Schuld den Fragen nach der Verantwortung nachzugehen.

Helmut Wohnout: In den 70er-Jahren dominierte die "Koalitionsgeschichtsschreibung". Mit ausgleichenden Schuldzuweisungen versuchte man, ein gemeinsames Geschichtsbild zu konstruieren. Überlagert wurde das Ganze von der Kontroverse "Ständestaat versus Austrofaschismus". Beides hat die Forschung hinter sich gelassen. Heute sieht man den Februar '34 eingebettet in die gesamteuropäische Entwicklung der 30er-Jahre hin zu autoritären Regimen.

Die Furche: Geht es um die Eigendefinition der beiden Lager, wird aber gerne auf diese Zeit zurückgegriffen.

Pelinka: Es gibt Emotionen auf beiden Seiten und sie werden weitergegeben, weil die Wahrnehmung des Bürgerkriegs politische Identität stiftet. Viel stärker bei der Sozialdemokratie, die ja in ihrer Wahrnehmung als Opfer nichts zu bedauern, zu bereuen und zu überdenken hat. Was ich als parteiliche Wahrnehmung verstehe, aber wissenschaftlich in dieser Form nicht akzeptiere.

Wohnout: Ein Fall von Emotionalisierung war er Regierungswechsel vor vier Jahren. Einen Vergleich zwischen 2000 und 1934 herzustellen, war in einer politisch-emotional geführten Kontroverse mit polemischer Absicht möglich. Mit einem wissenschaftlichen Diskurs hatte das nichts zu tun.

Pelinka: Vergleichen kann man schon, nur nicht gleichsetzen: 1934 war die Demokratie in Mittel-, Osteuropa fast überall erledigt, 2000 war die Demokratie gerade in dieser Region auf dem Siegespfad. 1934 hat es kaum Österreicher gegeben, die sich keinem der Lager zugeordnet haben, 2000 war ein Großteil nicht zuordenbar.

Wohnout: Es ist für mich nachvollziehbar, wenn das Jahr 1934 im politischen Alltag zu Polemiken führt. Mehr irritiert mich, wenn Intellektuelle leichtfertig damit umgehen. Beim Vorwurf Robert Menasses, wonach in Österreich im Gegensatz zur Entnazifizierung nie eine Ent-Austrofaschiszisierung stattgefunden hat, ist zweierlei problematisch: der leichtfertige Umgang mit historischen Tatsachen und die verharmlosende Gleichsetzung des Nationalsozialismus mit den autoritären Regimen der 30er-Jahre.

Pelinka: Mit dem Begriff Austrofaschismus wurde und wird zu leicht umgegangen. Menasse hat ja auch Jörg Haider in einer bestimmten Phase als Austrofaschisten bezeichnet. Für mich ist das eine Verharmlosung Haiders. Hier schwingt eine vulgäre Faschismustheorie mit, die alle Faschismen gleichsetzt. Der Nationalsozialismus als ein Faschismus unter anderen, ist völlig falsch. Der Nationalsozialismus war qualitativ mehr - durch die konsequente Ausrottungspolitik gegenüber dem europäischen Judentum. Ein allgemeiner Faschismusbegriff lässt diese wichtige Differenz verkommen.

Wohnout: Ich würde den Ständestaat als autoritäre Herrschaft mit starken Elementen einer Kanzler-Diktatur definieren, der konkurrenz- bzw. imitationsfaschistische Züge entwickelt hat. Genuin faschistisch war er sicher nicht.

Pelinka: Der Ständestaat war eine nicht totalitäre Diktatur. Es hat ja im Regime eine Art Pluralismus gegeben von konkurrierenden Quasi-Parteien. Und zu diesen Quasi-Parteien hat eine genuin faschistische Richtung gehört: der Mainstream der Heimwehr.

Die Furche: Eine Versöhnungsformel für 1934 lautet: Die einen waren zuwenig Demokraten, die anderen zuwenig Patrioten - stimmt das?

Pelinka: Es gibt mehr Patriotismus im Sinn von Österreich-Betonung bei den Christlichsozialen, und es gibt mehr Demokratie im Sinne von Verfassungstreue bei den Sozialdemokraten. Wenn man das als verschieden gewichtete Grautöne versteht, kann die Formel beibehalten werden.

Die Furche: Das "Linzer Programm" der Sozialdemokraten mit seiner Forderung nach der "Diktatur des Proletariats" widerspricht dem nicht?

Pelinka: Das ist für mich einer der strategischen Fehler der Sozialdemokratie, dass sie sich zur Abgrenzung gegenüber der Kommunistischen Partei einer Sprache bedient hat, die das Bürgertum in Schrecken versetzte. Aber bei aller Kritik: Realgeschichtlich wurde die Demokratie nicht von der Sozialdemokratie beseitigt.

Wohnout: Ich möchte auf ein Schlüsselereignis hinweisen: die Lausanner Anleihe 1932 - es ging um eine neue Völkerbund-Anleihe zur Budgetkonsolidierung. Die Sozialdemokraten waren nicht bereit, diesem Sanierungswerk zuzustimmen. Dieser tiefe Konflikt hat bei vielen Christlichsozialen und wohl auch bei Dollfuß dazu geführt, dass man begonnen hat, sich vom demokratischen Parlamentarismus abzuwenden.

Pelinka: Die Sozialdemokratie hat bis zur Aussschaltung des Parlaments am 4. März 1933 strategische Fehler gemacht. Hier ist von einer Mitverantwortung zu sprechen. Aber ab dem 5. März hat Dollfuß klar den Weg beschritten, von dem er nicht gewusst hat, wo er ihn hinführt; aber er hat genau gewusst, von wo es weg geht: vom Bundesverfassungsgesetzes 1920, vom Parteienstaat und vom Parlamentarismus. Die Sozialdemokratie hat nach dem 5. März immer wieder versucht, Kompromisse anzubieten. Aber bei aller Gesprächsbereitschaft - in der Substanz hat sich Dollfuß nie von seinem Weg, weg von der Demokratie, abbringen lassen. Ich sehe die tragische Zäsur in der Interpretation des 4. März durch die Regierung Dollfuß, die die Schiffe verbrannt hat und geglaubt hat, nicht mehr zurück zu können.

Wohnout: Dollfuß ist zweifellos unter dem Eindruck der deutschen Reichtstagswahlen vom 5. März gestanden, bei denen die NSDAP 43,9 Prozent der Stimmen errungen hat. Andererseits sind die militärischen Möglichkeiten der Sozialdemokratie aufgrund deren Rhetorik weit überschätzt worden. Dies hat auch zur Unverhältnismäßigkeit im Einsatz der militärischen Mittel im Februar '34 beigetragen.

Pelinka: Die Sozialdemokratie hat ihre nichtdemokratische Stärke maßlos überzeichnet. Das wird deutlich, wenn man anschaut, welcher Bürgerkrieg des Jahres '34 mehr Menschenleben gekostet hat: Das war der Juli '34, der so genannte Nazi-Putsch. Von der militärischen Seite war der Putsch für die Regierung der gefährlichere.

Die Furche: Warum hängt die ÖVP so an Dollfuß, dass sie nach wie vor sein Bild im Parlamentsklub hat?

Wohnout: Mit ihrer Frage insinuieren Sie, dass man in der ÖVP Dollfuß als einen Säulenheiligen verehrt. Die ÖVP hat nach 1945 ganz bewusst eine Diskontinuität zur Zwischenkriegszeit gesucht.

Die Furche: Warum setzt man aber gerade da auf Kontinuität?

Wohnout: Dollfuß wurde im Kampf gegen den Nationalsozialismus ermordet. Bereits im Herbst 1933 wurde er bei einem Schussattentat eines Nationalsozialisten im Parlament verletzt. Vielleicht ist es auch deshalb legitim, sich im Parlament - trotz seiner zweifellos antidemokratischen Linie - an ihn zu erinnern.

Die Furche: Nach dem 4. März 1933 ist das Parlament ein fraglicher Ort für ein Dollfuß-Gemälde.

Wohnout: Ich lade zu einer unvoreingenommenen Diskussion über Dollfuß ein. Engelbert Dollfuß war Hauptgegner und schließlich Opfer des Nationalsozialismus. Welcher der anderen europäischen Kleindiktatoren der dreißiger Jahre hat sich in einer mit Dollfuß vergleichbaren Weise dem Nationalsozialismus entgegengestellt?

Pelinka: Der Grieche Ioannis Metaxas, der hat auch Krieg geführt gegen die Deutschen.

Wohnout: Stellen wir Dollfuß' Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und auch die persönliche Tragik seiner Ermordung am 25. Juli 1934 in Rechnung. Auf der anderen Seite ist es angezeigt, über seine politischen Fehler nachzudenken und darüber, inwieweit dadurch die Widerstandskraft gegenüber dem Nationalsozialismus geschwächt wurde.

Pelinka: Ich teile den Appell, Dollfuß in seiner Ambivalenz zu sehen. Ich meine nur, dass es klüger wäre, sein Bild in der ÖVP-Zentrale hängen zu haben als im Parlamentsklub. Der 4. März 1933 macht das Parlament zu einem ungeeigneten Ort, um der positiven Seiten dieses ambivalenten Dollfuß zu gedenken.

Karl Kraus hat Dollfuß und den Ständestaat "das kleinere Übel" genannt. Beides stimmt: Es war ein Übel, weil es keine Demokratie war, den Verfassungsstaat, teilweise den Rechtsstaat, teilweise den Parteienpluralismus abgeschafft hat. Aber es war auch das kleinere Übel, verglichen mit dem, was im Hintergrund gestanden ist: das nationalsozialistische Deutschland, mit dem man es vergleichen muss, aber nicht gleichsetzen darf.

Das Gespräch moderierte Wolfgang Machreich.

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