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Otto Bauers Mitschuld

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Charles Gulick prägte nicht nur Amerikas Bild von Österreichs Geschichte, sondern unterdrückte auch eine ihm nicht genehme, jedoch historisch belegte Ansicht.

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Charles Gulick prägte nicht nur Amerikas Bild von Österreichs Geschichte, sondern unterdrückte auch eine ihm nicht genehme, jedoch historisch belegte Ansicht.

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Einst teilte ich vorbehaltlos die in den USA akzeptierte Ansicht, daß der Zusammenbruch der Demokratie in Österreich und der Bürgerkrieg vom Februar 1934 zur Gänze Bundeskanzler Dollfuß und seiner Partei anzulasten sei. Dann stieß ich auf zwei Dokumente, die meine Ansicht veränderten: Erstens auf den Text der Rede Otto Bauers am Parteitag im November 1931, wo er die Ab-

lehnung von Seipels Koalitionsangebot ausschließlich im Lichte gesellschaftlicher Entwicklungen rechtfertigte, welche die Prophe-tie von Karl Marx scheinbar bestätigten. Kurz gefaßt: „Der Kapitalismus bricht zusammen — also geht man in keine Koalition, in der man zum Partner des zusammenbrechenden Kapitalismus wird!“

Zweitens: Otto Bauers Artikel „Der 24. April“ in der Zeitschrift „Der Kampf“ vom Mai 1932 über die Ergebnisse der Landtags- und Gemeinderatswahlen in Wien, Niederösterreich, Salzburg, Steiermark und Kärnten. Dabei war Hitlers NSDAP von drei Prozent bei den Parlamentswahlen im November 1930 auf annähernd 20

Prozent gestiegen. Otto Bauer: „Die breiten kleinbürgerlichen und proletarischen Massen... können dem Faschismus verfallen. Sie können aber auch für uns gewonnen werden... Je stärker wir der rebellischen Stimmung Ausdruck geben... je entschlossener wir uns gegen die kapitalistische Welt abgrenzen, je entschlossener wir den Kampf gegen das Kapital, gegen seine Regierungen und seine Parteien, gegen sein ganzes wirtschaftliches, politisches und ideelles System führen ... einen desto größeren Teil der in Bewegung geratenen Massen werden wir an uns ziehen.“

Die Nationalsozialisten und die mit ihnen sympathisierenden Nationalratsabgeordneten verlangten Neuwahlen. Die Sozialdemokraten unterstützten die Forderung, da die Zusammensetzung

des im November 1930 gewählten Parlaments nicht mehr den Willen der Wähler spiegelte. Aufgrund der Ergebnisse der am 24. April 1932 abgehaltenen Wahlen war zu erwarten, daß die Sozialdemokraten etwas unter 40 Prozent erhalten würden, die Christlichsozialen unter 35 Prozent, der Landbund an die fünf und die Nationalsozialisten 20 bis 25 Prozent. Es ist nicht klar, wie sich die Sozialdemokraten die Bildung einer regierungsfähigen Mehrheit vorstellten.

Um Neuwahlen zu verhindern, bei denen ein arbeitsunfähiges Parlament gewählt worden wäre, zogen es die Christlichsozialen vor, die faschistische Heimwehr als Koalitionspartner zu akzeptieren. Der Eintritt der faschistischen Heimwehr in die Regierung besiegelte das Schicksal der De-

mokratie, doch wurde dadurch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Osterreich um fünf Jahre hinausgeschoben. Die Ablehnung der Sozialdemokratie, artikuliert von Otto Bauer, zwang die Christlichsozialen, entweder die Heimwehr oder die NSDAP als Koalitionspartner zu akzeptieren.

Im Licht der dokumentierten Stellungnahmen Otto Bauers änderte sich meine historische Perspektive grundlegend: Es ist weiter meine Meinung, daß die Schuld für den Zusammenbruch der Demokratie und den Bürgerkrieg von 1934 zur Gänze bei Dollfuß und seinen faschistischen Koalitionspartnern liegt—wenn man zum März 1933 zurückgeht. Die Politik der Sozialdemokraten in den Jahren 1931 und 1932 hatte jedoch den Christlichsozialen diese Koalition aufgezwungen. Damit rang ich mich zur Erkenntnis durch, daß meine Partei, der ich und meine Familie auf das engste“ verbunden waren, für weichenstellende Entscheidungen verantwortlich war, welche zur Katastrophe führten. Es fiel mir nicht leicht, dies zu akzeptieren.

Mein Doktorvater, Paul Felix Lazarsfeld, der gleichfalls aus der österreichischen Sozialdemokratie kam, empfahl die Veröffentlichung meiner 1955 bis 1957 an der Columbia University entstandenen Dissertation „The Political Parties of Austria“. Er erklärte sich von meinen Entdeckungen im Zusammenhang mit meinen Analysen von Wahlergebnissen besonders beeindruckt. Er akzeptierte auch meine kritischen Bemerkungen und Thesen über unsere alte Partei, was, wie er mir mitteilte, auch ihm nicht leicht fiel.

Die California University Press legte mein Manuskript Professor Charles Gulick zur Prüfung vor. Dieser war in den USA als Autor des Buches „From Habsburg to Hitler“ als Autorität für österreichische Politik der Zwischenkriegszeit anerkannt.

Charles Gulick war 1936/1937 mit einer Subvention von 5.000 Dollar von der Rockef eller-Foun-dation mit einer Studie der Lage in Österreich beauftragt worden. In Wien machte ein Mann der Regierung einen plumpen Bestechungsversuch, der nach hinten losging. Er schlug Gulick vor, dieser solle sich in Wien amüsieren, während ihm regierungstreue Akademiker beim Verfassen seiner Studien behüf lieh sein sollten. Zusätzlich würde er einen Druckkostenzuschuß von 2.000 Dollar erhalten. Gulick war entrüstet und verschrieb sich zur Gänze der im Untergrund arbeitenden Sozialistischen Partei. Seinen sozialistischen Mitarbeitern war es eine Genugtuung, daß sie ihrer unterdrückten Partei einen weittragenden Dienst leisten konnten. Gulicks Buch konnte die amerikanische Meinung entscheidend beeinflussen. Wir jubelten über Gulicks Erfolg.

Von ihm, den ich in Wien ken-

nengelernt hatte, erwartete ich zwar Kritik, aber nicht eine scharfe Ablehnung — zumal Professor Lazarsfeld die Veröffentlichung meines Manuskripts empfohlen hatte. Ich war daher überrascht und enttäuscht, als mir Gulick in einem sieben Seiten langen Brief mitteilte, welche Teüe meiner Arbeit er zur Veröffentlichung empfehlen werde - vorausgesetzt, ich würde jede Kritik an meiner alten Partei streichen. Nun war ich entrüstet. Schließlich hatte ich in meinem Manuskript die uneingeschränkte Meinungsfreiheit in

der österreichischen Sozialdemokratie ausdrücklich anerkannt. Dabei erklärte ich, daß diese uneingeschränkte Offenheit in Diskussionen die österreichischen Sozialdemokraten erfolgreich gegen totalitäre Dogmen immunisiert hat. Diese Tradition der Offenheit hat schließlich zum Widerstand der österreichischen Arbeiter gegen die Regime von Mussolini, Hitler und Stalin geführt, worauf jeder Sozialdemokrat stolz sein kann. Außerdem sind meine eigenen kritischen Fähigkeiten in offenen Diskussionen in dieser Partei — vor wie auch nach deren Unterdrückung — wesentlich gefördert worden.

Daher lehnte ich es ab, mich diesem Zensurversuch zu beugen. Folglich erschien meine Dissertation nicht als Buch. Dafür erschienen die Ergebnisse meiner Forschung über die österreichische Politik der Zwischenkriegszeit im Lauf der Jahre stückweise auf beiden Seiten des Atlantiks, in den USA, Kanada, England, den Niederlanden, der Bundesrepublik Deutschland und in Osterreich. Hier vor allem in der „FURCHE“. Meine Publikationen führten schließlich zu meiner Rückkehr nach Wien als Professor an der Universität.

Bei meinen Gesprächen mit Studenten überraschte mich anfänglich, in den früheren siebziger Jahren, wie wenig sie—bei ihrem großen Interesse für dieses Thema - darüber wußten. Leider wird wißbegieriges Interesse zunehmend durch Orientierung an lagerpatriotischen Geschichtsauffassungen verdrängt. Sie gehen zumindest zum Teil auf den Einfluß von Veteranen der drei Lager zurück, die in ihrer zweiten Kindheit in die Uberzeugungen ihrer ersten Kindheit zurückfallen. Sie sind attraktiv, weil sie einfach und leicht verständlich sind. Anhänger solcher Stereotypen sollten sich mit den Reden und Schriften Otto Bauers befassen — vor allem mit seiner Ablehnung des Koalitionsangebots im November 1931 und seinem Artikel über die Wahlergebnisse vom 24. Aprü 1932.

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