Eine Facebook-Revolution gibt es nicht

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Ihre Thesen bringen die Zeit auf den Punkt. Saskia Sassen sprach über Information und Wissen. An den Schnittstellen von formellem und informellem Wissen definiere sich die Gesellschaft neu.

Die arabischen Revolutionen der vergangenen sechs Monate haben in großem Maße vom breiten Medienzugang der Bevölkerung profitiert. Nach nur rund einem Monat folgten auf den Aufstand in Tunesien die Demonstrationen in Ägypten. Der arabische Fernsehsender Al Jazeera gab den Menschen auch in autoritären und diktatorischen Staaten Arabiens und Nordafrikas die Möglichkeit, Erfolge der demokratischen Bewegungen in den Nachbarländern live mitzuerleben. Über das Internet konnten sie schließlich schnell und spontan eigene Demonstrationen organisieren. Doch stattgefunden haben die Revolutionen auf den Straßen, unter dem Einsatz zahlreicher Leben. Laut der Richterkommission, welche die Ereignisse in Ägypten aufarbeitete, kam es während der Unruhen dort zu 6467 Verletzten und 846 Toten. Die physische Gewalt fand nicht online statt.

Die neuen Medien, die Globalisierung und die globale Kommunikation räumen zwar neue Möglichkeiten ein und folgen bisher unbekannten Regeln, dennoch: Gesellschaft und Vergesellschaftung folgen komplexeren Prozessen als es "Pageclicks“ oder "Facebook Gruppengrößen“ in Zahlen ausdrücken könnten. Die Mediengesellschaft findet nicht nur in den Medien statt.

Bei ihrem Vortrag im Rahmen der Hedy-Lamarr-Lectures in Wien, spürt die US-amerikanische Soziologin Saskia Sassen genau diesen Prozessen nach. Unter dem Titel: “Digital Formation of the Powerful and the Powerless: Local Actors in Global Politics” beleuchtet Sassen die Möglichkeiten und Funktionslogiken der Digitalisierung von Technologie und der Globalisierung von Kommunikation. Insbesondere betrachtet sie dabei die Unterschiede in der Nutzung dieser technischen Möglichkeiten zwischen mächtigen und scheinbar machtlosen gesellschaftlichen Akteuren.

Der Ort, an dem Gesellschaft passiert

Als sich Sassen Anfang 2011 in der Region aufhielt, manifestierte sich der Wandel in Kairo in der Organisation und Mobilisierung einzelner Stadtviertel. Die Freitagsproteste wurden zur regelmäßigen Institution. Gleichzeitig war kein Kopf der Bewegung als Führungsfigur auszumachen und so für das Regime greifbar. Dabei wurde offensichtlich: "The kind of space where sociality is made“, also der Ort, an dem Gesellschaft passiert, ist zwar nicht mehr wie vor 150 Jahren das Kaffeehaus, aber dieses ist auch nicht einfach eins zu eins durch Facebook, oder Google ersetzt worden. Es ist nach Sassen eher eine komplexe, ambivalente Sphäre zwischen den Welten. Diese Welt wird durch technologische Entwicklungen zwar begrenzt, aber nicht durch diese zum Leben erweckt. Mit anderen Worten: Wir können zwar nur erreichen, was unsere Technologie uns ermöglicht, die Technologie schreibt aber nicht vor, wie wir sie nutzen müssen.

Unterschiedliche Akteure nutzen die technologischen Möglichkeiten von Technologien unterschiedlich. Für alle Nutzer des Internets bestehen zwar potenziell die Möglichkeiten der Dezentralisierung, der Simultanität und der Dynamik von Wissen und Kommunikation. Was Nutzergruppen jedoch aus diesen Möglichkeiten machen und welche sie überhaupt nutzen, bleibt ihnen selbst überlassen. Genau wie sich jeder Smartphone-Nutzer entscheiden kann, ob er mit seinem Telefon mailt, surft, kopiert, druckt, navigiert, ob er damit nur telefoniert, oder Bierflaschen öffnet. In diesem Sinne gibt Sassen zu bedenken: Während die Zivilgesellschaft das Internet für gewöhnlich nutzt, um mehr Partizipation lokaler Akteure im globalen Kontext zu ermöglichen und eine supranationale öffentliche Sphäre zu schaffen, agiert die globale Hochfinanz mit denselben Möglichkeiten gänzlich anders. Unter dem Wahlspruch "I can take your money everywhere“, sammelt das Finanzzentrum London finanzielle Mittel aus der ganzen Welt ein und bringt sie nach London. So werden Geld und Entscheidungsmacht konzentriert. Hochfinanz und zivilgesellschaftliche Akteure kommen von unterschiedlichen Orten und haben unterschiedliche Ziele. Vor diesem Hintergrund nutzen sie die gleiche Technologie mit verschiedenem Ergebnis. Die Mittel sind in beiden Fällen dieselben, das Ergebnis komplett konträr. Doch wie kam es zu dieser Dezentralisierung bei gleichzeitiger Integration des sozialen Lebens?

Der Moment der Instabilität

Technologie kann die Strukturen von Wissen aufbrechen und infrage stellen. Sie macht die Grenzen und Regeln unseres Wissens offensichtlich. Das Wissen darüber, wie Information organisiert ist, wird in diesen Momenten instabil. Ein solcher Moment war zum Beispiel spürbar, als Google noch in der Entwicklung steckte und die spätere Form noch nicht festgelegt war. Oder als offensichtlich wurde, dass sich das ägyptische Regime nicht mehr wird halten können, aber sich ein neues System noch nicht abzeichnete. In diesen Momenten wird Wissen informell, es ist nicht institutionalisiert oder zentral organisiert. So können sich Patienten heute vor ihrem Arztbesuch detailliert im Internet über ihr Krankheitsbild und ihre Therapiemöglichkeiten informieren. Migranten können das komplexe Feld des Fremdenrechts auf ihren Fall hin durchforschen, auch wenn sie sich keinen Anwalt leisten können.

Der leichtere Zugang zu Information gibt dem Einzelnen mehr Möglichkeiten, kann aber zum Problem werden, wenn etwa der Arzt nicht mehr in der Lage ist, effektiv zu arbeiten. Diese Entwicklung ist manchmal positiv, manchmal negativ und wie Sassen sagen würde, "oft in der schmutzigen Mitte“. Informationen sind unschuldig und neutral. Werden sie zu institutionalisiertem Wissen, sind sie das nicht mehr. Den Moment, in dem sich formale Strukturen auflösen, aber neues formalisiertes und kanonisiertes Wissen über die soziale Welt noch nicht festgelegt ist, findet Sassen als Sozialwissenschaftlerin besonders interessant. Hier handelt sich Gesellschaft neu aus.

So finden sich die vermeintlich Machtlosen und Unterdrückten heute in einem Zustand der Ambivalenz wieder. Sassen sagt dazu: "The powerless find themselves in a state where the powerlessness becomes complex.“ Nicht mehr nur Macht zählt heute in gesellschaftlichen Diskursen, sondern die Bedeutung der Stimme der eigenen Position, "significance“. Dabei spielt Digitalisierung eine bedeutende Rolle, aber nicht die einzige. Die technischen Neuerungen der Digitalisierung und der medialen Kommunikation schaffen von sich aus noch überhaupt keine Veränderung, erst deren Organisation und Kontextualisierung in sozialer Praxis sorgen für Bewegung.

Der Kultur- und Gesellschaftswandel ist demnach nicht gut oder schlecht. Er ist die Realität in der wir leben und bekommt erst in den Ausformungen, die wir ihm als Gesellschaft und Institutionen geben, eine ethische Dimension. Revolutionen werden immer noch auf der Straße entschieden.

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