„Ebenen der Stille“ - Michael Krüger widmet sich in seinen Gedichten dem leisen Leben mit der Natur. Sabine Gruber und Lutz Seiler hingegen reflektieren Orte und Erfahrungen ihrer Kindheit. - © Foto: iStock/miljko (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Lyrischer Herbst: „Das Schöne ist immer eine Atemlosigkeit her“

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Neue Lyrik von Christoph W. Bauer, Sabine Gruber, Ulrich Koch, Michael Krüger und Lutz Seiler. Eine Einladung, sich wieder einmal Gedichten zu widmen.

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Neue Lyrik von Christoph W. Bauer, Sabine Gruber, Ulrich Koch, Michael Krüger und Lutz Seiler. Eine Einladung, sich wieder einmal Gedichten zu widmen.

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Wenn es um die Arbeit mit der Sprache geht, kommt der Lyrik wohl der Status der Königsdisziplin zu. Beim Lesepublikum nimmt sie heute aber meist nur mehr ein Schattendasein ein. Zu spröde, zu widerständig, zu unzugänglich, heißt es meist. Umso mehr ist zu schätzen, dass den Gedichten aller wirtschaftlichen Widrigkeiten zum Trotz noch immer besonderer Raum gewidmet wird. Dass sich das jedenfalls lohnt, bestätigt ein Blick auf ausgewählte Werke.

Die in Meran geborene Autorin Sabine Gruber hat bei Haymon Journalgedichte mit dem Titel „Am besten lebe ich ausgedacht“ publiziert. Entlang des zeitlichen Bogens von März bis September geht es neben existenziellen Grunderfahrungen um poetische und gesellschaftskritische Alltagsbilder. Zum Charakter des Journals gehört auch Aktuelles abseits der Poesie wie etwa ein Messerattentat auf der Praterstraße. Vom „schwarzen Schnee“, den Toten und Verschwundenen baut Gruber unvermutet eine Brücke zu den „Lichtflächen“ des Himmels: „Zwei unter einer Sonne, mit / Nichts als glücklosen Seitensprüngen / In eine neue Zeit“. Ihre Eindrücke von Reisen durch Italien und Südtirol sind geprägt von Sehnsucht, Kindheitserinnerungen, Reflexionen oder auch Wut über die „Toten im Meer“, die man nicht verhindert hat. Menschen vergessen, wenn die Zeit verrinnt, verfliegt: „Leichentücher / Sind unsere Segel“. Dazwischen blüht in Wien der „Quarantäneflieder“. Liebe, sinnliche Wahrnehmungen und Schreiben, „um zu leben“, sind wichtige Linien in der Lyrik dieser Wortkünstlerin. Neben ihrem Blick auf gesellschaftliche Wunden verrückt Gruber Gewöhnliches auf der Suche nach dem Aroma des Glücks.

Quarantänegedichte

Der deutsche Autor und ehemalige Verleger Michael Krüger nützt die Lyrik gewissermaßen auch als Journal. Seit der Pandemie hat er sich aus gesundheitlichen Gründen in ein Holzhaus beim Starnberger See zurückgezogen. In dieser Zeit entsteht eine Art Prosalyrik. Diese Quarantänegedichte sind zuerst im Magazin der Süddeutschen Zeitung und dann bei Suhrkamp unter dem Titel „Im Wald, im Holzhaus“ erschienen. In der Abgeschiedenheit ändert sich Krügers Wahrnehmungsfokus. Er richtet sich „auf die Ebenen der Stille“ und konzentriert sich auf das Detail, das leise Leben mit der Natur und mit der Abschottung. Viele neue Wörter kommen daher, der dem Menschen zugedachte Sozialraum wird kleiner, enger: „die Welt muss ohne Menschen auskommen.“ Symbolisch spiegelt sich die Situation im kleinen Fensterausschnitt wider, der die soziale Einschränkung bildlich unterstreicht. Zwischen persönliche Gesundheitsdaten und die präzise Dokumentation der Naturmetamorphosen schieben sich Coronameldungen. Diese sensiblen, mitunter tagebuchartigen Texte prägen reflexive Passagen, Vanitas-Motive, umfangreiche Lektüreimpulse, Alltagsaktivitäten und Einsamkeitsbilder.

Völlig anders geht der deutsche Autor Lutz Seiler mit dem Stoff der Realität um. In seinem Lyrikband „schrift für blinde riesen“ skaliert er Erfahrungen und Orte seiner Kindheit, aber auch Sedimente der Zeitgeschichte in einem neuen Kontext. Dies ruft Erinnerungen wach: das Rauchen im einstigen „Knochenpark“ oder das Kleben des Insel-Almanachs angesichts des Morgengrauens. Der „Ahnenapparat“ macht Veränderungen bewusst: „still / & sehr verlegen sind / meine ahnen in der erde / wenn sie in den himmel blinzeln“. Anmerkungen am Schluss fungieren als nützliche Kurzkommentare zu einigen Texten, weil sie historische Schichten und literarische Dialogizität freilegen, die hier mit verschwenderischer Leichtigkeit eingesetzt wird. Immer wieder spielt Seiler in Form von Anreden an sich selbst mit der Autofiktion. Neben der lyrischen Reise zu den Stätten der Kindheit folgt er auch zahlreichen mythischen Spuren. Zum Teil stößt man auf Hermetisches, dann wieder auf eine poetische unverbrauchte Traumsprache. Die Mehrdeutigkeit inspiriert und lädt zum Verweilen ein bei den Knister- und „Raschelworten“ und den „ungelösten fragen“, wenn man „das drehmoment der fernsten / sterne auf der haut“ verspürt.

Magische Sentenzen

Einen philosophisch-reflexiven Zugang zum Alltag und zur Natur wählt der deutsche Autor Ulrich Koch in seinem Band „Dies ist nur ein Auszug aus einem viel kürzeren Text“. Momente, lyrisch festgehalten – „Das Schöne ist immer eine Atemlosigkeit her“ –, reihen sich als magische Sentenzen oder kritische Beobachtungen aneinander. Leben und Schreiben verschmelzen und durchdringen osmotisch die Wahrnehmungs- und Gedankenwelt, weil die eine in die andere hinüberfließt. „Wir sind nie verloren ohne Rettung, / solange wir schreiben, verloren, um Rettung.“ Dabei sind die Ansprüche groß, denn Gedichte müssen vieles sein, fast Widersprüchliches erfüllen, auf jeden Fall „einzigartig“ und ein bisschen ähnlich sein. Daher gibt es sogar einen zarten Anklang an Rilke oder Eichendorff. Völlig banale Wahrnehmungen wechseln einander ab mit losen Inspirationen und Reflexionsketten. Das Staunen (thaumazein) mündet hier in einen Modus der Selbstvergewisserung. Kontroverses, Widerständiges, Inkohärentes werden bei Koch zum Programm. Und weil die „Zeit nie unpünktlich“ ist und „geduldig auf die nächste Sekunde“ wartet, „in der sie vergeht“, wird auch die „Sehnsucht“ zur „exaktesten Wissenschaft“.

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