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Soziale Umschichtung

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Das Währungsschutzgesetz war in den letzten Wochen das beherrschende Thema der Öffentlichkeit. In Zustimmung und Ablehnung trat keine deutliche Scheidung nach bestimmten „Klassen“ zutage. Anhänger wie Gegner der gesetzgeberischen Maßnahmen fanden sich sowohl in den Reihen der Arbeitgeber wie in denen der Arbeitnehmer. An diesem Beispiel eines tief in das wirtschaftliche Leben und in die Existenz jedes einzelnen' eingreifenden finanzpolitischen Gesetzes offenbarte sich so wieder die auch sonst deutlich erkennbare Tatsache, ~ daß die sehematisien alten Klassenbezeichnungen, voran die Schlagworte von „Bourgeoisie“ und „Proletariat“, längst nicht mehr der sozialen Wirklichkeit unserer Zeit entsprechen. Aus der Frage nach der Brauchbarkeit der Terminologie aber erwächst die weitere und entscheidende Frage, ob das Denken, das einst diese Terminologie geprägt hat, unserer gegenwärtigen Situation noch gerecht werden kann.

Die Betrachtung des gesamten geschichtlichen Geschehens unter dem Blickpunkt der Klassengegensätze hat ihre schlagkräftigste und wirkungsvollste Formulierung vor nunmehr hundert Jahren im „Kommunistischen Manifest“ gefunden, das Karl M a r-x und Friedrich Engels an der Wende 1847/48 im Auftrag des „Bundes der Kommunisten“ in London verfaßten. In diesem glänzend stilisierten Manifest von wahrhaft weltgeschichtlicher' Bedeutung, auf dem alle späteren Programme marxistischer Parteien aufbauten, ist im Keime bereits die ganze später.im „Kapital“ und in anderen Schriften entwickelte Theorie des „wissenschaftlichen Sozialismus“ enthalten, vor allem der — wie Engels später erklärte — von Marx stammende Grundgedanke, daß „die ganze Geschichte eine Geschichte, von Klassenkämpfen gewesen ist, Kämpfen zwischen ausgebeuteten und ausbeutenden, beherrschten und herrschenden Klassen auf Verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung; daß dieser Kampf aber jetzt eine Stufe erreicht hat, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das Proletariat) sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien kann, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien“ (Vorrede von 1883).

?Die scharfe Sonderung der Klassen, die Marx und Engels von dem genialen Soziologen Lorenz vom Stein übernahmen, verdankt ihre Entstehung zunächst der Weiterbildung und Umformung der Dialektik und Geschichtsphilosophie Hegels, die auf Stein wie auf Marx und Engels und auf ihre ganze Generation einen übermächtigen Einfluß ausübte. Doch darf nicht übersehen werden, daß diesem Denken in „Stufen“ und Antithesen die tatsächlichen sozialen Verhältnisse weitgehend entsprachen, in jener Zeit, da die industrielle Revolution neben die alte adelig ständische Gesellschaft die beiden selbst wieder scharf voneinander getrennten Klassen eines kapitalistischen Bürgertums und eines industriellen Proletariats stellte. So entsprach die scharfe horizontale Klassenschichtung der junghegelianischen Gesellschaftslehre doch weitgehend der damaligen Wirklichkeit.

Wenn Marx und Engels selbst schon ein .Vierteljahrhundert später in der Vorrede von 1872 feststellten, daß wegen der Umgestaltung der politischen Lage Teile des Manifest« veraltet seien, so haben sich heute, nach dem Ablauf eines vollen Jahrhunderts, die Verhältnisse so grundlegend geändert, daß man auch von Marx und seinem Werk das sagen konnte, was Uer große holländische Historiker J. Huizinga schon 1930 von dem mit Marx gleichaltrigen J. Burckhardt gesagt hat: daß er längst zu den Meistern gehöre, „die erhaben sind über den Gegensatz von recht oder nicht recht haben“.

Die immer weiter fortschreitende Vertiefung des Klassengegensatzes zwischen „Bourgeoisie“ und „Proletariat“, die Mar» durch die gleichfalls gesetzmäßig anwachsende Akkumulation und Konzentration des Kapitals einerseits, die ebenso immer weitergehende Verelendung der Arbeitermassen andererseits, voraussagte, ist nicht eingetroffen. Vor allem haben sich die rnittleren Schichten, deren völlige Vernichtung zwischen den beiden Klassen prophezeit wurde, doch weitgehend zu halten vermocht. So hat etwa der Klein- und Mittelbetrieb in den wirtschaftlichen Umwälzungen unseres Jahrhunderts eine beachtliche wirtschaftliche — und was vielleicht noch wichtiger ist — soziale Krisenfestigkeit bewiesen, während die überdimensional organisierte, auf Massenproduktion abgestellte Industrie ihre Verwundbarkeit in Absatz-, Rohstoff- wie auch besonders in sozialen Krisen deutlich gezeigt hat. Aber selbst dort, wo die wirtschaftlichen Katastrophen im Gefolge zweier Weltkriege die finanziellen Grundlagen des Mittelstandes vernichtet haben, ist ein soziologisch bedeutsamer zäher Wille zu erkennen, am kulturellen und geistig-sittlichen Erbe festzuhalten. Gewiß haben diese Schichten, die ihre Ersparnisse schon lange eingebüßt haben und deren einziges Kapital eben jenes Erbe sowie ihre geistigen Fähigkeiten, ihre Arbeitskraft und die erworbene Bildung darstellen, rein materiell gesehen, längst „nichts mehr zu verlieren“ — was ja eben jetzt wieder bei der geplanten Währungsreform deutlich wird Nach marxistischer Terminologie würden sie daher eigentlich zum „Proletariat“ gehören, von dessen Mehrheit sie sich aber eben doch durch dieses Festhalten an den ererbten Kulturgütern unterscheiden. Dabei kommen ihnen nun neue Mittelstandsgruppen entgegen, die durch die wirtschaftliche und kulturelle Hebung der Arbeiterschaft immer wieder aus der Ma^e des „Proletariats“ ausgeformt werden. Einerseits durch die Arbeiterbewegung selbst, die die von Marx prophezeite Verelendung- nicht abwarten wollte, durch Gewerkschaften und Genossenschaften, durch Arbeiterbildung und Arbeitersport usw. emporstrebte, andererseits aber durch die soziale Gesetzgebung und andere Maßnahmen des Staates und der Gemeinden, bei uns in Österreich etwa durch die sozial vorbildlichen niedrigen Schul- und Studiengebühren, haben sich aus der Arbeiterschaft auf dem Wege des sozialen Aufstiegs einzelner und ganzer Gruppen immer wieder neue Mittelstände herausgebildet. Es ist ein großer durchgehender Prozeß unseres Jahrhunderts, der sich in allen Ländern und sogar unter allen politischen Regimen vollzogen hat, im Österreich der ersten Republik ebenso wie in Frankreich oder Italien, in der Weimarer Republik ebenso 1 wie unter dem Nationalsozialismus, in der kommunistischen Sowjetunion wie im kapitalistischen Amerika — ganz zu schweigen von England, dessen alte Gesellschaft ihre bewährte Anpassungs- und Assimilationskraft wie einst gegenüber dem Bürgertum so nun auch gegenüber Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung gezeigt hat. Denn vor allem dort, wo die Arbeiterschaft die Verantwortung für den Staat und die politische Macht ganz oder teilweise übernommen hat, ist dieser Aufstieg einzelner Gruppen aus Arbeiterkreisen in der Form der „Verbürgerlichung“ naturgemäß besonders deutlich zu beobachten.

Zugleich mit diesem Aufstieg von Teilen der Arbeiterschaft vollzog sich doch auch Bei der „Bourgeoisie“ ein Umwandlungsprozeß, den Marx und Engels mit der Feststellung, daß „ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat übergehe“, wohl vorausgeahnt^ aber eben doch wieder allzu vereinfachend in ihr Zweiklassenschema eÄgereiht haben. Denn die kapitalistische Bourgeoisie, wie sie Marx und Engels noch vor hundert Jahren so anschaulich vor Augen gehabt haben, besteht in dieser ungehemmt individualistischen Form nicht einmal mehr im Paradies 'des freien Unternehmertums, in den Vereinigten Staaten, Selbst dort ist die Zeit der großen Industriemagnaten und der großen Trusts, die Zeit der „Giganten“ und „Saurier“ vorbei — auch dort wieder durch das Zusammenwirken von sozialer Gesetzgebung und Gewerkschaftsbewegung. Zudem tritt auch in der Privatwirtschaft das in der staatlichen Organisation so übermächtig ausgebildete bürokratische Element immer stärker in Erscheinung, die „Manager“, die Schicht der Organisatoren, Techniker und Angestellten, die ganze Stufenleiter der „Bosses“, vom Vorarbeiter bis zum Generaldirektor. So konnte der amerikanische Soziologe Burnhan. von einer „Revolution der Manager“ sprechen („The Managerial Revolution“), die er im bolschewistischen Rußland, im nationalsozialistischen Deutschland und im kapitalistischen Amerika in gleicher Richtung am Werke sah. In Amerika hat ja die schroffe Klassentrennung, die im Europa des 19. Jahrhunderts aus der Begegnung der mittelalterlich-ständisdien Sozialordnung mit der industriellen Revolution erwachsen ist, auch zur Zeit der ärgsten hochkapitalistischen Auswüchse, zumindest auf gesellschaftlichem Gebiet, nicht mehr bestanden, und in dieser grundsätzlich anderen Stellung des Handarbeiters, dem zugleich auch weitere Aufstiegsmöglichkeiten offenblieben, mag man einen Grund dafür sehen, daß der Marxismus in Amerika nicht festen Fuß fassen konnte. Dieses selbe Fluktuieren &#171;wischen den einzelnen Gesellschaftsschichten ist aber heute, nach zwei Weltkriegen, auch im alten Europa weitgehend festzustellen. <gg

Eine sehr wesentliche, meist wohl viel zu wenig beachtete Rolle bei dieser Auflockerung der Klassengegensätze spielte die stille, aber so überaus tiefgreifende Revolution, die sich durch den Eintritt der Frau ins bürgerliche Berufsleben vollzog. Wird doch haute auch in bürgerlichen Häusern die Berufstätigkeit der Mädchen schon lange nicht nur als eine materielle, sondern auch als eine moralische Forderung angesehen. Durch diese Berufstätigkeit aber kommen Eheschließungen zwischen Angehörigen verschiedener Klassen zustande, die zu einer Zeit, da das „Mädchen aus- gutem Hause“ bei Klavierspiel, Handarbeiten und Französisch auf die standesgemäße Partie war-'tetc, noch undenkbar schienen. Dies führt dann wieder zu der in unserer Zeit radikaler Umschichtungen auch sonst häufigen Erscheinung, daß Mitglieder derselben Familie, Väter und Söhnet Geschwister und Vettern, beruflich und materiell ganz verschiedenen Gruppen und damit, rein wirtsdiaftlich gesehen, auch verschiedenen „Klassen“ angehören. Auch die heute b'ei Unternehmern wie bei Arbtätern doch schon weitverbreitete Erkenntnis, daß das wirtschaftliche Interesse von Arbeitgeber und Arbeitnehmer keineswegs immer entgegengesetzt ist, sondern — gerade in Preis- und Währungsfragen — sehr oft übereinstimmt, wirkt sich im Sinne deiner Lockerung der Klassenschranken aus.

All das hat zu einer weitgehenden Durchbrechung der alten Klassengegensätze geführt, zur Bildung der verschiedensten Zwischenschichten und Überschneidungen, zu einem wesentlich freieren Fluktuieren zv/ischen den einzelnen Bevölkerungsschichten. Um dieser ständigen Bewegung gerecht zu werden, geht auch die moderne Soziologie immer mehr von der überholten etikettierenden f und schematisierenden Methode ab, die ihr einst nicht ganz unberechtigt den Spitznahmen der „Wortmaskenverleihanstalt“ eingetragen hat, und sucht die dynamischen Vorgänge der Gnippenbildung und der wechselnden Ubergänge zwischen diesen Gruppen mit Methoden zu erforschen, die denen der anderen Wissenschaften und darüber hinaus überhaupt den Denkformen unserer Zeit entsprechen.

Für den Bereich der praktischen Sozialpolitik aber ergibt sich aus dem Rückblick auf die Entwicklung d*r letzten hundert Jahre die Erkenntnis, daß der Weg der stattlichen Sozialreform einerseits, der ge-, werkschaftlichen Selbsthilfe andererseits tatsächlich zu einer Auflockerung der Klassengegensätze geführt hat und auch weiterhin in dieser Richtung führen wird, weshalb die soziale Gesetzgebung min erst recht vornehmste Pflicht jeder verantwortungsbewußten Politik sein muß. Allerdings darf diese Sozialreform nicht allein dort ansetzen, wo mit den stärksten wirtschaftlichen Druckmitteln die Forderung nach Reformen vertreten wird, das heißt sie darf sich nicht allein auf die organisierte Fabrikarbeiterschait beschränken. Denn hinter allen „Ständen“ und „Klassen“ er* kennen wir&#187; beute doch wohl deutlicher alj je den lebendigen Menschen, den „Nächsten“, der gerade in dieser Notzeit das Objekt aller sozialen Arbeit sein muß.

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