Tradition und ZEITGEIST

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Martin Werlen OSB kritisiert, dass in der Kirche allzu oft Traditionen mit "Tradition" verwechselt werden. Das war auch bei der Synode in Rom so.

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Martin Werlen OSB kritisiert, dass in der Kirche allzu oft Traditionen mit "Tradition" verwechselt werden. Das war auch bei der Synode in Rom so.

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Zwölf Jahre lang - von 2001 bis 2013 - war Martin Werlen der 58. Abt des Benediktinerklosters Einsiedeln und Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz. Der 53-Jährige ist seither wieder "einfacher" Mönch und wirkt als Novizenmeister, Lehrer sowie geistlicher Begleiter. Beim Österreichischen Ordenstag 2015, der am 24. Oktober im Wiener Kardinal-König-Haus stattfindet, wird Pater Martin als Hauptreferent sprechen.

DIE FURCHE: Gerade ist die Familiensynode zu Ende gegangen. Einer der Punkte der Kontroverse dort war die Frage der Tradition. Vor allem die Exponenten des konservativen Lagers haben ins Treffen geführt, man könne die Tradition in der Kirche gerade in Bezug auf die Ehe- und Familienlehre nicht ändern.

P. Martin Werlen: Das zeigt, wie wichtig es ist, das Sprechen über Tradition genauer anzuschauen. Tradition ist in der Theologie ein wichtiger Begriff. Aber meistens, wenn wir auch in kirchlichen Kreisen von Tradition sprechen, hat es nichts mit Tradition zu tun, sondern mit Traditionen, wie der französische Konzilstheologe Yves Congar sagt. Traditionen sind wichtig. Sie sind Ausdruck des Zeitgeistes, aufgrund von bestimmten Erfahrungen, die Sicherheit und Heimat geben. Aber solche Traditionen müssen aufgegeben werden, wenn sie der Tradition, also der Treue zu Jesus Christus, im Wege stehen. Das heißt, dass man Liebgewonnenes wieder loslassen muss. Vieles, was wir heute selbstverständlich als Tradition bezeichnen, ist nicht Tradition, sondern sind Traditionen.

DIE FURCHE: Das Wort Zeitgeist ist das zweite Reizwort: Die Tradition gilt als etwas Hehres, der Zeitgeist als etwas Böses.

Werlen: Zeitgeist ist etwas, was eine Zeit auszeichnet. Zum Beispiel sind die Kirchenbauten Ausdruck von Zeitgeist. Barock ist Zeitgeist, Gotik ist Zeitgeist. Es drückt die Mentalität der Menschen in dieser Zeit aus. Und von dem dürfen wir uns auch inspirieren lassen. Aber wenn durch den Zeitgeist entstandene Traditionen der Tradition der Weitergabe unseres Glaubens im Wege stehen, dann müssen wir sie loslassen. In meinem Buch "Heute im Blick" zitiere ich Erzbischof Georg Gänswein, den Privatsekretär des emeritierten Papstes Benedikt, der zur Weigerung von Papst Franziskus, die roten Papstschuhe anzuziehen, gemeint hat: "Klar, das ist auch eine Frage der Ästhetik. Aber es war vergebliche Liebesmüh zu versuchen, ihn zu überzeugen, dass es möglicherweise nicht nur aus Gründen der Optik, sondern auch der Tradition richtiger wäre, sich in die Linie seiner Vorgänger zu fügen." Das hat aber nichts mit Tradition zu tun! Die Schuhe sind ein Überbleibsel der roten Kleidung der Kaiser. Das ist ins 21. Jahrhundert geretteter Zeitgeist. Und es ist peinlich, wenn der Zeitgeist vergangener Jahrhunderte verteidigt wird, um nicht auf den Zeitgeist unserer Zeit zu antworten. Vor allem in Internetforen von konservativer Seite kann man das verfolgen: Derartiger Umgang mit den Traditionen ist verheerend.

DIE FURCHE: Das ist dann Traditionalismus?

Werlen: Traditionalisten sind Leute, die Traditionen zur Tradition erklären. Dann darf sich selbstverständlich nichts ändern. Und die gleichen Leute beten: Sende aus deinen Geist, und alles wird neu. Sie realisieren nicht, dass sie sich selber widersprechen.

DIE FURCHE: Als Benediktiner gehören Sie dem ältesten Mönchsorden an. Sie haben also auch viel mit Tradition am Hut.

Werlen: Die Frage der Unterscheidung von Traditionen und Tradition trifft auch die Orden. Auch sie müssen Traditionen, die der Tradition im Wege stehen, loslassen können.

DIE FURCHE: Die Bischofssynode zu Fragen von Ehe und Familie ist nun vorbei. Was hat sie gebracht?

Werlen: Was ich speziell beim deutschen Sprachzirkel gelesen habe, hat mich sehr beeindruckt, etwa eine Vergebungsbitte ...

DIE FURCHE: in der das Leid angesprochen wird, das die Kirche an ledigen Müttern, unehelichen Kindern, Geschiedenen oder auch Homosexuellen angerichtet hat ...

Werlen: und das von allen, also auch von Kardinal Gerhard Ludwig Müller, unterschrieben wurde. Das zeigt, dass die Kirche auf dem Weg ist. Leider haben es diese Äußerungen nicht ins Schlussdokument geschafft. Aber ich habe die Hoffnung, dass Papst Franziskus gerade dies aufnehmen wird, weil es eigentlich das ist, was er angeregt hat: Eine kreative Kirche sein, um Vergebung bitten, wo wir Menschen schwer verletzt haben - genau das tut der deutsche Sprachzirkel. Es war tragisch, dass vor der Synode Kirchenleute, sogar Kardinäle und Bischöfe, dazu aufgerufen haben, man solle beten, dass sich nichts verändert. Das ist eigentlich ein Zeugnis gegen den Glauben.

Wenn alles beim Alten bleiben muss, dann bräuchte man nie ein Konzil, nie eine Synode. Papst Franziskus hat das am 17. Oktober bei der 50-Jahr-Feier der Bischofssynode in aller Deutlichkeit gesagt: Die Synode ist ein Synonym für Kirche -gemeinsam auf dem Weg zu sein. Wenn ich die Synode im Rückblick anschaue, dann ist das ein erster wichtiger Schritt gewesen. Selbstverständlich gibt es vieles, das fehlt, dass Frauen nicht abstimmen konnten etc. Aber es ist ein beeindruckender erster Schritt.

DIE FURCHE: Hatte sich die Kirche nicht in eine Sackgasse manövriert - etwa beim I. Vatikanum, das den Primat des Papstes so stark betont hat? Man könnte ja auch da meinen, die Kirche habe die Tradition gar nicht wirklich in den Blick genommen, weil ja es ja in der Kirchengeschichte ganz andere Entwicklungen gegeben hat - Konzilien, Synoden etc.

Werlen: Auch die Dogmatisierungen haben etwas mit dem Zeitgeist zu tun. Sie wurden immer gemacht, wenn irgendetwas in Gefahr war. Man muss auch eine Konzilsentscheidung oder ein Dogma in diesem Kontext wahrnehmen. Die Zentralisierung beim I. Vatikanum ist Anbetracht des Zeitgeistes ein Stück weit nachvollziehbar. Aber zur Tradition der Kirche gehört ganz klar auch die Synode, das Miteinander-unterwegs-Sein. Auf der Familiensynode wurde da wirklich ein Weg sichtbar. Ich war sehr beeindruckt, wie Papst Franziskus eingegriffen hat, nachdem er einen Brief erhalten hat, der den Modus der Synode kritisierte. Er sagte: Nein, an der Methode ändern wir nichts, wir beginnen nicht wieder bei Adam und Eva. Man sieht aber auch, wie viele Menschen damit Mühe haben, auch viele, die sich selbst als sehr kirchlich wahrnehmen.

DIE FURCHE: Aber man muss auch die Erfahrung des II. Vatikanums sehen, wo schon vieles geschehen ist, das Sie an der eben zu Ende gegangenen Synode so loben. Nach dem Konzil haben wir erlebt, dass die, die Angst gehabt haben, die, die bewahren wollten, die Oberhand bekommen haben.

Werlen: Darum ist es so wichtig, den Papst im Anliegen zu unterstützen, einen Prozess in Gang zu bringen. Würde Franziskus jetzt einfach von oben herab sagen: es wird so gemacht, würde das nichts an der Kultur in der Kirche verändern. Wichtig ist, dass die ganze Kirche mit auf den Weg geht. Das heißt, dass wir auch versuchen, einander mitzunehmen. Wir müssen nicht alle die gleiche Meinung haben, aber wir dürfen nicht akzeptieren, dass die Kirche nach außen vertritt, es dürfe sich nichts mehr ändern. Das ist nicht christlich, das ist nicht katholisch. Und wir müssen versuchen, Menschen nicht für uns und unsere liebgewonnenen Traditionen zu gewinnen, sondern für Christus.

Heute im Blick

Provokationen für eine Kirche, die mit den Menschen geht. Von Martin Werlen. Herder 2015.192 Seiten, geb., € 15,40

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