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Der Selbstmord des lieben Lesers

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In der „Furche“ schrieb kürzlich ein „junger Oesterreicher“, wie ihn die Redaktion nannte, über die Verflachung der österreichischen Presse und meinte, es möge dahingestellt bleiben, ob das Publikum oder die Zeitungen daran die Schuld trügen.

Warum dieses Ausweichen? Allgemeine Beschuldigungen geben den Beteiligten immer die Möglichkeit, sich nicht betroffen zu fühlen und die Schuld dem anderen zuzuschieben. In diesem Falle sind die Beteiligten die Leser und die Tageszeitungen. Und wer ist der Schuldige? Wie leicht zu erraten ist: beide Teile. Doch um diese Behauptung nicht als bequemen Mittelweg erscheinen zu lassen, sei sie genauer begründet.

Zuerst eine Feststellung, die sich besonders demjenigen aufdrängt, der die Dinge vom Ausland her betrachtet: Der Wiener — und nicht nur der vielzitierte kleine Mann — scheint dabei zu sein, einen „Mittelpunktkomplex“ zu entwickeln. Wenn er dem Ausland gegenüber Selbstbewußtsein zeigt und auf die Vorzüge Oesterreichs und der Bundeshauptstadt hinweist, so ist dagegen sicherlich nichts einzuwenden. Weniger einzusehen ist jedoch, warum er diese Vorzüge selbst immer wieder in seinen eigenen Zeitungen bestätigt finden will oder muß; so sehr, daß die Zeitungen nur relativ wenig Raum für Kommentare zu internationalen Ereignissen erübrigen können. Die Gründe dafür mögen vielfache sein. Um nur zwei zu nennen: die Tatsache, daß Oesterreich keinem der internationalen Blöcke angehört (wiewohl allein schon die Zugehörigkeit zur OEEC gezeigt hat, wie sehr auch Oesterreich von internationalen Entwicklungen abhängig ist) und die Tatsache, daß die meisten Tageszeitungen parteigebunden sind, sich daher auf innenpolitische Ereignisse konzentrieren müssen. Daraus entsteht jedoch der Eindruck, als würde den österreichischen Zeitungsleser kaum etwas interessieren, was jenseits der Alpen geschieht: oder, wie es der „Corrierea della Sera“ kürzlich in einem — übrigens sehr freundlichen — Artikel ausdrückte: „Wien ist... in aich selbst verliebt.“ Lokalpatriotismus ist sicherlich nicht ungesund. Doch darüber sollte nicht vergessen werden, daß die Weltpolitik nicht von Oesterreich aus gelenkt wird. Es sollte nicht vergessen werden, daß an den Grenzen Oesterreichs eine Welt beginnt, die nach allen Seiten hin ausschlägt. Oesterreichs Politiker versichern zwar bei jeder Gelegenheit, daß die Neutralität des Landes nur eine militärische sei, doch die gefährliche Auslegung dieses Grundsatzes scheint es zu sein, daß man die Neutralität als sichere Insel auffassen kann, auf der man sich um die übrige Welt nicht mehr zu kümmern braucht — es sei denn um zahlungswillige Touristen. Doch auch Inseln können überschwemmt werden!

Nun wird oft die These verfochten, daß das Märchen von der bildenden Aufgabe der Presse eine längst widerlegte Fiktion sei und daß die Zeitungen ihre Leser nur informieren sollen. Und zwar darüber, was die Leser interessiert.

Damit kommt der zweite Beteiligte ins Bild: der liebe Leser. Wie weit trägt er die Schuld an der lokalbetonten Berichterstattung der Presse? Bestimmt der Leser das Niveau der Zeitungen oder umgekehrt? Nehmen wir, ohne diskriminierende Hintergedanken, den Sportteil der Zeitungen, der oft mehrere Seiten füllt. Es ist richtig, daß der verstauchte Knöchel eines Fußballstars heute mehr Gemüter erhitzt als eine ge- oder mißlungene Opernarie. Aber gibt es für den Leser wirklich nichts Wichtigeres in dieser Welt, die nur deshalb noch besteht, weil sie nicht weiß, nach welcher Seite sie auseinanderfallen soll? „Die Leser verlangen es!“, sagen die Herausgeber. Und viele Leser meinen: „Die Zeitungen bringen ja nichts Gescheites.“ Wer also hat damit begonnen? Die Leser, weil sie Blätter mit höherem Niveau nicht gekauft haben, oder die Zeitungen, die dem Leser nichts anderes vorsetzen? Das Publikum ist „seiner“ Zeitung ausgeliefert, denn besonders der österreichische Leser wechselt aus Tradition nicht gerne sein Blatt und hat außerdem auf der Suche nach einer Tageszeitung mit internationalem Format — siehe den erwähnten Artikel der „Furche“ -nur eine sehr beschränkte Wahl. So sind es also die Zeitungen, die von sich aus eine Umstellung herbeiführen könnten und damit dem Leser gar keine andere Wahl ließen als - wie tragisch! -nach einem guten Blatt zu greifen.

Abermals: Wer soll damit beginnen, ohne bei diesem Experiment vielleicht viele seiner Leser zu verlieren? Von der oftgenannten Boulevardpresse darf ein solcher Schritt nicht erwartet werden. Es bleiben also nur die Zeitungen, die von finanzstarken Gruppen oder eingetragenen Vereinen — wie etwa den politischen Parteien — gestützt werden. Im Jahre Null — 1945 — gab es weder unabhängige noch „unabhängige“ Blätter. Als sie später auftauchten, wendeten sie sich an ein Publikum, dessen geistige Ansprüche schon vorher festgelegt worden waren. Außerdem — und das ist eine wichtige Tatsache, die vor Verallgemeinerungen im Pressewesen schützen soll — gibt es auch in jedem anderen Land eine Boulevardpresse, der — worauf in der „Furche“ ebenfalls schon hingewiesen wurde — eine Tagespresse von internationalem Format gegenübersteht. Die schaurigen oder zuckersüßen Details der lokalen Ereignisse waren immer schon das Schlachtfeld dieser sogenannten Boulevardpresse, und so wird es auch weiterhin bleiben. Doch gerade in Oesterreich, das in der internationalen Journalistik einst eine führende Rolle spielte, ist die parteigebundene Presse heute stark genug, um auch eine zusätzliche Aufgabe übernehmen zu können: das Niveau der meisten Tageszeitungen zu heben. Oder anders ausgedrückt: den Horizont der Leser zu erweitern. Eben weil der Oesterreicher „sein“ Blatt nicht gerne wechselt, besteht kaum die Gefahr, daß er ein höheres Niveau übelnehmen könnte. Er würde dann aber nicht nur von den grausamen Untaten eines Sexualmörders erfahren, sondern er würde auch zum Nachdenken darüber angeregt werden, daß es ihn genau so angeht, wenn irgendwo weit hinter den Alpen, sagen wir in Südamerika, das Wirtschaftssystem eines Staates aus diesem oder jenem nebensächlichen Grund in Unordnung gerät. Denn dann könnten dort drüben vielleicht die Kaffeepreise steigen und dann könnte es geschehen, daß auch der Wiener, wenn er im Kaffeehaus die Tageszeitungen nach den Fußballresultaten durchsucht, plötzlich für seine Schale Gold oder seinen Espresso mehr bezahlen muß. Und das'ist noch das Geringste, was ihm zustoßen kann, wenn er für bloßes Gerede hält, was mir erst kürzlich ein Diplomat sagte: „Mangelndes Interesse an den Vorgängen in der Welt ist heutzutage politischer Selbstmord.“

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