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Keine Freiheit zur Beseitigung der Freiheit

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Es waren Männer der christlichen Demokratie und der sozialistischen Bewegung, die als überzeugte Österreicher mit einer unbändigen Entschlossenheit, mit persönlichem Mut und Idealismus dieses Land und sein Volk aus dem furchtbaren Hitler-Erbe erretteten und in unsere glücklichere Gegenwart führten; Männer, deren Namen wir alle kennen, die wohl immer weniger wurden, deren Geist aber nicht mir ihrem leiblichen Tod erlöschen darf, sondern für uns alle ein verpflichtendes Erbe bleibt; ein Erbe, nicht Inhalt für Festtagsphrasen, sondern Richtschnur für unsere politischen Aktivitäten. Diese Männer kamen fast ausschließlich aus den Konzentrationslagern und Gefängnissen. Ohne sie wäre die Wiedererrichtung des Staates unmöglich gewesen, denn sie allein wurden von den mißtrauischen Besatzungsmächten zögernd akzeptiert. Wir alle erinnern uns des inneren Zornes, mit dem wir dutzende Fragebögen mit hunderten Fragen ausfüllten, um zu beweisen, daß wir weder verkappte Nationalsozialisten, Faschisten und Reaktionäre, noch verkappte Kommunisten seien. Viel Diplomatie, Klugheit, Fingerspitzengefühl erforderte dieses Wandeln zwischen Scylla und Charybdis.

Diese Männer sicherten Österreich als einzigem Staate auf der Welt, der von West und Ost besetzt war, seine Einheit, die mehr als fragwürdig war; sie erkämpften die Freiheit für Volk und Vaterland, die bedroht war; sie erarbeiteten die Lebensfähigkeit dieses Staates, die damals von Verzweifelten und Kleingläubigen angezweifelt wurde; sie erwirkten einen Wohlstand, der damals nie erträumt wurde; sie erlangten für Österreich ein internationales Ansehen in der Welt, das die geschundene, gequälte, verfolgte, verspottete, in sich zerrissene Erste Republik nie besaß. Diese Männer führten die Arbeiterschaft zur Mitverantwortung in diesem Staat und schenkten ihr das Gefühl der Gleichberechtigung und des Mitbestimmens; sie verwandelten hie-durch die sich bekämpfenden Klassen in Sozialpartner, die nicht auf der Straße, sondern am Verhandlungstisch verantwortungsbewußt über die Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstandes und die Aufteilung des Sozialprodukts verhandeln. Diese Männer gaben Österreich den kulturpolitischen Frieden, der in der Ersten Republik noch völlig unvorstellbar war. Das alles müßten Geschichtsprofessoren wissen und die Jugend lehren.

Wir aber lassen uns das Haus, das wir gebaut haben, nicht in Brand stecken, weder von Irregeleiteten noch von Saboteuren, deren vielleicht einzige Entschuldigung ihre grenzenlose Unwissenheit und Dummheit ist; aber auch nicht von wohlmeinenden Verteidigern der Demokratie, wenn sie in ihrer berechtigten Erregung in der Auswahl ihrer Mittel zur Verteidigung der Freiheit gefährliche Auswirkungen des einen oder anderen Mittels nicht überprüfen sollten; und am wenigsten von Ratten, die aus den Kanälen steigen in der Hoffnung, daß in einer radikalisierten Innenpolitik eine Rechnung aufgeht, die durch 20 Jahre nicht aufgegangen ist. Daher kann es keine Freiheit zur Beseitigung der Freiheit geben; das sind die Lehren der Ersten Republik.

Ich möchte dies heute im Namen von Millionen Österreichern sagen, die in den Werkstätten, Fabrikshallen, auf den Äckern, in Gelehrtenstuben und Büros arbeiten oder bereits als Rentner und Pensionisten ihren wohlverdienten friedlichen Lebensabend genießen; im Namen des ganzen Volkes, das nicht will, daß durch einige Hunderte auf den Straßen Krawallierender der geradezu groteske Eindruck in der Welt entsteht, als ob sich unser friedliebendes Volk in einer beginnenden Bürgerkriegspsychose gegenüberstünde. Das einfache Volk weiß, daß Bruderzwist zur Gefährdung der Einheit, Verlust der Freiheit, Absinken des Lebensstandards, Gefährdung des internationalen Ansehens führen würde.

Wie lassen sich nun angesichts aller dieser eindrucksvollen Tatsachen die jüngsten Ereignisse erklären? Denn offensichtlich sind doch emotionelle Kräfte aufgebrochen, die unter der Oberfläche schwelten. Hat Österreich tatsächlich durch das Versagen von Regierung und Parlament, wie manche Kritiker behaupten, seine Vergangenheit nicht bewältigt?

Unsere Vergangenheit ist weder bewältigt noch unbewältigt; aber wenn sie nicht in überwiegendem Ausmaße bewältigt wäre, säßen wir heute nicht friedlich hier in dieser Feierstunde. Geschichtliche Epochen enden und beginnen nicht mit einem fixen Kalenderdatum, vor dem etwas zur Gänze unbewältigt und ab dem etwas zur Gänze bewältigt ist. Historische Prozesse fließen in Ubergänge, und daher kann es niemals eine Schlußbilanz, sondern immer nur Zwischenbilanzen geben. Aber diese zeigen, inwieweit eine Vergangenheit bewältigt ist, und ermöglichen somit Korrekturen des politischen Verhaltens, damit der Rest des Unbewältigten — und nur um einen solchen handelt es sich in Österreich — bewältigt werden kann.

Sicherlich können jederzeit, wie ich vor vielen Jahren in einer Grundsatzrede prophezeite, emotionelle Kräfte wirksam werden. Aber das ist doch keine österreichische Spezialität, sondern eine Schick-salslast der Gegenwart, in der Staaten und Staatsformen, gesellschaftspolitische Leitbilder, soziale Denkweisen und Ideologien ständig in Umformung begriffen sind. Nicht nur wir Österreicher besitzen daher jeder irgendeine politische Vergangenheit, sondern auch in anderen Staaten der freien Welt haben die Staatsbürger verschiedene politische Vergangenheiten; und somit haben auch diese Staaten ihre unbewältigten Probleme, sogar ihre Bomben, Großstreiks und Attentate. Sicherlich, es gab bei uns ein Fußach; aber gab es nicht in der seit Jahrhunderten gereiften Schweizer Demokratie im Jura turbulente Ereignisse, die vorher unvorstellbar schienen? Aber würde deshalb irgendwer behaupten, daß die Schweizer Demokratie gefährdet sei? Sicherlich, bei uns gab es, erstmals nach fast 20 Jahren, Streiks; aber gab und gibt es nicht in anderen Staaten Streikunruhen von weitaus größerer Zeitdauer und Ausmaßen? Kann daher jemand behaupten, daß in Österreich der soziale Friede ernsthaft gefährdet sei? Sicherlich, bei uns zeigen sich Spuren einer neonazistischen Bestätigung; aber spricht jemand in anderen Staaten von einer neofaschistischen Gefahr, obwohl dort sogar dem Programme nach neofaschistische Parteien existieren, mit Sitz im Parlament, während in Österreich eine echte neofaschistische Partei kaum irgendwo ein kümmerliches Gemeinderatsmandat erobern könnte?

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