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Österreich und die Volksdemokratien

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In den Jahren von 1949 bis 1951 erhob sich eine immer höhere Mauer zwischen Oesterreich und seinen Nachbarn. Das geschah nicht nur im übertragenen Sinne. Die gesamte Grenze gegen die Tschechoslowakei und Ungarn wurde durch ein System von elektrisch geladenen Drahtverhauen. Minenfeldern, von Wacht-türmen und entvölkerten Sperrzonen abgeschirmt. Der Zugverkehr sah sich auf ein Minimum beschränkt und durch unvorstellbare Schikanen verekelt; es wurde schier unmöglich, Visa zu erlangen, um in die Volksdemokratien zu reisen, deren Angehörige ihrerseits — sofern sie nicht geeichte und angesehene Kommunisten oder andere, wohlgesiebte Beauftragte der einzelnen Regierungen wajen — nicht nach Oesterreich fahren durften. Die Berichterstattung aus Oesterreich in der volksdemokratischen Presse verstummte oder sie nahm groteske Formen der stursten Gehässigkeit an. Während sich in der österreichischen Wirtschaft ein rascher Aufschwung vollzog, las man nur vom zunehmenden Elend und Mangel; während Oesterreich eine, nur von Eingriffen der Besatzungsmacht gestörte, Insel des Friedens und der Freiheit war, faselte man von Verfolgung und Unterdrückung; während die Kommunisten eine unbeträchtliche Minderheit bildeten, um deren Ansichten und Veranstaltungen sich niemand kümmerte, war nur von Meinungen und Aktionen die Rede. Glaubte man der volksdemokratischen Presse, dann war die ungeheuere Mehrheit der Oesterreicher kommunistisch gesinnt, des Augenblicks der „Befreiung“ und der Errichtung eines dem Prager oder Budapester ähnelnden Regimes harrend. Der Handel zwischen Oesterreich und den Sukzessionsstaaten kam fast ganz zum Stocken, die beträchtlichen, doch unregelmäßigen Kohlenlieferungen Polens ausgenommen. Handelsabkommen wurden zwar abgeschlossen, sie mündeten aber der Regel nach in baldige Streitereien über mangelnde beiderseitige Vertragstreue. Kleinere Inzidente sorgten dafür, daß die üble Laune erhalten blieb. Bald wurde der österreichische Handelsbevoll-mächtigte in Bukarest samt Familie verhaftet; eingestandenermaßen auf Grund seitens der rumänischen Geheimpolizei in der österreichischen Gesandtschaft abgehorchter Gespräche. Bald mußte ein österreichischer Diplomat Knall und Fall abberufen werden, weil er einer ungarischen kommunistischen Agentin in die Netze geraten war. Weit ärger ist die Hartnäckigkeit vermerkt worden, mit der man besonders in der Tschechoslowakei und in Ungarn sich weigerte, die Privatansprüche österreichischer Staatsbürger zu berücksichtigen, obzwar es sich dabei fast nur um kleine Leute drehte. Und vom geistigen Güteraustausch war nicht viel zu spüren.

Das heißt, es gab in Wien österreichischungarische und österreichisch-polnische Gesellschaften, die aber nur innerhalb der kommunistischen Kreise und bei einigen Mitläufern beachtet wurden. Die kümmerlichen Propagandapublikationen der volksdemokratischen „Politischen Vertretungen“ Polens, Rumäniens und LIngarns — nur die Tschechoslowakei und Bulgarien hatten noch aus den ersten Nachkriegs-

Jahren regelrechte Gesandtschaften — wanderten prompt und ungelesen in den Papierkorb. Gastvorlesungen von Professoren, Gastspiele von Theatern fanden nicht statt. Nur die künstlerisch hervorragenden Darbietungen von Virtuosen weckten im sachkundigen Wien Anklang, ohne Rücksicht auf das Ursprungsland des Ausübenden. Der Tiefpunkt im Verhältnis Oesterreichs zu den Nachbarn war in den Jahren 1951 bis 1953 erreicht. Dann setzten sich wieder die natürlichen Tendenzen langsam durch: allerdings parallel der ebenso langsamen Entspannung zwischen Oesterreich und der Sowjetunion.

Dem Moskauer Beispiel folgend, überhäufe seit einigen Monaten die Sukzessionsstaaten Oesterreich und seine Regierung mit Artigkeiten, die sich auf internationalem Gebiet sehr konkret bekunden, zum Beispiel in der von vornherein gesicherten Zustimmung zur sofortigen Aufnahme Oesterreichs in die UNO und in der ebenso feststehenden Bejahung der Wiener Neutralitätserklärung. Die volksdemokratische Presse berichtet ferner eingehend und recht sachlich, wohlwollend über das bis vor wenigen Monate als Hölle der Werktätigen angeprangerte Land. Drittens, der Osthandel entfaltet sich im Eiltempo; man drängt sich förmlich, um mit Wien ins Gespräch und zum Abschluß zu gelangen.

Die Staatsoberhäupter und die Regierungschefs aller Volksdemokratien haben ihren österreichischen Kollegen in ausgesucht höflichen Worten zur zehnjährigen Wiederkehr der Unabhängigkeit und hernach zum Abschluß des Staatsvertrags gratuliert. Die gesellschaftlichen Kontakte der Ostdiplomaten in Wien und die der ö-terreichischen in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei usw. sind reger geworden. Doch was ist das Alles im Vergleich zu den lyrischen Schilderungen, die nun vom Donaustrand in die Zeitungen Warschaus, Prags und Budapests wandern; zu den Reden, in denen ungarische, tschechische, polnische Politiker die Freiheit Oesterreichs feiern und der Hoffnung auf künftige herzliche Nachbarschaft ausdrücken! Mit besonderem Vergnügen verzeichnet man in den Volksdemokratien die, infolge der Bestimmungen des Artikels 22 des Staatsvertrages, sich erhebenden Differenzen zwischen Wien und Bonn.

Gesund und begrüßenswert ist vor allem das dritte der von uns herausgehobenen Phänomene. Die Belebung des Osthandels, zumal mit den Volksdemokratien, wird für alle unmittelbar Beteiligten von größtem Vorteil sein. Wegen der wirtschaftlichen Folgen, die den Absatz westlicher, nicht nur der österreichischen, Fabrikate und den Import östlicher Rohstoffe betreffen, doch auch infolge der friedensfördernden Wirkung, die von derlei Güterverkehr ausgeht. Nicht minder sollten wir uns über intensiveren Kontakt auf geistigem Gebiet freuen. Der Westen, und insonderheit Oesterreich, hat dabei den Sukzessionsstaaten mehr zu bieten als diese der „kapitalistischen“ Welt. Ortskundige stellen schon jetzt fest, wie sehr sich der Einfluß westlicher Literatur und Wissenschaft, zum größten Mißvergnügen der hundertprozentigen Kommunisten, in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn ausbreitet. Oesterreich darf dagegen mit voller Ruhe den erwarteten Gastspielen volksdemokratischer Professoren und Dichter entgegensehen. Diese, zumeist Muß-

kommunisten oder Mußmitläufer, mögen für einzelne Leistungen und individuell Anklang wecken; mit ihrem ideologischen Gepäck aber werden sie höchstens bei der kleinen Schar ohnedies gleichgeschalteter einheimischer Kommunisten Entzücken auslösen. Wenn aber die Polen mehr ihrer Chopin-Spieler, die Tschechen ihr reizendes Puppentheater, sie und die Ungarn ihre vorzüglichen Orchester entsenden, dann darf man darüber in Oesterreich nichts als Befriedigung empfinden.

Austausch der wirtschaftlichen, materiellen und der geistigen Güter also, das möchten wir unbedingt bejahen; je mehr, um so besser. Mit größter Zurückhaltung werden wir das Intensivieren politischer Kontakte begleiten, seien sie auf innerem oder auf internationalem Terrain beabsichtigt. Ein paar Grundsätze dulden, bedeu-det nach Ansicht maßgebender Wiener Staatslenker, aller nichtkommunistischen Parteien und einer 95 Prozent überschreitenden Mehrheit der Bevölkerung, keinen Eingriff: die erfreuliche Besserung des Verhältnisses zur Sowjetunion und zu den Volksdemokratien ändert nichts an der österreichischen Ordnung des Staates, der Gesellschaft und der Wirtschaft. Die westliche parlamentarische Demokratie bleibt aufrecht. Eine, wenn auch verschleierte, Teilnahme der Kommunisten an der Regierung ist nicht geplant; wenn sie aus freien Stücken ihre grundsätzliche Opposition gegen alles, was die Regierung tut, und ihre Kritik an allem, was geschieht, aufgeben, soll das freuen: Gegenkonzessionen für derlei Sieg der Vernunft sind unstatthaft. Freilich denkt auch niemand an individuelle Verfolgung der Kommunisten nach dem Abzug der Sowjetarmee noch an Maßnahmen gegen die KPOe, solange und sofern sich diese im Rahmen der österreichischen Legalität bewegt.

In der Außenpolitik wird man sehr gerne die Beziehungen zu den Volksdemokratien aus einer frostigen in eine temperierte Atmosphäre überleiten. Zu tropischer Hitze ist vorerst kein Anlaß vorhanden; sie wäre auch der zarten Blume erneuter guter Nachbarschaft kaum förderlich. Abgelehnt muß im Sinne der jungen österreichischen Neutralität jeder Versuch werden, auf irgendwelchen Umwegen mit den Sukzessionsstaaten in eine gegen irgendwen, etwa gegen die USA gerichtete, politische Front einbezogen zu werden. Dagegen ist es ein unver-hehlter Wunsch Oesterreichs, daß sich in Zukunft eine Situation entwickle, bei der die Donauländer im Rahmen einer erweiterten Friedenszone mit Oesterreich engere Gemeinschaft eingehen könnten, deren Spitze sich wider niemand richtete und die zur friedlichen Verständigung zwischen Westen und Osten mithülfe.

Es ist klar, daß sich in dieser Hinsicht die Ziele Oesterreichs, die wir, im Einklang mit dem Standpunkt der Maßgebenden und der Bevölkerung, geschildert haben, mit denen Jugoslawiens in erheblichem Umfange decken. Seit dieses Land auf seine territorialen Ansprüche an Oesterreich verzichtet hat, sind zwischen beiden Staaten keinerlei wichtige Gegensätze zu beobachten. Das Verhältnis zwischen ihnen hat sich sehr gebessert. Würde es sich in Zukunft zeigen, daß auch gegenüber anderen, unentwegt linientreuen Volksdemokratien eine ähnliche Entwicklung andauert, dann könnte freilich eine engere Zusammenarbeit zwischen ihnen und Oesterreich schon jetzt, ungeachtet der voneinander abweichenden Regime anheben. Sie liegt an sich in der Logik der natürlichen Gegebenheiten und darum wollen wir an ihr weder zweifeln noch gar verzweifeln.

Vor allem deshalb, weil nach übereinstimmenden Berichten der Umschwung im Verhalten der Sowjetunion gegenüber Oesterreich sehr tiefen Eindruck in allen Volksdemokratien gemacht hat. Auch der Besuch Chruschtschows und Bul-ganins bei Tito, die dabei verabredete gemeinsame Erklärung und die kapitale Tatsache, daß man in Moskau die Zulässigkeit mehrerer Wege zum Sozialismus anerkannt hat, ist von starkem Nachhall begleitet gewesen. Dazu treten Maßnahmen, wie die Freilassung polnischer Titoisten und der in einem Sensationsprozeß verurteilten Generale. Man hofft vor allem in Warschau und in Budapest, daß es vom Kreml nicht verwehrt werden würde, ein wenig selbständige Außenpolitik im begrenzten Raum, zunächst in Zwischeneuropa, zu betreiben. Da lenkt man die Augen begreiflicherweise in vorderster Linie auf Oesterreich. Besonders die katholischen Kreise, und zwar die zur Zusammenarbeit mit dem volksdemokratischen Regime Gewillten wie die Beiseitestehenden, blicken aufmerksam nach Wien. Wiederum bestätigt sich die Rolle, die Oesterreich und seine Hauptstadt in der Vorstellungswelt des gesamten europäischen Ostens spielen, der beim ersten sich bietenden Anlaß, wie von selbst, nach der Ausfallpforte zum Westen schaut. Es ist anzunehmen, daß volksdemokratische Politiker nach der Räumung Oesterreichs häufiger nach Wien kommen werden. Offiziell wird das im Schatten der Friedensoffensive rein kommunistischer Couleur geschehen. Doch „wie's da drinnen aussieht“ (heißt es im „Land des Lächelns“ des Wahl Österreichers und ungarischen Slowaken Lehär), nämlich im Herzen dieser Gäste, „das geht niemand was an“. Derlei Aspekte sind nicht die geringsten der Möglichkeiten, die sich heute in den Beziehungen zwischen Oesterreich und seinen einstigen — seinen naturgegebenen dereinstigen — Schicksalsgenossen abzuzeichnen.

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