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Wir in der Emigration

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In freien Geist ordnen wir das Gemeinwesen und ebenso die Mißhelligkeiten, wie sie der tägliche Verkehr miteinander bringt, indem wir uns nicht über den Nachbarn erbosen, wenn er sich einmal ein Vergnügen erlaubt, und auch nicht gleich Strafbestimmungen erlassen, die zwar keinen Schaden anrichten, aber sich ärgerlich ausnehmen. Wie wir unseren persönlichen Verkehr ohne Lästigkeit gestalten, so hüten wir uns im öffentlichen Leben vor Rechtsbruch, hauptsächlich aus heiliger Scheu, da wir auf die jeweilige Obrigkeit und auf die Gesetze hören, am meisten auf die, die zu Nutz und Frommen der Bedrückten sind, sowie auf jene ungeschriebenen, deren Übertretung nach allgemeinem Urteil Schande bringt.

P e r 1 k 1 e s : .Auf die Gefallenen'

Sa Paulo, Brasilien, 18. Februar 1947

Wir standen alle in einer Front. Weh-geschlagene und Wunde, Vertriebene und Verfolgte, Verdächtigte und Bedrohte, Menschen der verschiedensten Berufe, verschiedener Konfessionen, Christen und Juden und Menschen verschiedener politischer Überzeugungen. Die Geschichte der Emigration wird noch zu schreiben sein. Aber schon weisen wir Kapitel, wie die der deutchsprachigen Emigrationsgruppen von Mexiko und Argentinien vor, die gezeigt haben, daß die Möglichkeit einer der österreichischen Heimat dienlichen und auch den Interessen der Emigrierten förderlichen Zusammenarbeit zwischen diesen verschiedenen Elementen nicht nur bestanden hat, sondern tatsächlich auch keinen Einschränkungen unterworfen war. Es war in der Welt eine buntgeschichtete Front, heterogen wie alles, was Hitler geschaffen hatte, eine Front von Pater Friedrich Muckermann bis Feuchtwanger. Begriffe, wie: Jverfolgt“, „vertrieben“, „geschlagen“, „notbe|drängt“ kennen keine Komparative, und uns, den Heimatfernen und Heimwehkranken, standen Abmessungen und Werturteile gegeneinander nicht zu. Wenn je Gedanken an „Schuld“ aufkamen, so wußte jeder, daß, wenn von Schuld gesprochen werden würde, es eine zweiseitige Angelegenheit wäre. Und daß derjenige der gemeinsamen Sache und dem Vacerhnd einen schlechten Dienst tut, der sich so anstellt, als ob die Vergangenheit nicht von einer großen Kollektivschuld belastet sei, von der sich niemand auslösen könne, ohne bewußt oder unbewußt die Wahrheit zu verletzen. Das haben wir uns vorgehalten und haben danach gehandelt. Wir betraten auch nicht das Gebiet einer Parteipolitik und auch heute liegt nicht eine solche Absicht in der Feststellung, daß der Kampf der deutschsprechenden Emigration erst zu einem wirksamen geworden war, als Hitler die Sowjetunion überfallen und damit alle sozialistischen Elemente zum Aktivismus veranlaßt hatte, auch jene, die bishin Hemmungen empfunden hatten. Bis dahin hatten die aus politischen Verbänden christlicher und katholischer Grundhaltung hervorgegangenen Emigranten und einzelne Sektionen der sozialistischen Heimatfernen sozusagen allein den Kampf geführt.

Völlig müßig wäre es, zwischen „Auslands-“ und „Inlandsrevolution“ zu unterscheiden: Auslandsrevolutionen, wie die Masaryks und Beneschs während der Jahre 1914 und 1918, hat es in diesem Kriege aus vielen Gründen nicht gegeben. Solche Gründe waren gewisse geistige Einstellungen, die wir da und dort im Auslande noch vor-fandeji, eine Unkenntnis der Stellung Österreichs gegenüber der Hitleraggression und eine Unterschätzung der Bedeutung eines unabhängigen Österreich für die Zukunft, Mißtrauen gegen alle, die sich der deutschen Sprache bedienten, zuweilen auch Mißbehagen gegen die Emigrationen überhaupt und ähnliche unmeßbare Widerstände mehr. Wenn wir politischen Emigranten aus solchen Gründen auch nicht zu einer großangelegten politischen Aktion kommen konnten, so hatten die politischen Emigranten doch die Bestimmung, die Widerstandsbewegung der Heimat im Auslande zu ergänzen. Wir waren in Zeiten, in denen Hitler der Heimat die Sprache geraubt hatte, doch die Sprache der Heimat vor dem Weltgewissen und hatten oft laut und leider sehr oft vergeblich zu sprechen. Wo Emigrationsgruppen zu sichtbaren Erfolgen gelangt sind, wo sie den Absperrungskordon, der um sie gezogen war, durchbrechen konnten, wie die Österreicher und Reichsdeutschen in Mexiko und Argentinien, dort waren diese Siege auf die völlige Einigkeit zwischen Sozialisten und NichtSozialisten, zwischen christlichen und jüdischen Elem-ten zurückzuführen. In Mexiko hatten sich Männer und Frauen von weltbekannten Namen mit solchem Erfolg zusammengetan, daß man dort von einer Art überparteilicher Liga der freien demokratischen Bewegungen sprechen konnte. In Argentinien hatte der mutige sozialistische und unabhängige Doktor S i e m s e n einen heroischen Kampf geführt, der in anderen Staaten hätte zum Vorbild dienen können und die Nachahmung schmerzlicherweise nicht fand. Innerhalb des geringen Prozentsatzes der kämpferischen, aktivistischen Emigration, die aus dem ebenfalls kleinen Prozentsatze der „politisch Verfolgten“ und nicht dem der „verhinderten Nazisten“ hervorgegangen war, galt der Standpunkt als maßgebend: Hitler ist totalitär, auch im Kampfe gegen die Hitlerdespotie haben wir totalitär zu sein und alles Hitlerische, auch die Barbarei des hitlerischen Rassenantisemitismus, zu bekämpfen. Außerhalb der kämpferischen Emigration ist es nicht in allen Ländern klar gewesen, daß auch der hitlerische „Antichristianismus“ bekämpft werden müßte.

Gerne erinnern wir uns, daß uns in den Jahren des Emigrationskampfes manch Tröstliches zuteil geworden ist. Uns Österreichern sind große Deutsche wie Thomas Mann oder Anna Seghers nahegestanden. Uns Österreichern haben Männer der freien demokratischen Bewegungen großherzig alles geboten, was sie zu bieten hatten. So ist vieles im Laufe des Krieges gereift, auch wichtige Erkenntnisse, die anfänglich im Auslande nicht Gemeingut waren. Und auch wir selbst — wer wollte es leugnen — haben in dieser harten Prüfungszeit viel dazu gewonnen. Neben Doktor Seipels kostbaren Briefen, die ich bewahren konnte, hatte einen Schatz meiner Korrespondenz ein Briefwechsel gebildet, der 1921 zwischen Hugo Breit-n e r und mir begonnen hatte. Dieser wahrhaft österreichische Mensch, eine feine gütige Natur, war viel verkannt worden. Er wollte noch im Winter 1938/1939 nach Wien zurückkehren und hatte schon für die Reise seinen Rock gebürstet, als er auf höheres Geheiß die Reiseroute ändern mußte. Von seinem Sozialismus pflegte er gerne zu sprechen, ihn hatte er gepredigt. Aber in letzter Analyse war dieser Sozialismus aus keiner anderen Wurzel entsprungen als jener, die wir Caritas nennen, die aus einem hilfsbereiten Herzen kommende Nächstenliebe. Er hatte Diesseitiges gesprochen und im Jenseitigen gedacht und empfunden. In mehr als 25 Jahren hat es nie auch nur einen Hauch des Mißverstehens zwischen uns gegeben. Seine Achtung vor dem Christentum war tief, sein Leben, wenn man so sagen darf, von einem Schimmer christlichen Denkens überstrahlt und abermals wurde man an ihm des großen Wortes gewahr: Anima natura-liter christiana. Ich darf es heute den christlichen Österreichern sagen, daß dieser Mann niemals unser Gefühl verletzt hat und dessen Lebensanschauung vielleicht eine Verbindung zwischen irdischem Optimismus und christlicher Jenseitsfreude dargestellt hat. Inmitten mannigfacher Häßlichkeiten des Emigrationslebens war er rein und gerecht geblieben. — Franz Werfe 1 und Egon Erwin Kisch waren um die Jahrhundertwende in Prag ungefähr meine Schulgenossen gewesen. Dreißig und mehr Jahre waren unsere Wege sehr entfernt voneinander verlaufen, oft hatte es ausgesehen, als ob wir einander nie mehr begegnen sollten. Pater Cyrill Fischer hat in der Emigration Werfel und mich ein Jahr vor dem Tode des großen Dichters einander genähert. Kisch und ich reichten uns bei gemeinsamer Tätigkeit in Mexiko und Brasilien die Hand. Werfel hat mit glühender Sehnsucht an seiner Synthese zwischen seiner Herkunft und seiner tiefen späteren Neigung zum Christentum gearbeitet, mit einer Besessenheit, die die Todesnähe konzentriert hatte. Alma Werfel schrieb uns, er sei „christlich“ gestorben. Es wollte damit gesagt werden: in der Gesinnung. — Kisch hat in den rasenden Kriegszeiten zu jenen gehört, die die Einigkeit nicht als Parteiparole oder als Schlagwort im Munde geführt hatten, sondern die sich offen zu der Auffassung bekannten, daß die christlich gerichteten Elemente der Emigration ein integrierender Bestandteil der Gesamtfront zu sein hätten. Schließlich hat die österreichische Gelehrte Dr. Else Friedland-Volk in spanischer Sprache ein Buchdrama über das „Christ-Jude-Problem“, wie es immer wieder durch die Geschichte irrt, veröffentlicht, ein Werk, das aller Ehren wert ist, ihr manche Feindschaft, aber auch das Gnadengeschenk einer bewundernswerten Konversion gebracht hat. Das Buch ist aus dem leidenschaftlichen und gläubigen Annähern-Wollen zu verstehen.

Breitners edle Gesinnung, Werfeis Geist, Kischs Wille, einer Frau Bekennermüt, das alles sollte unseren jüdischen Schicksalsgenossen Wegweiser sein. Gemeinsam sind wir durch Blut und Schmutz gewatet, gemeinsam haben wir den Kampf, so gut wir konnten, durchgestanden, die Erfolge waren gemeinsame Erfolge. Die Emigration war aus defensiven Anfängen allmählich zu einem Angriffe auf den Welt-Hitlerismus übergegangen. Es war daraus eine Macht geworden. Der Hitlerismus hat seine Bakterien unsichtbar weithin in der Welt verstreut. Sie wirken auch heute noch in den Neigungen zur Gewalt, zur Überwältigung der Schwachen, zur Verletzung der Grundrechte der menschlichen Persönlichkeit in bösartigem Mißtrauen, in der Aussaat von Friedlosigkeit und Haß. Mit Schmerz muß man wahrnehmen, daß es heute schon wieder Bestrebungen gibt, die den kostbaren Errungenschaften gemeinsamer ' Notzeit widerstreiten und so weit gehen, daß sie das alte Vaterland im Auslande mit ungerechtem Verdachte belasten. Diese Zeilen sind nicht geschrieben, um einen Vorwurf zu erheben, sondern an das Verantwortlichkeitsbewußtsein jedes Österreichers im Auslande wie im Inlande zu appellieren, das mehr denn je heute jeden verpflichtet, aus welchem Lager, aus welcher Herkunft er stammen möge.

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