Natura morta - © Foto: iStock /kyoshino

Assistierter Suizid: "Töten ist nicht barmherzig"

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Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat die Entscheidung zu „assistiertem Suizid“ abermals vertagt. In der Schweiz ist diese Form der "Sterbehilfe" zugelassen: Was waren und sind die Folgen? Der Schweizer Psychiater Raimund Klesse im Gespräch.

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Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat die Entscheidung zu „assistiertem Suizid“ abermals vertagt. In der Schweiz ist diese Form der "Sterbehilfe" zugelassen: Was waren und sind die Folgen? Der Schweizer Psychiater Raimund Klesse im Gespräch.

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„Modernes Sterben“:­ Unter diesem Titel wurde vergangene Woche bei den „Salzburger­ Bioethik-Dialogen“ über Aufgaben und Grenzen der Medizin am Lebensende diskutiert. Im Zentrum stand die mit Spannung erwartete Entscheidung des Verfassungsgerichtshof zu den Themen „Tötung auf Verlangen“ und „Assistierter Suizid“ (die FURCHE berichtete). Nun wurde das Votum abermals verschoben – auf die Session ab 23. November. Doch was wären die Folgen einer Liberalisierung – bzw. was zeigt sich in der Schweiz? Die FURCHE hat mit Raimund Klesse gesprochen, Psychiater und Alters­psychotherapeut in Chur sowie Präsident der Hippokratischen Gesellschaft Schweiz, die 1999 als Reaktion auf die neue „Sterbehilfe“-Kultur gegründet wurde.

DIE FURCHE: Herr Klesse, in der Schweiz ist assistierter Suizid unter bestimmten Umständen erlaubt. Unter welchen?
Raimund Klesse: Eigentlich heißt es in Paragraf 115 Strafgesetzbuch: „Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird [...] mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.“ Mit dieser Bestimmung wollte man Strafminderungsgründe einführen, wenn jemand – etwa von Mitleid überwältigt – so eine Tat begehen würde. Doch die Auslegung der Gerichte hat dazu geführt, dass heute im Grunde niemand mehr bestraft wird – außer wenn man direkte finanzielle Motive nachweisen kann. Und seit 1982 gibt es Sterbehilfevereine wie „Exit“. Wir machen in der Schweiz dieselben Erfahrungen wie auch die Niederlande, Belgien, Kanada oder der US-Staat Oregon: Wenn man einmal die Linie überschreitet und zulässt, dass Menschen andere Menschen töten oder ihnen zur Selbsttötung verhelfen, geraten wir auf eine schiefe Ebene.

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DIE FURCHE: Wie zeigt sich die?
Klesse: Indem die Zahlen steigen und steigen. In den Niederlanden hat „Tötung auf Verlangen“ 2007 noch 1,6 Prozent aller Sterbefälle ausgemacht, wie der Gutachter Theo Boer weiß, 2019 waren es bereits 4,2 Prozent (wie soeben bekannt wurde, will man in den Niederlanden dies nun auch bei Kindern unter zwölf Jahren erlauben, Anm.). Bei uns in der Schweiz gab es 2003 noch 187 Fälle von assistiertem Suizid pro Jahr, 2017 schon 1009. Wobei man das auch noch zu verschleiern versucht, indem man dem assistierten Suizid einen anderen Diagnose-Code gibt. Wir haben die paradoxe Situation, dass durch eine sehr gute Prävention die Suizid-Zahlen seit den 1980er Jahren zurückgehen, es aber parallel einen massiven Anstieg der assistierten Suizide gibt. Derzeit sind es etwa je 1000, und die Gesamtzahl steigt an.

DIE FURCHE: Bei welchen Personen ist assistierter Suizid heute legal?
Klesse: Mittlerweile ist das wahnsinnig breit gefasst. Irgendwann hat man angefangen, psychisch kranke Menschen hineinzunehmen, dann Demenzbetroffene, und 2018 hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften in ihren Richtlinien auch Kinder und Jugendliche jeglichen Alters, psychisch kranke sowie mehrfach behinderte Menschen hinzugenommen: Die Schweizer Ärzte haben sich gewehrt und diese Richtlinien nicht ins Standesrecht übernommen. Zuletzt hat man auch über Organentnahme nach assistiertem Suizid diskutiert, aber bisher ist das zum Glück nicht umgesetzt worden. Ein Viertel der Menschen, die assistierten Suizid in Anspruch nehmen, ist mittlerweile multimorbid, sie haben also einfach Altersbeschwerden: sehen schlecht, hören schlecht, haben Gelenksschmerzen etc. Der nächste Schritt, der jetzt angestrebt wird, ist der ­„Altersfreitod“, hier reicht es, alt und „lebenssatt“ zu sein.

DIE FURCHE: Welche Regelungen gibt es bei Demenzbetroffenen?
Klesse: Eine zentrale Beschränkung ist hier die Urteilsfähigkeit, die durch ein ärztliches Gutachten bestätigt werden muss. Entscheidungen für einen assistierten Suizid werden also oft am Anfang der Demenz getroffen. Das kann zu Situationen führen, wie wir sie in einem Dokumentarfilm sehen können: Zwei ältere Damen mit beginnender Demenz werden darin gezeigt. Die eine sagt: „Eigentlich passt mir mein Sterbehilfetermin nicht, weil ich muss noch den Hund ausführen und am Nachmittag habe ich Chor.“ Die andere will noch ihren Geburtstag feiern, doch beide sterben wie vereinbart. Sie sterben auch nicht aus einer akuten Notsituation heraus, sondern weil sie Angst davor haben, noch dementer zu werden. Viele machen sich aber völlig falsche Vorstellungen davon, was auf sie zukommen kann. Ich selbst arbeite im Kanton Graubünden seit zwanzig Jahren mit Demenzbetroffenen und deren Familien. Die meisten Demenzbetroffenen führen ein gutes Leben. Und unserer Erfahrung nach ist Suizidalität im weiteren Verlauf einer Demenz meist überhaupt kein Thema mehr.

Wir machen in der Schweiz dieselben Erfahrungen wie die Niederlande, Belgien, Kanada oder der US-Staat Oregon: Die Zahlen steigen und steigen.

Raimund Klesse

DIE FURCHE: Warum wird aus Ihrer Sicht als Psychiater ein Mensch überhaupt suizidal?
Klesse: Laut Forschung werden Menschen suizidal, weil sie einsam sind oder Angst haben vor dem, was im Alter auf sie zukommen kann. Häufig gibt es auch Depressionen oder andere psychische Erkrankungen. Es gibt auch Menschen, die Angst haben, abhängig zu werden und die Kontrolle zu verlieren. Mit ihnen müsste man gemeinsam fragen: Wie kann ich auch im Alter noch einen Sinn entdecken? Wie kann ich lernen, Hilfe anzunehmen?

DIE FURCHE: Was antworten Sie jenen, die sagen: Zu einem autonomen Leben gehört auch Autonomie im Sterben?
Klesse: Ich würde antworten, dass wir eine ganz eigenartige Vorstellung von Selbstbestimmung haben – als ob der Mensch wie ein Atom im Universum schweben würde. Doch wir Menschen sind soziale Wesen und von Kindheit an immer in Beziehung. Eigentlich wird der Mensch erst frei und selbstbestimmt, indem er getragen ist und den Schutz seiner Mitmenschen genießt. Die Vorstellung, dass jemand ganz allein für sich bilanziert, entspricht von daher überhaupt nicht der menschlichen Natur. Aus psychiatrischer Sicht entspringt Suizidalität immer einer Notsituation.

Raimund Klesse - © Foto: Privat

Raimund Klesse

ist Psychiater und Alterspsychotherapeut im schweizerischen Chur sowie Präsident der 1999 gegründeten Hippokratischen Gesellschaft Schweiz.

ist Psychiater und Alterspsychotherapeut im schweizerischen Chur sowie Präsident der 1999 gegründeten Hippokratischen Gesellschaft Schweiz.

DIE FURCHE: Und wenn etwa eine Tochter einer schwerkranken Frau betont, dass ihre Mutter diesen Schritt frei und bewusst gewählt habe?
Klesse: Jemand, der sich das Leben nehmen will, kann das grundsätzlich tun. Aber auf Grund des Selbsterhaltungstriebs braucht es dazu eine große Überwindung, wie es Erwin Ringel eindrücklich beschrieben hat. Eine umso größere Rolle spielt ebendieser Dritte, der beim assistierten Suizid ins Spiel kommt. Wenn argumentiert wird, dass dieser nur „den Willen des anderen ausführen“ würde, dann ist das nicht richtig. Denn es macht einen Unterschied, ob eine Tochter auf den Sterbewunsch ­ihrer Mutter antwortet „Okay, dann rufe ich jetzt bei ,Exit‘ an“ – oder ob sie sagt: „Was ist los, was beschäftigt dich? Wir stehen dir bei!“ Man setzt damit ein Signal, insofern ist es eine klare Einflussnahme.

DIE FURCHE: Was ist mit dem Argument, dass die Möglichkeit eines assistierten Suizids einer gewaltsamen Selbsttötung vorbeugen würde?
Klesse: Wenn man einem Menschen in seiner Not hilft, bringt er sich in der Regel nicht um. Wir wissen auch, dass es psychische Schäden beim Menschen verursacht, wenn er sich an einer Tötung beteiligt. Dass betrifft auch Angehörige und Pflegende.

Dass wir trotz hochentwickelter Palliativmedizin menschliche Probleme und verständliche Ängste durch Tötung lösen wollen, halte ich für tragisch.

Raimund Klesse

DIE FURCHE: Aber kann es nicht auch entlastend sein, einen „Ausweg“ zu haben?
Klesse: Es kann natürlich sein, dass sich Menschen dadurch beruhigt fühlen. Wie es auch Menschen gibt, die etwa bei „Exit“ Mitglied werden und das nie brauchen. Aber das kann man doch nicht zum Grund nehmen, Selbsttötungen grundsätzlich zu erlauben! Diese Beruhigung findet auch und nachhaltiger statt, wenn sich Menschen eingebunden fühlen in eine „Kultur der Sorge“. Dass wir trotz hochentwickelter Palliativmedizin menschliche Probleme und verständliche Ängste durch Tötung lösen wollen, halte ich für tragisch.

DIE FURCHE: Andere halten es in Extremfällen für barmherzig ...
Klesse: Also ich sehe nichts Barmherziges am Töten. Es sollte vielmehr darum gehen, am Lebensende sagen zu können: „Ich kann in Ruhe sterben – und wenn es schwierig wird, dann wird man mir fachlich und menschlich zur Seite stehen.

DIE FURCHE: Ab November werden Österreichs Verfassungsrichter weiterberaten. Welches Urteil wünschen Sie sich?
Klesse: Ich würde mir wünschen, dass die Verfassungsrichter die Größe haben, den Schutz des Lebens als Grundlage des Rechtsstaates und als Voraussetzung für alle anderen Rechte zu verteidigen. Es wäre eine große Hilfe für ganz Europa, wenn sie das sichern und allem anderen einen Riegel vorschieben würden.

Sie befinden sich in einer Krise? Hilfe gibt es bei der Telefonseelsorge (142) und unter www.suizid-praevention.at

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