Der Fremde ist immer auch ein Gewinn

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Die Gesellschaft verändert sich in rasantem Tempo. Müssen sich auch die Beziehungen zwischen den Menschen entsprechend verändern?

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Die Gesellschaft verändert sich in rasantem Tempo. Müssen sich auch die Beziehungen zwischen den Menschen entsprechend verändern?

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Beziehungen sind die Art, wie wir andere sehen und wie wir beobachten, von anderen gesehen zu werden. Beziehungen sind die Vorstellungen von Bedeutungen, die die Mitwelt für uns hat und von denen wir meinen, sie für die Umwelt zu haben. In diesem Sinne sind Beziehungen also Zusammenhänge, die wir wahrnehmen, um über uns und über andere bestimmte "Ortsangaben" zu machen. Wer bin ich im Vergleich zu dir? Wer bin ich im Verhältnis zu dir? Wer bist du im Vergleich zu mir? Und wer bist du im Verhältnis zu mir? Auch die heurigen "Goldegger Dialoge" im Frühsommer, die wie immer unter dem Motto "Gesundheit ist lernbar" standen, beschäftigten sich intensiv mit dem Thema "Gesunde Beziehungen".

Beziehungen wurden in Goldegg als Beobachtung unseres Verhältnisses zu anderen, zur Umwelt, in Partnerschaften, Arbeitswelten, Erziehungswelten und anderen Lebenszusammenhängen analysiert.

Professor Thomas A. Bauer, Kulturwissenschafter, Soziologe und Universitätsprofessor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien, hielt in Goldegg einen sehr beachteten Diskurs über den Umbruch, den wir heute in bezug auf Beziehungen erleben. Er eröffnete aber auch neue Perspektiven für eine verbesserte und zukunftsorientierte Kommunikation.

Beziehungen entwickeln sich durch Kommuniaktion, sie machen Kommunikation erst möglich. Deshalb ist es auch notwendig, Beziehungen ständig zu reflektieren. In "gesunden" Beziehungen realisieren wir unsere Vorstellungen eines geglückten Lebens, erfahren wir Akzeptanz, Mächtigkeit, Verstehen, Zugehörigkeit, Freiraum und Selbstbestimmung.

Beziehungen sind deshalb auch immer die Gestaltungsmöglichkeiten menschlichen Glücks. In Beziehungen machen wir aber auch die Erfahrungen der problematischen und glücklosen Seiten des Lebens. Beziehungen sind nicht nur Harmoniemuster, in denen ich mich vom anderen akzeptiert und angenommen fühle, sie sind auch immer Partnerschaftsmuster, in denen wir erkennen, daß beide nur ein unvollkommener Teil, ein Fragment sind.

Sie gestalten sich unter gesellschaftlichen Bedingungen und sind durch die jeweilige Kultur bestimmt und charakterisiert.

Beziehungen werden in Organisationen und Institutionen ritualisiert, hierarchisiert und kontrolliert. Beziehungen sind lernbar - nicht als Instrument, mit dem man andere dazu bringen will, so zu sein, wie man es gerne hätte oder braucht. Es ist die Bereitschaft, Fähigkeit und Zuständigkeit, sich den anderen so zuzuwenden, daß man weiß und entscheiden kann, was man hat, um es zu geben, und was man von anderen annimmt, um es zu gestalten.

Wichtiger Baustein Immer entscheidet auch der andere darüber, wie eine Beziehung gestaltet werden kann, wie belastbar sie ist und was sie wirklich aushält.

Sie sind immer dynamisch, veränderlich und auch chaosfähig. Wenn Beziehungen sterben, können neue entstehen. Im Interesse von gesellschaftlichen Zusammenhängen sind viele Institutionen wie Ehe, Familie, Bildung und Recht entstanden. Diese Beziehungen müssen sich verändern, wenn sich gesellschaftliche Verhältnisse im Sinne der Evolution verändert haben. Das Bleibende kann nur geschätzt werden, wenn auch die Veränderung geachtet wird. Harmonien sind wichtig und notwendig, aber in Zeiten von Neuorientierungen sollen auch neue Harmonieordnungen gesucht und gefunden werden.

Beziehungen entstehen immer und überall: Alles und jeder, mit dem wir irgendwie - und sei es nur als innere Beschäftigung - zu tun haben, erhält für uns eine Bedeutung in Form von Beziehung. Beziehungen sind die Bedeutungsträger und die Bedeutungskonserven im Umgang mit der Welt, die uns umgibt. Jeder Versuch, die Welt in uns und um uns zu verstehen ist auch die Suche nach Beziehung.

Heute sind wir ganz besonders gefordert, persönliche Begegnungen - ein wichtiger Beziehungsbegriff - wieder "einzuüben". Jede Begegnung stellt eine Herausforderung an unsere Kommunikationsfähigkeit dar. Die Möglichkeiten vieler Begegnungen sind heute größer denn je, denn die Gesellschaften sind demokratischer geworden. Professor Bauer sieht daher in der Kommunikationserziehung einen wichtigen Baustein der zukünftigen pädagogischen Arbeit.

Beziehungen zählen zu den Schlüsselkompetenzen menschlicher Lebensgestaltung. Sie sind der Stoff, aus dem unser Selbstwissen und unser Wissen über andere entstanden ist. Beziehungen vermitteln uns das Wissen darüber, wohin und zu wem wir gehören, wo und wann wir "wer" sind. Sie begründen also Identität und das Identitätswissen über uns und über andere.

Wandel schmerzt Für alle Themen des Lebens, bei denen wir uns miteinander verbunden fühlen und bei denen wir merken, daß wir einander brauchen, werden wir bewußte Beziehungen aufbauen, diese dann aber manchmal auch wieder abgeben. Dafür brauchen wir eine bewußte Dauer-Selbstreflexion, die nicht von außen beherrscht wird.

Die Erkenntnis, daß viele Dinge nicht mehr auf dem Platz stehen, auf dem wir sie vermuten, kann sehr schmerzvoll sein. Schmerzvoll in bezug auf die Sicherheit die wir in bezug auf unsere alten Ordnungen gewonnen haben. Wir tun uns aber keinen Gefallen, wenn wir uns ständig nur auf der Basis von einmal gemachten Erfahrungen absichern.

Professor Bauer sieht das so: "Wir müssen in Zukunft lernen, uns auf der Basis von Visionen abzusichern. Das ist sicher schwierig. Dennoch meine ich, daß echte Sicherheiten heute nur im Umgang miteinander und in unseren Zielsetzungen und Visionen zu finden sind. Wenn wir uns ausschließlich auf gemachte Erfahrungen stützen, so sind wir verleitet, miteinander recht repressiv umzugehen." Der Begriff "Autorität" kommt jedoch von "auctoritas", was so viel wie "schöpfen" heißt. Es gilt also, in kreativen Ideen und Möglichkeiten Autorität zu finden. Das befreit uns gleichzeitig von dem unnötigen Druck beweisen zu müssen, daß alles, was wir erlebt haben, auch stimmen muß. Das muß es nicht und tut es auch nicht.

Neue Einstellungen Wir brauchen Veränderungen der Verhältnisse, weil in den "gewohnten" Verhältnissen so viele Dinge nicht funktionieren. Beziehungen helfen uns dabei. Nur wenn das eigene Verhalten einem anderen gegenüber "anders" dargestellt wird, hat der andere die Chance darauf (anders) zu reagieren. So wird der einzelne zum Verantwortlichen für die von ihm gewünschten Veränderungen.

Bauer dazu: "Personen und Persönlichkeiten sollten nicht länger nach dem Einheitsstil der Gesellschaft gebaut sein. Das, was wir brauchen, ist eine neue, dialogische Architektur von Identität. Es braucht Mut, um andere Statiken, andere Grundrisse und Dekorationen der Persönlichkeit aufzubauen. Es ist aber ein Mut der sich lohnt."

Um fähig zu werden, andere Kulturen, andere Nachbarschaften und Gegebenheiten anzunehmen, braucht es - neben gelungenen Beziehungen - auch die Bereitschaft zur Liebe. Bauer schlägt dazu vor: "Wir sollten auch ein gewisses Maß an"Liebesmüh aufbringen, um das Andere, das Fremde zu respektieren, gerade weil es anders ist. Das Andere zeigt uns ja immer auch eine Seite von uns, selbst die wir nicht kennen". So ist das Fremde, das wir integrieren, stets ein Gewinn in bezug auf das Eigene.

Wäre der Begriff der Liebe, in den wir so viel an Sehnsüchten und möglichen Glückswerten hineingelegt haben, nicht schon so abgegriffen, könnte die Bezeichnung "Bruderliebe", als Ausdruck von Verbundenheit mit nahen und weiten Nachbarn sowie mit der Familie und den Partnern die schönste und gelungenste Form "gesunder Beziehungen" sein.

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