Globart - © Foto: Stift Melk, Philipp Nicolai Krummhübler (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Judith Kohlenberger: Liebe im Kalkül

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Für Tage der Transformation 2022 hat die Kulturwissenschafterin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger die Festschrift verfasst: „Die Couragierten. Über die transformative Kraft der Zivilgesellschaft“. Ein Auszug.

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Für Tage der Transformation 2022 hat die Kulturwissenschafterin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger die Festschrift verfasst: „Die Couragierten. Über die transformative Kraft der Zivilgesellschaft“. Ein Auszug.

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Die wohl bekannteste Form des gewaltfreien Widerstands in der westlichen Welt war die amerikanische Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King, die häufig als Gegenpart zum gewaltsamen Protest der Black Panthers unter Malcom X hochstilisiert wird. Während die nähere historische Betrachtung die Binarität dieser Unterscheidung problematisiert, da gewaltfreier Widerstand oft vom Druck bewaffneter Kräfte im Hintergrund gestützt wird, so ist das Civil Rights Movement auch in europäischen zivilgesellschaftlichen Bewegungen durch seine Strategien des friedlichen Protests in Erinnerung geblieben. Die Sit-Ins, Freedom Rides und Busboykotte der 1950er und 1960er leben seitdem im kulturellen Gedächtnis weiter und wurden immer wieder aktualisiert und adaptiert. Zuletzt sah man Klimaaktivist:innen Autobahnen und Baustellen durch ihr bloßes Sitzen besetzen, bis sie irgendwann von der Polizei weggetragen wurden. Ihr Widerstand ist zwar friedfertig, aber lästig, disruptiv und damit in letzter Konsequenz transformativ.

Weniger tradiert als diese Strategien des zivilen Ungehorsams, die die Bürgerrechtsbewegung prägte, ist die Tatsache, dass Martin Luther King neben seiner Botschaft von Liebe, Überwindung von ethnischen Unterschieden und dem Wunsch, dass die Söhne (und Töchter) früherer Sklaven und die Söhne (und Töchter) früherer Sklavenhalter „miteinander am Tisch der Brüderlichkeit“ sitzen könnten, in seiner Konzeption des zivilen Protests weit darüber hinausging. „Es reicht nicht aus, wenn wir über Liebe sprechen,“ so King, „es gibt noch eine andere Seite, die Gerechtigkeit. Und Gerechtigkeit ist Liebe im Kalkül.“ Während Liebe als Antriebsfeder wohl für die meisten Couragierten, selbst jene der im Rückblick oft verklärten 1968er, zu flüchtig, kitschig, ja mitunter schon esoterisch klingen mag, so ist der Wunsch nach Gerechtigkeit einer, der sich konkretisieren, umsetzen und in Aktionen gießen lässt.

Moralischer Mut

Liebe ist nach innen hin gerichtet, ins Höchstpersönliche und Intime, Gerechtigkeit aber ist das, was Couragierte von der Welt da draußen einfordern. Gerechtigkeit als „kalkulierte Liebe“ ist also kein abgeklärtes, kaltes oder gefühlloses Konzept, sondern ein sachlicher, verstandesgetriebener und bewusster „Entwurf für die Neugestaltung der Welt auf der Grundlage einer radikal anderen Rationalität als Eigennutz.“ Erst durch sie, so King, erhielten Menschen den „moralischen Mut“, für ihre Rechte einzustehen und den Lauf der Geschichte nachhaltig zu ändern. Das ist sie also, die Triebfeder der transformativen Kraft einer lebendigen, mutigen, wahrhaft zivilen Bewegung, die dann am eindringlichsten wird, wenn Menschen für ihre eigenen Rechte einstehen, sich selbst organisieren und damit wahrhaft emanzipieren. Nicht für andere handeln, sondern im solidarischen Handeln mit anderen die eigenen Interessen stärken und damit erkennen: Im Grunde gibt es nur kollektives Interesse, denn eine Welt ohne die Ausgrenzung von manchen ist eine gerechtere, gesündere und reichere Welt für alle.

Heute lebt das Engagement gegen Rassismus and Diskriminierung in der Black Lives Matter-Bewegung weiter, die fast weltweit, und somit auch in Österreich, aufgegriffen wurde. In einer von Pandemie und Krieg gebeutelten Welt ist es gerade die junge und jüngste Generation, die nun gegen Rassismus, aber auch für Klimagerechtigkeit und die reproduktiven Rechte von Frauen protestiert und dafür mitunter nicht Anerkennung, sondern Abwertung, Hohn und Paternalismus getarnt als Sorge um ihre Schulbildung erntet. Schon banal klingt mittlerweile der Vorwurf, „die Jungen“ würden nur zum Feiern auf die Straße gehen und somit die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit durch Witzelei und Partystimmung verharmlosen. Dabei haben Bewegungen wie Fridays for Future oder die Donnerstagsdemos, die zuletzt im Rahmen der Ibiza-Affäre wiederbelebt wurden, einen weiteren Faktor verinnerlicht, um möglichst viele Menschen nachhaltig und dauerhaft für ihre Bewegung zu gewinnen: eine positive Zukunftsvision, gepaart mit Emotionalisierung, egal ob in Form von Wut, Freude oder Hoffnung. Psychologisch gesprochen können diese Gefühle in Handlungen übersetzt werden, weil sie begeistern und aktivieren, während Emotionen wie Angst oder Schmerz eher in Apathie und Resignation münden. Deshalb empfiehlt es sich, „die Stimmung leicht, lustig und humorvoll zu halten“, wie es Erica Chenoweth nennt – den bevorstehenden Erfolg zu feiern, statt sich in Empörung, Grantelei, Trauer oder Apathie zu flüchten. Angst lähmt. Wut treibt an. Aber Freude beflügelt.

Gemeinschaft und Spaß

Sich als Zivilgesellschaft zu engagieren, ist selten ein rein ideologischer oder gar staatstragender Anspruch, sondern geht mit dem legitimen Wunsch nach Gemeinschaft, Freundschaft, Austausch mit Gleichgesinnten, Freizeitgestaltung und ja, Spaß einher. Das tut der ernsthaften inhaltlichen Arbeit, die von zig meist ehrenamtlichen Couragierten geleistet wird, aber keinen Abbruch, sondern ist eine Form der ideellen Vergütung, die die finanzielle ersetzt. Engagement muss nicht ernst wirken, um ernst gemeint zu sein.

Der legitime Wunsch nach Spaß und Gemeinschaft, nach Leichtigkeit und Freude bedeutet nun leider nicht, dass zivilgesellschaftliches Engagement nicht äußerst unlustig enden kann, etwa im Gefängnis, mit Gewalt oder gar Tod. Das Potenzial zur Tragödie, das selbst den friedfertigsten Protesten innewohnt, hat sich nicht nur in den großen Kämpfen der Vergangenheit, etwa jenen für das Frauenwahlrecht, realisiert; es ist auch modernen Bewegungen inhärent, denken wir nur an die Gezi-Proteste in der Türkei oder den Euromaidan, die ukrainische Revolution der Würde.

Gerade die Couragierten, die sich mitunter persönlicher Gefahr aussetzen, um für ihr Anliegen einzutreten, wissen nur zu gut um die Breitenwirkung und Anschlussfähigkeit jener Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements, die nicht bierernst daherkommen – möge auch noch so viel auf dem Spiel stehen. Solch eine Ambivalenz tagtäglich zu navigieren, ist keine leichte Aufgabe. Und dennoch stellt gerade die Gleichzeitigkeit und Vielschichtigkeit ihrer Ausdrucksarten eine der größten Stärken einer lebendigen Zivilgesellschaft dar.

Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschafterin und Migrationsforscherin.

Nähere Informationen zu "Tage der Transformation 2023" von 31.8. bis 2.9. 2023 finden Sie hier.

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