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Pragmatische Wahlentscheidung

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Die regionalen Wahlen in Wien und Niederösterreich waren ein neuer Beweis dafür, daß die Mehrheit der Österreicher politischen Entscheidungen weiterhin in einer bemerkenswerten Nüchternheit gegenübersteht und jede Emotion — so sehr sie ab und zu da ist — bei den Wahlen zu unterdrücken sucht. Man kann daher seit vielen Jahren Wahlergebnisse, beispielsweise für Wien und Niederösterreich, einigermaßen Vorhersagen, etwa die Stabilisierung einer 2:1-Relation von SPÖ

und ÖVP in Wien und die Relation von 6:5 (ÖVP:SPÖ) in Niederösterreich. Soweit nun kleinere, wenn auch oft sehr wirksame Verschiebungen auftreten und (weil vorhersehbar) einen Wahlkampf als notwendig erscheinen lassen, sind sie in erster Linie keineswegs das Ergebnis eines Neu-Denkens der Wähler, sondern von Zufällen bestimmt, aber mehr noch das Ergebnis sachgesetzlicher Entwicklungen, denen nun eine Wahlpropaganda entgegenzuwirken versucht.

Diesmal:

Das Auftreten von Heinrich Drimmel war für das Ergebnis in Wien, für die relativ bedeutsame (obgleich zahlenmäßig kleine) Verschiebung mitbestimmend. Die Volkspartei hat nun in der Hauptstadt gegenüber Tausenden von Intellektuellen wieder ihr Gesicht zurückgewonnen. Bereits die Kandidatenliste der Volkspartei war nicht mehr eine „Verschwörung gegen die Intelligenz“ (ein Vorwurf, den Eberle einmal den Christlichsozialen gemacht hatte). Ebenso wurde die kluge Arbeitsteilung zwischen dem „Ideologen“ Drimmel und dem Praktiker Hartl weitgehend zustimmend zur Kenntnis genommen.

0 Eine wesentliche Ursache für die Änderung in den Proportionen der Wählerziffem sind auch die sozialen Umschichtungen. Es gibt nun einmal Bevölkerungssöhichten (zu denen die Intellektuellen als „Klassenlose“ nicht gehören), die auf Grund ihres sozialen Standortes und ihrer Position in der Eigentumsordnung geradezu aus der Natur ihres Interesses heraus geneigt sind, eine Partei zu wählen, die ihnen Vorteile zu bringen verspricht. In Wien ist der ÖVP der Verbeamtungsprozeß zugute gekommen und hat die Partei für Schichten ansprechbar gemacht, die ihr Weltanschaulich keineswegs besondere Sympathien entgegenbringea Anders als in Wien und wesentlich komplexer waren die sozialen Umschichtungen in Niederösterreioh. Die berufliche (nicht die örtliche) Landflucht entzieht der ÖVP noch Immer Menschen, die ihr bisher aus Tradition ihre Stimmen gaben. Auf der anderen Seite spürt nunmehr auch Niederösterreich den Prozeß der Verbeamtung. Die beiden gegenläufigen Entwicklungen zeigen sich nur in einem unentwirrbaren Saldo, so daß Kommentare lediglich nach eingehender Analyse möglich sind.

£ Jede Wahl wird auch von wahlwirksamen Zufällen mitentschieden, deren Gewicht um so stärker ist, je näher dem Wahltermin sie sich ereignen. Die Ansicht vieler, daß die Auseinandersetzungen in der SPÖ um Franz Olah das Wahlresultat beeinflußt hätten, findet in den Wahlergebnissen keine Deckung. Der ehemalige Innenminister hat sich im Wahlkampf in einer besonderen Weise für seine Partei engagiert und seinen persönlichen Anhängern keine andere Möglichkeit, sich für Ihn zu entscheiden, gegeben, als jene, über die Wahl seiner Partei für ihn einzutreten. Jedenfalls läßt eine erste Einsicht in die Wahlresultate nichts von einem „Olah- Effekt“ spüren. Auch der Zufall, daß die Veränderungen in Moskau knapp vor dem Wahltermin offenkundig geworden sind, hat der KPÖ kaum einen zusätzlichen Schaden zugefügt, wozu auch der Umstand beigetragen hat, daß die österreichischen Kommunisten sich rasch von jener Erscheinung, die man Neostalinismus nennt, distanziert haben. Die Kommunisten haben zwar Stimmen verloren, scheinen nun aber auf einen Kernbestand abgesunken zu sein, der kaum mehr erheblich reduzierbar ist, es sei denn durch den Generationenwechsel.

Die Freiheitlichen haben beachtliche Verluste erlitten, eine Spätwirkung des Verhaltens der FPÖ während der Habsburgkrise. Die FPÖ hat derzeit für viele, die sie als Protest gewählt hatten, nicht mehr den Charakter einer echten Oppositionspartei; sie ist also keine Massenbewegung des Widerspruchs. Anderseits ist aber anzuneh men, daß nunmehr die ÖVP das Reservoir an Wählerstimmen, das ihr die FPÖ seit einiger Zeit mit einem bemerkenswerten Nachdruck anbietet, ausgeschöpft hat und sich auf die „Wahlhilfe“ der Freiheitlichen in Hinkunft kaum verlassen kann.

Die Freiheitlichen im Osten unseres Landes müssen endlich erkennen, daß sie ein erheblich schmäleres Operationsfeld besitzen als sie anfänglich vermutet haben. Die Chancen der FPÖ, in Österreich eine echte Opposition zu begründen, liegen im Ausweis eines echten Rechtskonservatismus wie , er in Tirol und Vorarlberg praktiziert wird. Das Odium des „Ewiggestrigen“ kann die Partei der Freiheitlichen auch nur dann verlieren, wenn sie sich nicht als letzter Hort eines reaktionären Antiklerikalismus versteht. Die zweite Erkenntnis für die FPÖ ist wahrscheinlich die Tatsache, daß sie über eine außerordentlich große Zahl von Randwählern verfügt, über ein Plus und Minus von etwa 25 Prozent, deren Abgang und Zugang nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten sollte, weil die Partei seit Jahren von den Fehlern der Großparteien lebt, deren politische Anziehungskraft sie stets anzuzeigen vermag.

£ Die Kieinstparteien sind in Österreich nie yeyht interessant gewesen, obwohl sie für den Aufwuchs einer Opposition, an der es in unserem Lande mangelt, Bedeutung hätten. Die Föderalisten zogen aus den Ergebnissen der Präsidentenwahl falsche Schlüsse und vermochten nicht zu verstehen, daß man nicht sie, sondern eine Persönlichkeit gewählt hatte, daß man außerdem nicht für diese Persönlichkeit allein stimmte, sondern gegen einen Kandidaten, den seine Umgebung in einer unverantwortlichen Weise bewogen hatte, ein Risiko einzugehen, das ihm viele seiner Freunde nicht zumuten wollten. Nach ihrem unglücklichen Start müßte sich die EFP neuerlich konstituieren und nun endlich sagen, was sie wirklich sein will. Wogegen die Partei ist, weiß man nun zur Genüge. Man kann doch dem skeptischen Österreicher, dem man eine neue Marke anbietet, nicht einreden, daß „Europa“ allein schon die Qualität eines Programmes hat, mit dem man auch innenpolitische Probleme zu meistern vermag. Für einen programmlosen Poujadismus, für eine Partei der Parteigegner, ist in Österreich kein Platz. Der Wähler, der nicht die Absicht hat, eine der bisherigen und nun schon wieder klassisch gewordenen Parteien zu wählen, will als Ersatz keine Waren ohne jede Verpackung und ohne Gewichtsangabe. Dagegen kann man nicht annehmen, daß eine neue konservative Partei zwischen ÖVP und FPÖ völlig cháncenlos ist. Konservativ bedeutet aber mehr als ein Programm aus dem Mixer.

Keine Weltanschauungswahl

Der weltanschauliche Charakter von Wahlen ist um so geringer, je kleiner und übersichtlicher der Entscheidungsraum ist. In einem entgegengesetzten Verlauf zur Reduktion des Volumens der Wahlregion nimmt die Konkretheit der Entscheidungen bei Wahlen zu. Die Wahlen des letzten Sonntages sind kaum als Weltanschauungswahlen zu interpretieren. Welchen Sinn hätte es auch, von einer Weltansohauungs- wahl zu sprechen, daß jene drei Mäniner, deren Köpfe die zwei großen wahlwerbenden Parteien plakatiert hatten, durchwegs gläubige Christen sind? Auch der Sozialist Tschadek. Ebenso ist der wirkungsvollste Wahlredner der SPÖ in Niederösterreioh, Franz Olah, ein Mann, dem die Katholiken stets eine Offenheit gegenüber der Kirche testieren konnten.

Wenn wir an Wahlkämpfe der Ersten Republik denken, ist der Wandel im Verhältnis von Kirche und Partei bemerkenswert. Die Kirche befand sich auch diesmal eindeutig jenseits der politischen Auseinandersetzungen — wie in den letzten Jahrzehnten — und ließ keine Vermutung eines parteipolitischen Engagements aufkommen, obwohl sie deswegen nicht gewillt ist, zu schweigen, soweit weltanschauliche Belange Gegenstand von Entscheidungen sind. An diesem bemerkenswerten und hoffentlich bedankten Absentismus -der Kirche in Fragen der unmittelbaren Parteipolitik änderte auch die Tatsache nichts, daß Unzuständige in der

Verkleideter Protest

Für Kleinstparteien besteht derzeit keine Aufwuchsohance. Wer in der gegenwärtigen politischen Situation einer Kleinstpartei seine Stimme gibt, tut dies, um zu zeigen, daß er eigentlich gewillt war, ungültig zu wählen, aber seinen Protest in der Stimmabgabe für eine Miniaturpartei kleiden wollte. Jedenfalls sollten alle, die demnächst im Innenministerium die Errichtung einer neuen Parte anmelden, sich dessen bewußt sein, daß sie nur dann Erfolg haben, wenn sie

Öffentlichkeit auf die Kirche Regreß zu nehmen versuchten, etwa in der Form eines unbegründeten Angriffes auf den (katholisch-sozialistischen) Präsidenten des Wiener Stadtschulrates.

Das Ergebnis:

Die Wahlen des letzten Sonntages sind in einer Situation abgehalten worden, in der die ÖVP Bedingungen vorfand, wie sie für die Partei nicht hätten günstiger sein können: Die Bloßstellung der Freiheitlichen vor ihren Grenzwählern und eine neue Führung in Wien, die der Partei den Anschein einer neuen und anziehenden politischen Gruppierung gab. Die Entscheidung, welcher Partei man seine Stimme gibt, fällt lange vor dem jeweiligen Wahltermin. Nach einer Studie, die in der „Arbeiter-Zeitung“ vom 24. Oktober 1964 erwähnt wurde, sind es kaum zehn Prozent der Wähler, die erst ab Beginn des Wahlkampfes und von dessen Instrumenten bestimmt, ihre Entscheidung treffen. Sicherlich gibt es auch politisch Primitive, denen man mangels anderer Merkmale auch das Stimmrecht belassen muß, die sich sogar von einer Diskussion im Fernsehen in ihrem Wahlverhalten beeinflussen lassen. Die Mehrheit der Menschen, die ihre Stimme am Wahltag abgeben, haben sich aber lange vorher entschieden. Das gilt auch für die nächsten Nationalratswahlen. Der Wahlkampf, diesmal ohnedies mäßig und überlegt geführt, kann nur die Gewinnung weniger Prozente von Wählern zum Gegenstand haben. Die Bedeutung eines Wahlkampfes liegt daher immer mehr im Versuch, Wähler davon abzuhalten, eine andere Partei zu wählen. Die Wahlwerbung ist aus diesem Grund mehr das Ergebnis eines Werbenotstandes.

Der Trend zu den Großparteien war diesmal besonders bemerkenswert, aber keineswegs der Natur der politischen Entwicklung konform, sondern Index dafür, daß die Oppositionsparteien ihre Chancen nicht ausreichend nützen können, weil sie stets glauben, anders sein zu njüssen als es ihrer Eigenart, die der Wähler bei ihnen’min einmal sucht, entspricht. Man kann sich nicht gleichzetig den Großparteien gegenüber adaptieren und sie auf der anderen Seite bekämpfen. Wer das tut, muß unglaubwürdig wirken.

eine politisch ernstzunehmende „Ware“ anzubieten haben, es sei denn, man versteht die neue Partei selbst nur als lizenzierten Spaß. Eine Partei kann nur dadurch ernst genommen werden, daß sie selbst das Politische ernst nimmt und sich nicht vorweg als unparteiisch oder gar als parteigegnerisch ausgibt. Man kann nicht gegen die ganze politische Gattung „Partei“ sein und dann sich selbst als Partei anbieten. Für ein Verhalten dieser Art hat die Medizin einen Fachausdruck.

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