Wagner_Soeldner - © Foto: Imago / UPI Photo

Wagner-Söldner: Iwan kam zurück, lief mit einer Axt durch sein Dorf – und tötete

19451960198020002020

1953 sorgten entlassene Häftlinge nach einer verordneten Massenamnestie in Russland für eine Gewaltexplosion. 70 Jahre später könnte sich der sogenannte kalte Sommer wiederholen. Allen voran Jewgeni Prigoschins heimkehrende "Wagner"-Söldner lassen die Kriminalität steigen.

19451960198020002020

1953 sorgten entlassene Häftlinge nach einer verordneten Massenamnestie in Russland für eine Gewaltexplosion. 70 Jahre später könnte sich der sogenannte kalte Sommer wiederholen. Allen voran Jewgeni Prigoschins heimkehrende "Wagner"-Söldner lassen die Kriminalität steigen.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Sommer 1953 war in Russland, so heißt es, eher unwirtlich. Aber damit war weniger das Wetter gemeint. Im März war Langzeitdiktator Josef Stalin verstorben, nur wenige Wochen später wurde auf Initiative seines treuesten Gefolgsmannes, Innenminister Lawrenti Beria, eine Massenamnestie erlassen, von der rund 1,3 Millionen Strafgefangene profitierten. Über die Motive für diesen überraschenden Vorstoß sind die Historiker bis heute uneinig: War die Amnestie nur der profane Versuch, das völlig überdehnte Straflagersystem zu entlasten, indem man „unnötige Esser“ loswurde, oder sollte sie der große Auftakt zur bald einsetzenden Entstalinisierung werden?

Navigator

Liebe Leserin, lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Vielleicht war sie auch nur das zynische Kalkül des Machtmenschen Beria: Der zu erwartende Anstieg der Kriminalitätsrate durch massenhaft unterhaltslose Ex-Sträflinge hätte ihm gut als Vorwand gedient, die Zügel noch straffer anzuziehen, um sich als neuer starker Mann für die Nachfolge Stalins zu positionieren. Dass es dann ganz anders kam und Berija selbst noch vor Jahresende dem Henker überantwortet wurde, war damals noch nicht zu ahnen.

Druck und falsche Versprechungen

Unbestritten ist jedenfalls, dass überproportional viele Kriminelle in den Genuss der Amnestie kamen, was in der Folge zu einem merklichen Anstieg der Verbrechensrate führte. Ins kollektive Gedächtnis der Nation hat sich dieses Ereignis als „der kalte Sommer des Jahres 53“ eingeprägt, nicht zuletzt auch dank des gleichnamigen, sehr erfolgreichen Kinofilms von Regisseur Aleksandr Proschkin aus der noch frühen Perestroika-Phase unter Michail Gorbatschow.

Heute, siebzig Jahre später, könnte sich die Geschichte wiederholen – wenn auch in deutlich kleinerem Rahmen. Für die Betroffenen macht das aber keinen Unterschied. Das Phänomen massenhafter Begnadigungen ist seit etwa einem halben Jahr wieder zu beobachten, und zwar im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Häftlingen für die mittlerweile zahlreichen russischen PMCs (private military company). Wie jüngste Leaks zeigen, werden Gefängnisinsassen teils unter erheblichem Druck und mit falschen Versprechungen für den Kriegseinsatz in der Ukraine angeworben. Dies berichtete kürzlich die Menschenrechtsorganisation „Gulagu.net“ unter Berufung auf Dokumente aus dem Umfeld des Verteidigungsministeriums, die ihr zugespielt worden seien. Laut „Gulagu.net“-Frontmann Wladimir Osetschkin werden so pro Woche hunderte Sträflinge angeworben.

„Keine Drogen, keine Weiber vergewaltigen“

Eingeführt hatte diese Praxis der Chef der berüchtigten Söldnertruppe „Wagner“, Jewgeni Prigoschin. Der Deal für die Häftlinge: Straffreiheit und Begnadigung gegen den lebensgefährlichen Kampfeinsatz an vorderster Front. Wer nach sechs Monaten noch am Leben ist, kann als freier Mann zurück in die Heimat. Schätzungen gehen davon aus, dass bisher rund 40.000 Häftlinge dieses Angebot angenommen haben. Die Bürgerrechtlerin Olga Romanowa von der NGO „Russland hinter Gittern“ schätzt das Potenzial an solcherart rekrutierbaren Kämpfern aus den russischen Gefängnissen auf bis zu 250.000 Mann.

Die ersten „Wagner“-Heimkehrer aus dem Kontingent der Ex-Häftlinge sind vor wenigen Wochen in Russland angekommen, mittlerweile sollen es gut 5000 sein. „Nicht übermäßig saufen, keine Drogen nehmen und keine Weiber vergewaltigen“, mit diesen Empfehlungen entließ der „Wagner“-Chef seine Schützlinge. Für die meisten war es nur ein Abschied auf Zeit, der Besuch in der Heimat nur ein kurzer Fronturlaub. Viele Ex-Häftlinge haben bei „Wagner“ eine neue Familie gefunden, schwärmen in den Medien vom gegenseitigen Respekt innerhalb der Truppe, vom Kameradschaftsgeist und der Genugtuung, dem Vaterland und der Gesellschaft etwas zurückgeben zu können.

Millionen könnten zu Opfern werden

Einer, der Prigoschins Benimmregeln für den Fronturlaub nicht so ernst genommen hat, ist Iwan Rossomachin (28) aus der Oblast Kirow, eine knappe Tagesreise östlich von Moskau. Er kehrte Ende März in sein Heimatdorf Nowyj Burjez zurück, wo er 2019 eine Frau im Streit getötet hatte. Für die Tat wurde er 2020 zu 14 Jahren verschärfter Straflagerhaft verurteilt. Letztes Jahr ließ er sich als Söldner für „Wagner“ anwerben und wurde in die Ukraine geschickt. Bereits am zweiten Tag nach seiner Rückkehr war das ganze Dorf in Aufruhr. In dem trostlosen Weiler leben rund 200 Menschen, überwiegend ältere Frauen. Rossomachin war ständig alkoholisiert, lief mit einer Axt und einem Messer bewaffnet durchs Dorf, drohte den Leuten, sie alle umzubringen. Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, wie Rossomachin die Scheiben von geparkten Autos mit einer Axt zertrümmert.

Der Kommandant des zuständigen Polizeikommissariats in der benachbarten Kleinstadt Wjatskije Poljany erklärte den Dorfbewohnern in einer eigens einberufenen Bürgerversammlung, dass man Rossomachin vorübergehend in Gewahrsam genommen habe, ihn aber wieder freilassen müsse. Der Unruhestifter habe aber zugesagt, in zwei Tagen wieder abzureisen.

Ein verurteilter Mörder kann sich von seiner Schuld reinwaschen, wenn er sich dazu bereit erklärt, in den Krieg zu ziehen und in der Ukraine weiter zu morden.

Dazu sollte es nicht mehr kommen. Iwan Rossomachin wurde zum zweiten Mal zum Mörder. Wie die Medien später berichteten, kannten sich Täter und Opfer, eine 85-jährige Pensionistin aus dem Nachbarort, von früher. Über das Motiv für die Bluttat ist nichts bekannt.

Der Mord ist kein Einzelfall, Berichte über von Kriegsheimkehrern begangene Gewaltverbrechen häufen sich. Das gilt natürlich auch für reguläre Soldaten bzw. für jene Zeitverpflichteten, die sich von der Aussicht auf schnellen Reichtum zum freiwilligen Dienst in der Armee haben verlocken lassen. Was allerdings die Straffälligkeit begnadigter ehemaliger Häftlinge so speziell macht, ist die Erosion elementarer Rechts- und Gerechtigkeitsprinzipien,die mit ihr einhergeht: In Russland kann sich heute ein verurteilter Mörder von seiner Schuld reinwaschen, wenn er sich dazu bereit erklärt, als Söldner in der Ukraine weiter zu morden. Überlebt er seinen Einsatz, ist er nicht nur rehabilitiert, sondern kommt in vielen Fällen sogar als Kriegsheld nach Hause. Olga Romanowa meint, die Ex-Sträflinge hätten eine klare Vorstellung davon, „wie sie Verbrechen begehen und einer Bestrafung entgehen können – sie melden sich einfach noch einmal für einen weiteren Kriegseinsatz“.

Die russische Zivilgesellschaft steht diesen neuen Entwicklungen völlig unvorbereitet gegenüber. Der Sozialwissenschafter und Philosoph Grigori Judin empfindet das als einen katastrophalen Fehler und vermutet, die politische Führung in Russland gehe davon aus, dass es im Land bald Millionen von Opfern geben werde, da rege dieses Problem gerade niemanden auf. Auf die Frage, ob sich mit dem Phänomen der durch den Kriegseinsatz rehabilitierten Ex-Sträflinge der gesellschaftliche Stellenwert und die Wahrnehmung von Gewalt ändere, meint Judin: „In Russland herrscht auch jetzt schon die Überzeugung vor, dass die Gewalt der Regelfall ist. Und solange Putin im Kreml sitzt, wird sich diese Überzeugung nur noch weiter verfestigen.“

Olga Romanowa sieht das ähnlich. Die Organe der Rechtsprechung seien ihrer Glaubwürdigkeit beraubt, ein Gerichtsurteil habe heute praktisch keine Bedeutung mehr. „In den Köpfen der Menschen ist der Konnex zwischen Verbrechen und Strafe verloren gegangen. All das wird man über viele Jahre wieder reparieren müssen.“ Humanistische Werte, Bildung, das Streben nach einem besseren Leben, Hilfe für seinen Nächsten – all das habe keinen Stellenwert mehr: „Gewalt wird zum einzigen Faktor, der für das Überleben in Russland von Nutzen ist.“

Navigator

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung