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Neue Kirchenmusik in Deutschland

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Die großen Entscheidungen der Kirchenmusik unseres Jahrhunderts fallen in dessen drittes Jahrzehnt. Hier entsteht aus der Dynamik der geistigen Strömungen eine neue Kunst. Den Geist, den manche Hymnen Werfels atmen, oder der in den späten Dichtungen Rilkes begegnet, könnte man säkularisierte Religiosität nennen. Aehnlich liegt es bei den bildenden Künsten: deutsche Maler, wie Nolde oder Dix, greifen religiöse Themen auf, ohne daß’ ihre Werke etwa in dem gleichen Sinne als religiöse Kunst bezeichnet werden könnten, wie dies wohl bei Rouault, für die Plastik oft bei Barlach möglich wäre.

Erst allmählich tritt die Musik in den Kreis der anderen Künste. Ihre Bindung an die Kirche wird nicht ausschließlich durch die eigene Entwicklung bestimmt, sondern (im Gegensatz zu den anderen Gattungen der Musik) von der Kirche wesentlich mitgeformt. Eine ihrer großen Kraftquellen ist die Einschmelzung des Mittelalters, für die katholische Kirchenmusik aus ihren Wurzeln und ihrem ständigen Umgang mit der eigenen Vergangenheit naturgegeben, für die evangelische aus unmittelbaren Kontakten geistiger und künstlerischer Art gewonnen.

Ein charakteristisches Merkmal deutscher Kirchenmusik ist das selbständige Nebeneinanderbestehen beider Konfessionen, ihre Abgrenzung ebenso wie ihre gegenseitige Befruchtung. Der Gegensatz der Konfession ist nicht durch einzelne Namen oder Begriffe auszudrücken, sondern ist in erster Linie ein Gegensatz zweier Entwicklungsströmungen, deren getrennte Wurzeln sich noch in ihren feinsten Ausstrahlungen erkennen lassen. In der Entwicklung der katholischen Kirchenmusik wirken bis heute die Macht eines fast zweitausendjährigen Erbes, die Tradition von Jahrhunderten; dagegen wiegt der Name eines einzelnen Komponisten leicht. Die evangelische Kirchenmusik aber steht und fällt letzten Endes mit ihrer schöpferischen Eigenleistung.

Im katholischen Raum steht die Musik noch zu Beginn des Jahrhundert im Zeichen des Erbes. Sie kennt eigentlich nur zwei Probleme: die Bewahrung des Gregorianischen Chorals und die Beherrschung des von Palestrina geschaffenen Vokalstils, welcher, da ihm alle inneren Fundamente entzogen waren — nur zu epigonalen Erzeugnissen führen konnte. Träger dieser’’ Bestrebungen ist der Cäcilien-Verband, dessen Erneuerung in unserer Zeit ein Symbol für den Wandel der Anschauungen wird.

Am Anfang des Jahrhunderts liegt ein Ereignis, das sich für die einzelnen Länder notwendigerweise verschieden auswirkt: das „Motu proprio” von 1903 und die nachfolgenden päpstlichen Verordnungen. Zu ihnen gehörten die Einführung des neuen Chorals durch Pius X., dessen Editio Vaticana die ältere Medicaea ablöste und damit den Sinn für die Reinheit des Chorals, seine formenden Kräfte und seine Bedeutung für die Gesamtheit der Kirchenmusik schärfte. Dazu kommt in neuerer Zeit die Einschmelzung des Liedgesanges, welche tragfähige Brücken zum protestantischen Choral hinüberschlug.

Die Entwicklung ist wesentlich an drei geographische Zentren gebunden. Das erste in Süddeutschland lehnt sich an die mächtige nachbarliche Tradition in Oesterreich an und verliert dadurch niemals den Zusammenhang mit der überragenden Persönlichkeit Bruckners. Dahinter treten die anderen kirchenmusikalischen Zentren: Regensburg, Freising, später München, zurück. Die Tradition Regers wird vor allem durch seinen Schüler Haas weitergeführt. Die Merkmale seiner Musik wirken sich gerade im Raum der Musica sacra besonders positiv aus. Haas erweckt nach älteren Vorbildern den Typus der deutschen Singmesse wieder zum Leben. Seiner Musik eignet eine kräftige, einfache Melodik.

die zum/ Mitsingen auffordert; in der Verbindung einer herzlichen, fast naiven Frömmigkeit mit einer kultivierten Tonsprache liegt die Bedeutung seines Werkes. Von anderen Komponisten sollen hier nur Fr. Philipp und O. Jochum erwähnt werden. Wie überall auf diesem Sektor reiht sich der Komponist in den großen Zusammenhang der Musica sacra selbstverständlich ein. An allen Pflegestätten katholischer Kirchenmusik gibt es eine Fülle schöpferischer Talente, gibt es Kantoren und Organisten, welche ihre Musik in einem tieferen Sinne in den Dienst der Kirche stellen.

Während der ostdeutsche Katholizismus in Schlesien immer die Bedeutung einer Enklave hatte und um den Bestand seiner Grenzen besorgt sein mußte, stützt sich die westdeutsche Tradition auf eine alte und ruhmvolle Vergangenheit. Die Auseinandersetzung mit dem Choral und eine lebendige Bruckner-Pflege haben sich in der rheinischen Kirchenmusik in bemerkenswerten Formen abgespielt. In der Generation der lebenden Komponisten zeichnen sich Lemacher, Roeseling und Schroeder ab, welche gerade aus der heimatlichen Tradition in behutsamer, aber konsequenter Ausnutzung der Gegebenheiten einer neuen Tonsprache eigene Ausdrucksmöglichkeiten finden.

Die Entwicklung der evangelischen Kirchenmusik umspannt einen Raum von nur vier Jahrhunderten. Dennoch ist auch bei ihr eine Rückbesinnung auf ihre Ursprünge nicht nur erkennbar, sondern es fließen ihr aus der Wiedergeburt der Musik der Reformationszeit entscheidende Kräfte der Erneuerung zu. Das gilt für die ein- und mehrstimmige Musik. Die Wiederherstellung des protestantischen Chorals in seiner alten polymetrischen Struktur, schafft den Boden für eine Erneuerung des alten Motettenstils.

Es gibt für die evangelische Kirchenmusik keine geographischen Bezogenheiten;: / es gibt aber auch keine ganz scharfe Grenzsetzung zwischen einer kirchlichen und nichtkirchlichen Musik. Der protestantische Kirchenmusiker ist nicht so eng an Kirche und Liturgie gebunden wie der katholische; auch die Bindungen der Musik selbst an die allgemeine Entwicklung sind fließender und vielschichtiger. Nicht jede auf einen geistlichen Text komponierte Musik ist Kirchenmusik; es gibt eine Fülle von Ueber- gängen. Das Kriterium rückt nach innen und wird dadurch schwerer greifbar.

Die Geschichte der evangelischen Kirchenmusik unseres Jahrhunderts beginnt merkwürdigerweise mit Max Reger, der selbst überzeugter Katholik war. Nicht nur seine eigene Musikalität wurzelt in Bach; darüber hinaus sind seine großen Orgelkonzeptionen ohne den protestantischen Choral undenkbar. Sein geistliches Werk wurde die große Abstoßfläche einer Entwicklung, deren Bedeutung auch durch die neue Orgelbewegung nicht gemindert werden konnte.

Im Mittelpunkt des Blickfeldes aber steht die große, innerhalb des evangelischen Raumes verwirklichte Begegnung mit alter Musik, welche über Bach hinaus zu Lechner, Schütz und schließlich bis zur niederländischen Polyphonie vorstößt. Die Neue Musik hatte das Stadium des Experiments und der reinen Vitalität überwunden, als sie sich den Problemen eines eigenen Vokalstils zuwandte. Die Bindungen der neuen Tonsprache: eine reine Melodik und eine sich daraus ergebende lineare Polyphonie, ebenso wie eine eigenständige Rhythmik, schufen eine Nähe zum Mittelalter, welche den dazwischen liegenden Jahrhunderten unerreichbar war. Daß diese Nähe nicht zur Nachahmung wurde, ist eine zunächst schöpferische Entscheidung und zugleich die Verwurzelung der Komponisten in ihrer eigenen Zeit. So entstehen Vokalwerke, vorwiegend Motetten, von J. N. David, Kaminski, Thomas, Distier und Pepping. Diese Werke gehören nicht nur zu den Erfüllungen der Neuen Musik in der Zeit vor 1933, sondern stellen gleichzeitig eine glückliche Verknüpfung von musikalischer Tonsprache und religiöser Gesinnung dar. Ihr Werk steht nicht isoliert in der Zeit, sondern hebt sich aus einer Produktion von einer gewissen.

Dichte heraus; auch Hindemith, ‘ Fortner und FI. Simon sind mit beachtenswerten Emzelwerken auf kirchenmusikalischem Gebiet an ihr beteiligt.

Wägt man die genannten Namen gegeneinander, so stoßen wir auf Gegensätze, welche über die einzelne Persönlichkeit hinausreichen. Musiker wie Pepping oder Distier finden auf diesem Kraftfeld ihre eigensten Erfüllungen, während David oder Fortner ihr nur in Ausschnitten angehören. Auch das gehört zur Eigenart der Gattung. K. Thomas ist nach dem Vorstoß seiner beiden kühnen Jugendwerkb (Passion, Messe) als Komponist aus unserem Blickfeld zurückgetreten, während Pėpping und Distier durch die Stetigkeit ihrer Produktion dem Raume der Kirchenmusik auch da in einem weiteren Sinne verbunden bleiben, wo ihre Thematik ihn überschreitet. Pepping schreibt in seinem Passionsbericht des Matthäus eine Motettenpassion im Geiste Lechners. Der frühvollendete Distier steht in den echten Bindungen des Kontors und Organisten. Wenn er in seinem Jahrkreis für jeden Sonntag des Kirchenjahres eine zwei- oder dreistimmige geistliche Chormusik bereitstellt, so bedeutet das eine Gebrauchsmusik im ursprünglichen Sinne dieses Begriffs. Ihre Bindungen wachsen von der sichtbaren Bestimmung in die innere Struktur hinein: man kann diese kleinen Stücke je nach vorhandenen Möglichkeiten solistisch oder chorisch besetzen, mit oder ohne Instrumente musizieren, ja sogar aus ihrer wechselnden Ordnung neue Großformen zusammenstellen. Diese Freizügigkeit entspricht der Aufführungspraxis alter Musik, wie sie dem Mittelalter geläufig war und bis in die Suitenmusik des 17. Jahrhunderts hinüberreichte. Das Werk dieser Komponisten, welches aus der Widerstandsbewegung der evangelischen Bekenntniskirche im Nationalsozialismus eigene kulturpolitische Bedeutung gewann, ist nicht ohne Nachfolge geblieben. Junge Musiker wie Reda, Driessler, Micheelsen, im katholischen Raum Ahrens und H. Schubert sind um eigene schöpferische Lösungen bemüht.

Der Begriff Geistliche Musik umspannt einen Fragenkreis von brennender Aktualität. Die Musica sacra wird in unserem Jahrhundert in den reißenden Strom künstlerischer, kultureller und soziologischer Problematik hineingezogen, in dem sie sich als bewahrendes Element behauptet, ohne sich den neuen Forderungen zu-verschließen. Ihre Wutzel ist die Wiederherstellung des religiösen Auftrags, wie er für die gesamte Kunst des Mittelalters bestand, späteren Jahrhunderten aber verlorengegangen war. Auch heute wie der umgreift dieser Auftrag den gesamten Bereich der Künste. Le Corbusiers Wallfahrtskirche in Ronchamp ist eine zunächst religiöse, dann erst architektonische Konzeption. Wir haben ähnliche Erlebnisse in den Schöpfungen Otto Bart- nings, welcher diesen Auftrag klar formuliert: DerKirchenbausollsichaufseine uralte Aufgabe besinnen — die in jedem Material und jeder Technik schlummernde Geistigkeit in den Dienst der Religion zu stellen, die Materie zur Form zu erlösen. t)ie gleiche Durchdringung religiöser und künstlerischer Intuition prägt das Werk der Dichter, wie Claudel, Bernanos oder des Religionsphilosophen Guardini. Unsere größten Musiker: Strawinsky in seiner Psalmensymphonie und seiner Messe, Honegger in seiner J e a n n e d’A r c au bücher oder Frank Martin in seinen Oratorien Dona nobis pacem und Gol- g o t h a schaffen monumentale Kompositionen, deren tiefste Wurzeln in ihrer geistigen Haltung liegen. Kleineren wird die Heimkehr pur Liturgie die Brunnenstube einer g e- radezu eruptiven Fruchtbarkeit (Söhngen). Der Verkündigung durch das Wort tritt die Verkündigung durch Musik, deren Träger Kantor und Organist sind, an die Seite. Geradö in der Musik unserer Zeit werden spezifisch kultische Werte erkennbar, die nicht immer unmittelbar mit einer geistlichen Thematik verbunden sind. Strawinsky oder Orff bauen aus Melos und Klang einen eigenen Raum, welcher den Charakter des Kultischen trägt.

Die geistliche Musik erfährt durch die Begegnung mit allen Phasen der neuen, aber ebenso durch ihre echte Verschmelzung mit den tragenden Elementen der mittelalterlichen Musik, für die sie erst in unserer Zeit reif geworden ist. eine Ausweitung von beispiellosem Ausmaß. Zugleich verbindet sie sich in ihrem Streben nach gültiger Objektivierung der religiösen Inhalte mit den großen Erkenntnissen der Dichter und Philosophen.

Wir verweisen auf das Buch Hans Mersmanns: Deutsche Musik des XX. Jahrhunderts ut Spiegel des Weltgeschehens”. Der . obenstehende Auszug ist auch als Sonderdruck im Verlag Clock und Lutz, Nürnberg, erschienen.

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