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Kirchenmusik am Kreuzweg

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Kaum ein Gebiet der Musik ist so sehr von Problemen und Widersprüchen erfüllt wie die Kirchenmusik. Einerseits zur Mitgestaltung des Gottesdienstes (nicht etwa bloß zur Verschönerung) berufen und selbst ein Bestandteil der Liturgie, ist sie anderseits den sehr Weltlichen Prozessen zeitlicher Formund Stilentwicklung und schon darin sehr verschiedenen Beurteilungen ausgesetzt. Ihr kirchliches Wertmaß steht in ihrer Beziehung zum gregorianischen Choral, der Eigenmusik der Kirche, unverrückbar fest, wird aber samt den daraus erfließenden Ergebnissen oft nur mit dem Munde anerkannt, praktisch dagegen unter Berufung auf örtliche Gepflogenheiten und andere Ausreden wirkungslos gemacht. Als gesungenes Wort Gottes absolut verbindlich und über persönlichen Ressentiments stehend, wird sie dennoch dauernd durch die Mühle der Verdeutelung gedreht. Autoritäre Auslegungen nicht immer geschulter Kleriker und Laien verzeichnen ihr Gesicht ebenso wie Histordzismus, Gewohnheit und Oberflächlichkeit. Die Berufung im Geiste ist oft nicht mehr spürbar, eher das Gegenteil.

Dieser Zustand ist gegenwärtig so weit gediehen, daß sie fast nur mehr Angriffen von allen Seiten ausgesetzt ist. Ihre Freunde sind zu einem Häuflein zusammengeschmolzen, ihre Gegner sind Legion geworden. Die Kirchenmusik hat freilich viele Aspekte, aber keinen mehr, der nicht Widerspruch erführe. Mit ihrer historischen Entwicklung weiß die heutige Richtung nichts mehr anzufangen, ihrem neu-liturgischen Gesicht aber fehlt die künstlerische Prägung. Ihre universale Sprache wird plötzlich nicht mehr verstanden, die Landessprachen aber widersetzen sich, zumindest vorderhand, ihrer künstlerischen Formung. Der Notbehelf macht sich breit, der nie zum Heil, sondern immer zum Dilettantismus führt, meist auf schnurgeradem Wege.

Wie konnte es so weit kommen, und Wo liegen die Wurzeln dieser Zerstörung? Erfüllt die Kirchenmusik ihre gottesdienstliche Aufgabe nicht mehr, ist sie zum Leerlauf geworden? Sind die schwankenden und höchst unsicheren „neuen Töne“ wirklich liturgischer als die alten? Jakob de Kerles „Preces“, die schon einmal die Kirchenmusik gerettet haben, dürften von den Neuliturgen vermutlich als praktisch unbedeutend abgelehnt werden, obwohl sie anderen Meinungen zufolge mehr geistliche und künstlerische Qualität und Würde an sich haben als alle neuliturgische Musik zusammen. Anderseits findet der Einzug von Jazz- und Schlagerelementen und -rhythmen in die Kirche ihre überzeugten geistlichen Fürsprecher. Woran soll sich in diesem Sturm und Drang der Gläubige halten?

Der Versuch einer Entwirrung des Chaos ist schwer und muß in der Vergangenheit beginnen. In Entwicklung und Praxis der Kirchenmusik haben sich im Laufe der Zeit Dinge eingeschlichen, die zunächst als Vorzüge galten, sich aber heute als Fehler erweisen. Einer der größten war wohl der Griff der polyphonen Kirchenmusik nach der Gesamtheit der liturgischen Gesangtext der Messe und der dadurch bedingten Ausschaltung des Gemeindegesanges. (Bei den Protestanten ist dieser Fehler vermieden worden; auch in Bach-Kantaten, also höchster Kunstmusik, gab es den Gemeindechoral.) Das Fehlen des Volksgesanges beim Hochamt entzog einerseits die Kunstmusik der Teilnahme des Volkes, anderseits die Volksgesänge, gemeint sind die deutschen Kirchenlieder, immer mehr dem künstlerischen Aspekt. Sie wurden seicht und sentimental, was freilich auch eine textliche Angelegenheit ist. Es fehlte die An passung an die Ausdrucksweise der Generation. Die des Volksgesanges entratende Kunstmusik aber wurde mehr und mehr simplifiziert auf einen einzigen Stil und schließlich nur noch auf ein paar Kompositionen dieses Stils, wodurch, wenigstens in Österreich, eine Handvoll Instrumentalmessen ständig und immer wieder musiziert wurden — und manchenorts noch werden. Die „Messe“, als Komposition gesehen, wurde mehr und mehr zur Schablone, aus der sie euch ernst gemeinte Bestrebungen nicht mehr befreien konnten, weil die Kirchenchöre durch Überalterung und Abschaltung aller neuen Musik immer weniger leistungsfähig wurden, oft auch nicht von den fähigsten, sondern von den billigsten Chorleitern geführt waren.

Gegen diese Schablone griff die Jugend zur Selbsthilfe. In Ablehnung einer Musik, die sie nicht mehr ansprach, nahm sie ihre Substanz aus dem weltlichen Sektor, aus Tanz-, Unterhaltungsmusik und Negro-Spirituaüs. Ihr daraus einen gravierenden Vorwurf zu machen, scheint mir an sich nicht gerecht; auch die Barockmusik, besonders die des Rokoko, hat Elemente der Symphonie und der Oper in die Kirchenmusik eingeführt, dennoch ist die Sakralität ihrer Musik stichfest. Trotzdem macht die Jugend mit ihrer „Jazz-Kirchenmusik“ einen Urfehler, das ist ihr Ungestüm, mit dem sie von gestern auf heute eine jahrhundertealte Entwicklung auf den Kopf stellen will. Sie vergißt, daß die Kirchenkomponisten der Barockzeit Meister waren, die wohl fremde Elemente aufnahmen, sie aber durch eben ihre Meisterschaft vollkommen in ihren Personal- und Zeitstil einschmolzen. Es gibt keine Tanzformen in der barocken Kirchenmusik, selbst wenn zuweilen ein Takt oder ein Motiv daran erinnern. Dagegen eine reine Kopie notengetreu oder auch bloß formal aus der Unterhaltungsmusik in den Gottesdienst übertragen, ist zumindest Dilettantismus, denn es kann nur von Dilettanten geschehen. Wenn dazu noch die liturgischen Texte durch solche allgemeinen Inhalts ersetzt sind, ist diese Musik weiter vom Konzil entfernt als der „lustigste“ Mozart. Denn Kirchenmusik ist eine Sache der Meister, nicht der Pfuscher, wie ja auch Christus unser Herr und Meister ist, nicht unser Tanzpartner.

Eine neue Kirchenmusik und sie ist uns brennend nötig — wird nicht von profanen Musikformen, nicht von fremden Rhythmen und Modeliedern ausgehen können, sondern aus der Eigenmusik der Kirche zu schöpfen sein, dem gregorianischen Choral — und für die Muttersprache aus dem deutschen Volkslied. In beiden liegt eine unerschöpfliche Musiksubstanz, die immer neue Blütezeiten der Kirchenmusik ermöglichte, so oft man sich zu ihren Quellen neigte. Und ebenso brennend nötig sind die Meister, die solches vollbringen. Nicht die deutsche Gregorianik und nicht der Schlager können dieses Wunder vollbringen, sondern der echte lateinische Choral und das echte deutsche Volkslied. Und es geschieht nicht just dann, wenn man es gerade braucht, sondern es wächst langsam wie die Bäume. Schließlich ist Kirchenmusik Gottesdienst, und demütiges Warten gehört zu ihrem innersten Wesen. Wo sich aber Ansätze einer neuen kirchenmusikalischen Kunst zeigen (und dazu gehört auch das neue deutsche Kirchenlied), wird man nicht in der Tradition verharren dürfen, sondern sich dem Neuen aufschließen, das seine Stimme erhebt. Jedem auserwählten Ding drückt Gott sein Zeichen ein. Es ist zu sehen, zu hören, zu spüren. Dieses Zeichen allein wird das Chaos entwirren, nach ihm wollen wir suchen.

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