6705363-1963_49_18.jpg
Digital In Arbeit

Form und Fülle

Werbung
Werbung
Werbung

Von Anfang an hat die liturgische Erneuerungsbewegung die Kirchenmusik grundlegend beeinflußt, nie aber stärker als gegenwärtig, da aus den schüchternen Versuchen und Erprobungen Gültiges gewachsen ist und unaufhaltsam durchbricht. Unbeirrbarer Wille zur Teilnahme des Volkes an den liturgischen Gesängen, nicht nur in der Volkssprache, sondern auch beim lateinischen Amt, zwingt die Komponisten zu einfacherer Struktur, zu schlichten musikalischen Formen, die neben den symphonischen Gebilden Mozart- scher und Brucknerscher Kirchenmusik sich, unscheinbar ausnehmen, weshalb sie vielerseits als Verarmung empfunden werden. Doch diese angebliche Verarmung bedeutet in Wahrheit eine ungeahnte Bereicherung: an innerem Leben ebenso als äußerer Formung gottesdienstlicher Musik, eine Fülle, die erst durch bindende Weisungen des Konzils geordnet und vereinheitlicht werden dürfte. Zu neuen Möglichkeiten sakralmusikalischer Gestaltung sind alle Tore aufgetan, und aus dem Neuen ergibt sich immer wieder lebendiges Neues. Dieses Neue bedeutet nicht immer auch neue Musik, sehr oft sogar eine Heimkehr zur vergessenen alten, und beglückend stellt sich immer wieder deren unmittelbare Verwandtschaft zu vielen Kompositionen der Gegenwart heraus. Was überwunden wird, ist nicht die Musik, weder die alte noch die neue, sondern ihre Versteifung: Schablone, Wiederholung, Überfülle, Schema. Das sagt sich leicht, aber es bedurfte eines halben Jahrhunderts, bevor die Früchte dieser Arbeit jene Wirkungsbreite erreichten, die uns heute erstaunt und erfüllt.

Am Beginn dieser Entwicklung gab es nur zioei Formen der gesungenen Messe: das (vom Chor gesungene) Hochamt und die (vom Anfang bis zum Ende durchgesungene) deutsche Singmesse. Beide Formen haben ihre Monopolstellung längst eingebüßt. Sie waren Schablone geworden und trotz gelegentlicher künstlerischer Hochgestaltung nicht mehr — oder doch nicht mehr überzeugend — Ausdruck der zur Messe versammelten Gemeinde. Heute haben wir in Hochamt und Betsingmesse aktive Teilnahme der Gemeinde an Gebet und Gesang, und wir können nicht sagen, in dieser oder jener Form, sondern in immer neuen Möglichkeiten, die der Gestaltungskraft und -fähigkeit der Verantwortlichen, Geistlichen und Laien und ihrer Verantwortungsbewußtheit entspringen. Einen Spiegel dieser Vielfalt, ohne sie abzugrenzen, gab die 2. Internationale Bildungswoche für katholische Kirchenmusik in Rheinfelden (Schweiz), in der ein Kirchenmusikerkreis aus Basel und Umgebung ein Arbeitsprogramm gestaltete, das ein wesentlicher Beitrag neuen kirchenmusikalischen Lebens genannt werden kann, wohl geeignet, dpr Erstarrung auf der einen, dpm kritiklosen Vorwärtsstürmen auf der anderen Seite positiv, und ausgleichend entgegenzuwirken.

Die Bildungswoche, unter dem Präsidium des Bischofs von Basel und des Abts von Einsiedeln, der Patronanz und Mitwirkung des schweizerischen Liturgischen Instituts sowie der Cäcilienverbände Basel, Straßburg und Freiburg (Breisgau), war Kirchenmusik, von der Kirche her gesehen, nicht etwa ein Experiment auf eigene Faust, wohl aber eines im Geiste des „Omnia restaurare in Christo“. Fünfmal wurde die heilige Messe gefeiert und fünfmal auf grundverschiedene Weise gestaltet, nicht ein einziges Mal hingegen nach dem eingefahrenen Schema des vom Chor allein gesungenen Hochamts. Beim ersten Hochamt in der St.-Josefs-Kirche in Rheinfelden sang der Chor der Martinsfinken (Kaufbeuren) das Proprium von Heinrich Isaac (Introitus, Alleluja und Communio), Graduale und Offertorium gregorianisch, das Ordinarium (Missa mundi) wurde von Schola und Volk alternatim gesungen. Im zweiten Hochamt (St.-Michaels- Kirche, Basel) war eine neue Form das Offertorium für Schola und Orgelversetten, das Graduale für Kantor, alles andere für Gemeinde, Kantor, Chor und Orgel von Ernst Pfiffner. Die Betsingmesse wurde mit Gesängen von Oswald Jaeggi (Psalm 8), Pfiffner, J. S. Bach und Einheitsliedern gestaltet. Im Choralamt sang eine Schola ad hoc das Proprium Salve sancta parens, das Gloria more ambrosiano sowie mit der Gemeinde Kyrie aus der Allerheiligenlitanei, Sanctus und Agnus XVIII. Selbst in der Missa lecta hatte das Orgelspiel (Prof. Tagliavini, Bologna) wie in allen Gottesdiensten nicht Füllsel und Zwischenmusik zu sein, sondern Atmosphäre zu schaffen und in dieser Art die fehlenden Sänger zu vertreten.

In den geistlichen Konzerten kam sowohl neue als alte Musik zu Wort. Die Martinsfinken sangen Werke von Gabrieli, Schütz, Carl Orff (Laudes creaturarum) und Fritz Büchtger (Evangelienmotetten), der Kammerchor Johannes Fuchs (Zürich) Mozarts Missa brevis in F und Tedeum, die Evangelische Singgemeinde Bern „Die Versuchung“ von Brunner, „Christ, der Du bist der helle Tag“ von Leonhard Lechner und den „Totentanz“ von Hugo Distler. Orgelkonzerte (Rudolf Walter, Heidelberg; Eduard Müller, Zürich), Kurse (unter anderem „Einführung in die neue Kirchenmusik“ von Hermann Schröder, Köln) und Vorträge rundeten das Programm, das durch Ortswechsel und erholsame Zwischenspiele (Besuch der römischen Ruinenstadt Augusta Rauracorum) Zeit und Raum für persönliche Begegnungen und deren Vertiefung ließ.

Dieses hier nur in Auszügen wiedergegebene Programm der Bildungswoche bestätigt das Bestreben der Veranstalter, das auch das unsere sein soll: jede Isolation zu vermeiden, alles zu umfassen und zu erfüllen, zumal die internationale Begegnung zeigte, daß die entscheidenden Probleme überall die gleichen, ihre Lösungsmöglichkeiten dagegen verschieden sind; über alle Verschiedenheiten hinaus aber aus der Fülle der Formen die Form der Fülle zu finden, aus der Schablone in die Neugestaltung, aus dem Verharren in die immerwährende Bewegung zu gelangen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung