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MUSIK IN FARBE UND FORM

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„Musikalische Graphik“ — Eine neue Disziplin an der Wiener Staatsakademie

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„Musikalische Graphik“ — Eine neue Disziplin an der Wiener Staatsakademie

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In seinem „Glasperlenspiel“ beschreibt Hermann Hesse eine eigenartige „Meditation“: Der Musikmeister spielt dem Schüler ein Thema vor. Dieser horcht in seinem Innern nach, sieht etwas sich bewegen, etwas schreiten, tanzen und1 schweben, er sucht die Bewegung zu erkennen und zu lesen wie die Kurven der Linie eines Vogelfluges. Der Musikmeister sagt: „Du hast beim Meditieren etwas gesehen. Die Musik ist dir als Figur erschienen. Versuche, wenn du dazu Lust hast, sie nachzuschreiben.“ Und der Schüler versucht, die Figur nachzuschreiben, in welche sich ihm jene Musik verwandelt hatte.

Mit diesem Problem hatten sich schon die Maler Philipp Otto Runge und Hans Thoma, aber auch Goethe, Adalbert Stifter oder die Tänzerin Isadora Duncan auseinandergesetzt. Goethe war es auch, der an sich selbst die „magische Gewalt“ der Musik erfuhr, die imstande ist, „des Menschen Wesen durch und durch zu dringen.“ Ist sie doch die innerlichste (Nietzsche), die mächtigste (Diderot), die rein-menschlichste, allgemeinste Kunst (Jean Paul), aller Künste Gipfelpunkt (Kungfutse), und so war es nur naheliegend, daß der Wiener Kunsterzieher Oskar Rainer schon vor dem ersten Weltkrieg Versuche unternahm, zur Belebung der Gestaltungsimpulse und der persönlichkeitsbildenden Kräfte im Zeichenunterricht die Musik wirksam zu machen. Eine im Jahre 1925 in Druck erschienene Publikation „Musikalische Graphik“ — so nannte er seine Methode — war ein erster Markstein der Entwicklung. Die von ihm ins Leben gerufene Arbeitsgemeinschaft baute die Methode in Forschung und Erziehung aus.

Seit einem Jahr wird musikalische Graphik an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien theoretisch und praktisch gelehrt. Die praktischen Ergebnisse dieses Jahres und eine Auswahl weiterer Arbeiten (Bildbeispiele) aus dem Archiv für musikalische Graphik zeigt gegenwärtig eine frei zugängliche Ausstellung in der Wiener Musikakademie (Konzerthausgebäude, vom 24. September bis Ende Oktober).

Praktisch handelt es sich um ein Zeichnen und Malen nach Musik. Konzentriertes Versenken in Musik verhilft dazu, ein Klangerleben sichtbar wiederzugeben, Melodien in Linien und Klänge in Farben auszudrücken. Es ist also ein Umsetzungsprozeß, ein Wandlungsvorgang, der über das rein sinnenhafte Erleben hinaus zu einer Wesensschau führt. Ohr, Auge und Hand werden dabei gleichzeitig betätigt. Mit drei Sinnen erlebt man stärker, umfassender, sozusagen plastischer. Diese Methode erfaßt den ganzen Menschen. Sie fördert das Verständnis für Musik, Farbe und Form, und sie belebt die schöpferische Phantasie. Auch vermeintlich Unbegabte kommen bei einiger Übung nicht selten zu Gestaltungen, die an Volkskunst gemahnen. — Besondere Anregungen durch musikalische Graphik erfährt der Ausdruckstanz. „Jedes Erlebnis“, sagte schon um die Jahrhundertwende Isadora Duncan, „jedes Gefühl läßt sich durch eine Linie darstellen, und jede Linie muß sich tanzen lassen", kann also zur Tanzanregung werden.

Erstmalige Versuche mit musikalischer Graphik im Rahmen der Ausbildung für künstlerischen Tanz (Prof. Rosalia Chladek) erzielten tatsächlich in mehrfacher Hinsicht interessante Resultate, obwohl die Jugendlichen keine besondere zeichnerische Vorbildung und Sonderbegabung mitbrachten. Etwas vom Wesen der Musik wurde damit im wahren Sinne des Wortes deutlich „vor Augen geführt“ und so klarer erfaßt. Wesenszüge der Musikerpersönlichkeit, aber auch charakteristische Eigenheiten der Jugendlichen selbst wurden optisch wahrnehmbar. (Musikalische Graphiken sind „Psychogramme".) Darüber hinaus findet auch die Volkseigenart ihren Niederschlag in Farbe und Form. So ergaben etwa die Nachschriften nach einem ukrainischen Fuhrmannslied eckige, „vierschrötige“ Ornamente in Schwarz, Grün und „Erd“farben (Braun, Rotbraun bis Orange). Ebensolche Formen und Farben zeigen aber auch Wollstickereien, glasierte Krüge oder Teller aus der Ukraine. Ein „persischer Flötentanz“ hingegen inspirierte zu weich geschlängelten Linien sowie zum vorherrschenden Farbklang von Grauviolett und mattem Grün. Die Linien entsprechen nicht nur dem weichen, luftigen Flötenklang, sondern auch der S-förmigen Kompositionskurve im persischen Kunstgewerbe, und die Farben Violett und Grün finden sich auffallend häufig in der persischen Buchmalerei und in der persischen Keramik. Das „Traumhafte“ solcher Formen und Farben ist „wie ein Spiegel der iranischen Seele“ (Ernst Diez, Iranische Kunst) und atmet die Atmosphäre der MäTchen aus „Tausendundeiner Nacht“.

Musikalische Graphiken nach einer Rhapsodie von Brahms zeigen merkwürdige Ähnlichkeit mit den herben, gebrochenen Farben und mit der konstruktiven, formstrengen Malweise von Lyonei Feininger. Eine Beziehung dieses Malers zu Brahms ist zwar nicht bekannt, aber er war sehr musikalisch (er hat selbst 13 Fugen komponiert) und fand, daß das Wesen Bachs, dem er überaus zugetan war, „in seiner Malerei zum Ausdruck komme . Nun empfand Clara Schumann wiederholt Brahmssche Musik als „Bachisch“. Die beiden ersten Takte der Rhapsodie sind eng verwandt mit einem Bach-Thema aus der 2. englischen Suite. Seiner innigen Beziehung zu Bach (das monumentale Schiuß- thema seiner letzten Symphonie etwa stammt aus einer Bach- Kantate) hat Brahms wohl seine klassische Form mitzuverdanken.

Auch den Geist einer Zeit spiegelt musikalische Graphik.

Musik der Gotik, der Renaissance, des Barock, des Rokoko, des Impressionismus oder des Expressionismus und so weiter führt zu Graphiken, die typische Formen und Farben dieser Zeitstile aufweisen. Die Nachschrift eines frühgotischen Pfingstliedes gemahnt an die inbrünstige Glut gotischer Farbglasfenster, Barockmusik leitet zu den pfeilergleichen Pilasterformen und zu breiten, wuchtigen Spiralen, den sogenannten „Stemmspiralen." dieser Zeit. Das Linienspiel nach einem Mozart- Menuett zeigt die gelöste Anmut des Rokoko, wie sie überraschend ähnlich an Kunstwerken zu beobachten ist, an Schönbrunner Porzellanöfen, an den Wänden des „Millionenzimmers“ oder an der Stuckdecke des Raumes in der Domgasse, wo Mozart seinen „Figaro“ komponierte. Bühnenbilder zu Werken der Musik können reich befruchtet werden, wenn ihr formaler Aufbau und ihre Farben, unmittelbar aus dem Geiste der Musik erwachsen, sichtbar gewordene Musik erleben lassen und so einem „Gesamtkunstwerk“ dienen, wie es schon Goethe und Richard Wagner erstrebt haben.

D r theoretische, auch für Außenstehende zugängliche Lehrgang an der- Musikakademie befaßt sich mit empirischen Vergleichen zwischen Klang, Farbe und Gebärde anhand von Musik und Bildbeispielen, unterstützt von Erkenntnissen bedeutender Persönlichkeiten. Untersuchungen über den Ausdruckswert von Intervall, Farbe und Sprachklang (Sprachklang der Lyrik ist Musik) fördern die Wesensschau in allen Bereichen der Kunst. Es wird also eine Art musischer Allgemeinbildung vermittelt. — Musik- und Kunsterzieher gewinnen dabei anregendes Material für die „Querverbindungen“ der musischen Fächer und damit für eine Belebung und Vertiefung des Unterrichts. — Musikalische Graphik ist ein audiovisueller Bildungsweg, der an Ohr und Auge gleichzeitig appelliert und so den Menschen von mehreren Seiten her ergreift. Sie bedeutet keine Belastung mit Wissensstoff, sondern vielmehr einen geradezu notwendigen Ausgleich gegenüber den Wissensfächern, eine Entspannung des Intellekts, ein Wecken von Gefühlserlebnissen.

Dirigieren ist dem Tanzen verwandt. Bülow pries Johann. Strauß als genialen Dirigenten: „Ich bin noch ganz erfüllt davon, Herz und Kopf tanzen in mir weiter.“ Die sichtbare Gebärde einer Melodie spielt eine große Rolle beim Dirigenten, der nicht bloß den „Takt schlägt“, sondern, wie bereits Liszt oder Nikisch, Linien in die Luft schreibt, die den Bewegungen der Melodie folgen und die innere Organik des Melodischen nachzeichnen (Friedrich Herzfeld). Ist aber solches Linienspiel der Hand- und Armbewegungen des Dirigenten nicht eigentlich eine bewegte, lebendige musikalische Graphik?

Kompositionsschüler, Sänger und Instrumentalisten ziehen ebenso Gewinn daraus, wenn sie die „innere Organik“ einer Musik anschaulich und somit deutlicher erleben. Der Geiger handhabt seinen Bogen als Ausdrucksmittel ähnlich wie der Zeichner den Stift oder der Maler den Pinsel. Der Vergleich von Klangfarben und Farbklängen steigert den Sinn für musikalischen Ausdruck. Arnold Schönberg hatte unter Laien Menschen gefunden, deren Aufnahmsorgane „viel feiner waren als die der meisten Fachleute“, und er kannte Maler, die für „Musik empfänglicher waren als die meisten Musiker“. Und bereits Schumann warnte, man solle Musik nicht allein in den Fingern, sondern auch im Kopf und im Herzen haben. Virtuose Technik

Bach: Orgelfuge in g-molt, die Albert Schweitzer als „musikalische Spätgotik“ bezeichnet hat, in der einfache, kühn geschwungene Linien zu einem lebendigen Ganzen zusammengeführt werden. Neben Kennzeichen des „style ilamboyant" ist in dieser Graphik das konstruktive Element Bach’scher Musik abzulesen genügt nicht. Eine starke innere Beziehung zu den Ausdruckselementen tut not.

Auch der Musiktherapie kann musikalische Graphik eine Hilfe sein. Musik wirkt stärker, wenn man dabei selbst aktiv tätig wird. Das spürt jeder Instrumentalist, Sänger oder Tänzer. Die Technik macht die Menschen immer mehr unselbständig, unaktiv, passiv. So werden sie zwangsläufig „patientes“ (also Patienten, das heißt „Leidende“). Wer aber den Eindruck von Musik selbsttätig gestaltet, der wird „aktiv“ und damit aus dem Stadium eines Patienten herausgehoben. „Erschaffend konnte ich genesen, erschaffend wurde ich gesund“ (Heine). Gleichzeitig kann das dapjit verbundene intensivere Erleben der Musik sowiesu das Beanspruchen mehrerer Sinne, also des“ y,ganzen“ Menschen, die Wirkung einer Musik auf Kranke bedeutend steigern.

Jeder schließlich, auch der kunstinteressierte Laie, erfährt durch musikalische Graphik eine Bereicherung seines Natur- und Kunsterlebens. „Eine Linie ist eine Kraft“ (van de Velde). Wer eine Linie erlebt, der erlebt auch diese Kraft. Ebenso sind Farben Kräfte. Wer alle diese Kraftströme unmittelbar aufnehmen kann, findet auch leichter den Weg zu abstrakter Kunst. Und wer sich bemüht, zwischen Kunstbereichen Bezüge, also Gemeinsames zu entdecken, der wird auch leichter zu Mitmenschen Kontakt finden. Menschen, die einer Harmonie zwischen Klängen und Farben nachgehen, werden besser miteinander „harmonieren“..

„Es überrascht nicht, wenn es ein Österreicher ist, der die Wechselwirkungen zwischen bildnerischem Ausdruck und dem Musikalischen eingehend untersucht hat“, schreibt in seinem Buch „Erfassen und Gestalten“ der Altmeister der Kunsterziehung, Ludwig Praehauser, über Oskar Rainers „Musikalische Graphik“, die, wie er betont, dazu beiträgt, „daß alle Pflege des Ausdrucks soviel als nur möglich vor sich gehe innerhalb der Urverwandtschaft aller Ausdrucksgebiete und ihres Ineinanderwirkens, denn nur so werden schöpferische Kräfte geweckt, und nur von da aus können sie gedeihen."

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