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Algerien: Pulverfaß vor Europas Toren

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Gibtes friedenschancen in dem blutigen Konflikt, der Algerien zu zerreißen droht? Ein Gespräch mit dem Fundamentalismus-Experten Bassam Tibi.

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Gibtes friedenschancen in dem blutigen Konflikt, der Algerien zu zerreißen droht? Ein Gespräch mit dem Fundamentalismus-Experten Bassam Tibi.

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DIEFURCHE: 1992 unterband das Militär in Algerien den zweiten Durchgang der Parlamentswahlen und damit den sicheren Sieg der Islamischen Heilsfront FIS. Der Westen schaute bei dieser Initialzündung für das blindwütige Blutvergießen weg. Sehen Sie eine Chance darin, daß sich einflußreiche Staatsmänner nun wieder für Algerien interessieren? BASSAM TIBI: Ich halte es für ausgeschlossen, daß der Westen etwas tun kann, um das Blutvergießen zu verhindern. Das Dilemma liegt darin, daß Algerien sehr wichtig für den Westen ist, etwa wegen seiner Gas- und Ölvorkommen für Frankreich. AVenn die Fundamentalisten die Macht ergreifen und so der Zerfall Algeriens weitergeht, schwappt das über auf Marokko und Tunesien. Es können Migrationsschübe bis nach Deutschland und Österreich kommen, laut französischer Schätzungen eine Million Asylanten in wenigen Monaten. Würde Algerien ein fundamentalistischer Staat, würde dort praktisch jeder Frankophone zum Mordkandidat und daher auswandern. Das kann Europa nicht verkraften, deshalb ist es besser, das Problem vor Ort zu lösen, aber eine Lösung ist äußerst schwierig-

DIEFURCHE: Woher nehmen Sie die Annahme, daß eine Million Asylwerber nicht verkraßbar wären3 TIBI: Sie müssen diese Leute finanzieren.

DIEFURCHE: ... weil sie nicht arbeiten dürfen.

TlHl: Juristisch stimmt das. Aber selbst wenn: Wo sollen Sie arbeiten? Es gibt in Deutschland vier Millionen Arbeitslose, darunter auch viele Migranten, Türken ...

DIEFURCHE: Die verdienen zwefeilos Aufmerksamkeit. Aber die „Verkraft-barkeit” ist doch eine Frage der Prioritäten Und Deutschland wie Osterreich zählen zu den reichsten Ländern Tili]; Wenn Sie etwa in Deutschland für die Asylanten die Steuern erhöhen würden, schaffen Sie damit nur Bechtsradikalismus. Ich glaube, es ist wichtig für die Demokratien in Europa, das Gedeihen von Bechtsradikalismus in Grenzen zu halten. Aber das ist ein anderes Thema.

DIEFURCHE: Setzen Sie Hoffnung in den Versuch von Staatspräsident Lia-mine Zeroual, den nach vielen Jahren Einzelhaft freigelassenen histoiischen FIS-Politiker Abassi Madani als Vermittler einer rein algerischen Friedenslösung aufzuhauen? TlUl: Obwohl Ende September ein einseitiger Waffenstillstand der FIS begonnen hat, finden weiterhin Gewaltaktionen statt. Die kommen von GIA (Groupe Islamique Arme, frz. für Bewaffnete Islamische Gruppe, Anm.). Und diese GIA ist nicht faßbar. Mit wem wollen Sie da den Frieden verhandeln? Das sind 30 bis 50 Banden.

DIEFURCHE: Also kein Hoffnungsschimmer?

TlHl: Doch. Die jetzige Regierung besteht aus zwei Lagern, einerseits den Eradicateurs (frz. für „Ausmerzer”, Anm.), Militärs, die die Islamisten ausmerzen wollen, und andererseits Zeroual, der für den Dialog ist. Er hat aber nicht das letzte Wort in der Regierung. Es ist daher wichtig, seinen Flügel zu stärken, auch militärisch. In aller Offenheit: Mit der GIA können Sie nur militärisch reden, Gewalt nur mit Gewalt zähmen. Verhandeln kann man nicht mit jemandem, der Kinder umbringt und Frauen die Kehle durchschneidet. Am besten wäre es, wenn arabische Staaten eine Schutztruppe schicken würden und die Europäer das finanzieren würden, aber die arabischen Staaten möchten sich nichf einmischen. Eine militari sehe Intervention europäischerseits halte ich in Algerien aber für absolut schädlich, weil folgenreich.

DIEFURCHE: Wohl auch wegen der schmerzhaften Kolonialgeschichte ...

TIBI: ... und wegen des Zerfalls der Macht. Die GIA ist kein einheitlicher Rlock, dem man auf die Finger klopfen kann.

DIEFURCHE: Würden Sie der Aussage des französischen Politologen Bruno Etienne im profil zustimmen, daß gewisse Militärs Banden von Halbwüchsigen sogar zur Gewalt aufstacheln, um den Frieden zu hintertreiben?

TIBI: Genaue Kenntnisse darüber, wer die Dialogbereiten und wer die Eradicateurs sind, haben weder Etienne noch ich. Diese Vermutungen stützen sich auf die Tatsache, daß die Armee in den letzten Wochen Dutzende Massaker hätte verhindern können. Diese Morde verschlechtern den Ruf der Islamisten und der ganzen Regierung. Damit verstärkt sich die Position der Militärs, „die Alternative zu uns sind diese Mörder. Wollt ihr sie haben?”

DIEFURCHE: Wie wichtig ist denn die ökonomisch-soziale Komponente? Zwei Drittel der unter 25jährigen sind ohne Job...

TIBI: Das ist der Knackpunkt. Als Algerien 1962 unabhängig wurde, gab's 8,5 Millionen Algerier. Schon bis 1993/94 waren's 30 Millionen. Wenn Sie heute durch Algier gehen, sehen Sie Jugendliche an den Häusern lehnen. Man nennt sie die „Mauerstüt-zer”. Diese Leute haben keine Arbeit, sie sind frustriert. Das ist das Reservoir der Islamisten. Diese jungen Leute wissen, daß es Wohlstand in Europa gibt und sie in Armut leben. Sie hassen den Westen. Dieser Haß wird islamistisch formuliert. Der Fundamentalismus ist ein Sozialproblem. Sie müssen eine Strategie entwickeln für diese Generation, die ohne Aufgaben und Perspektiven ist.

DIEFURCHE: Sie verwenden den Begriff Fundamentalismus. Was ist so falsch daran, sich an den Fundamenten zu orientieren'

TIBI: Da ist gar nichts falsch daran. Das Forschungsteam der amerikanischen Akademie der Wissenschaften zu Fundamentalismus definiert Fundamentalisten als Menschen, die sich aus den Fundamenten der Religion heraussuchen, was ihnen paßt. Sie politisieren die Fundamente.

DIEFURCHE: Z.um Beispiel? Tini: Zum Beispiel gibt es in den Fundamenten der islamischen Tradition keine klare Verbindung von Staat und Beligion. Wenn jemand dennoch für die Einheit von Staat und Beligion als Gottesherrschaft auftritt, dann ist er Fundamentalist.

DIEFURCHE: Wurzeln die Konflikte nicht auch in der Instrumentalisierung der islamischen Kultur? In den sechziger Jahren wurde sie zur Stiftung einer neuen Identität für die lange kulturell wie politisch an Frankreich angeschlossene algerische Nation herangezogen Wird man da Geister nicht mehr los, die man rief?

Tini: Ab dem Jahr 1830 haben die Franzosen Algerien nicht als Kolonie, sondern als Departement-Outre-Mer (DOM, Übersee-Provinz, Anm.) behandelt und die arabische Kultur praktisch ausgemerzt. Bei der Unabhängigkeit 1962 gab es nur eine Minderheit in der algerischen Flite, die ein Gespräch auf arabisch führen konnte. Die ab Mitte der sechziger Jahre geführte Politik der Arabisierung konnte daher nicht mit Algeriern gemacht werden. Man hat dafür Zehntausende arbeitslose Lehrer aus Ägypten geholt. Es läßt sich belegen, daß diese vorwiegend Moslembrüder waren. Eine weitere Fehlentwicklung war, daß es für die jungen Algerier und Algerierinnen aus dem Arabisierungsprogramm keinen Platz im Staat gab. Der war monopolisiert von der frankophonen Elite an der Macht, die sich nicht als parasitäre Staatsklasse gegeben hat, obwohl sie das war. Sie sagten: „Wir haben Algerien befreit und wir verdienen die Früchte der Unabhängigkeit.” Jeder, der ein Moudjahid, ein Rriegs-veteran, war, galt als berechtigt, den Staat auszuplündern. Die Frankophonen haben die Arabisierung mitgetragen, ohne zu wissen, daß sie damit in den arbeitslosen Jugendlichen ihre Gegner heranziehen.

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