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Junge, weibliche, queere Literatur Österreichs: Der Kalbstrick bleibt im Stall

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Jung, unangepasst und weiblich - in der österreichischen Literatur herrscht ein neuer Ton.

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Jung, unangepasst und weiblich - in der österreichischen Literatur herrscht ein neuer Ton.

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Der österreichischen Literatur – oder was man gemeinhin dafür hält – haftete schon immer ein Impetus der Renitenz an. Selbst wenn man nationalphilologische Zuschreibungen mit gutem Grund ablehnt, lässt sich nicht abstreiten, dass die bekannten kanonisierten Autorinnen und Autoren Österreichs allesamt einen rebellischen Gestus pflegten und pflegen. In unterschiedlicher Ausprägung und Zielrichtung zwar, doch der Protest ist ihren Texten eingeschrieben. Er ist sozusagen die DNA der österreichischen Literatur. Natürlich ist das, was man mit verschiedenen Kriterien unter dem Mantel einer österreichischen Literatur subsumieren kann, in Wahrheit viel zu divergent, um daraus ableiten zu können, wie selbige denn nun beschaffen sei.

Als besonders wichtig, besonders gut, besonders österreichisch erachtet wird aber offensichtlich nicht das Gefällige, Beruhigende, Konformistische. Bernhard, Jelinek, Winkler, Streeruwitz – sie alle arbeiten sich an den sozialen und politischen Verhältnissen in Österreich ab, sprachgewaltig prangern sie an, was falsch ist in diesem Land, an diesem Land. In keinem anderen deutschsprachigen Land wurden die bekanntesten Gegenwartsautorinnen und -autoren so oft mit dem Prädikat „Nestbeschmutzer“ verunglimpft wie in Österreich.

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Nicht nur politisch sind sie rebellisch, auch sprachlich gibt es eine Neigung zur Subversion, zur Überschreitung bis hin zur offenen Provokation, Jandl, Wiener, Aichinger, Mayröcker kommen einem da sofort in den Sinn. Kritik an der Politik, an der heimischen Mentalität, Sprachkritik und Sprachzweifel gehen oft Hand in Hand in Österreich. Die Renitenz, das könnte man vielleicht kritisieren, endet meist am österreichischen Schlagbaum, aber gut, an Stoffen fehlt es nicht.

Nach all diesen großen Namen kommt die gute Nachricht: Um die nächsten Generationen muss man sich keine Sorgen machen. Die österreichische Literatur der letzten Jahre, abseits der großen, allseits bekannten Platzhirsche, ist jung, wild, sehr modern und schert sich wenig um nationale Zugehörigkeiten. Sich an Österreich abzuarbeiten, ist ihr meistens zu fad, und wenn, dann macht sie es satirisch charmant wie Elias Hirschl, der in „Salonfähig“ narzisstischneoliberale Cliquen aufs Korn nimmt, die verdächtig an einen gewesenen Bundeskanzler und seine Apostel erinnern. Einen Vorteil bringt die Globalisierung immerhin mit sich: Der Horizont wird weiter, es muss nicht mehr die Engstirnigkeit jedes zweiten Dorfes in jedem dritten Tal grausam zelebriert werden. Der Kalbstrick bleibt im Stall.

edelbauer - © Klett-Cotta
© Klett-Cotta
Literatur

Die Inkommensurablen

Roman von Raphaela Edelbauer
Klett-Cotta 2023
352 S., geb., € 25,70

Eine der größten Entdeckungen der letzten Jahre ist Raphaela Edelbauer. Geht man nach dem Titel ihres neuen Romans, „Die Inkommensurablen“, gibt es keine Vergleichsgröße, die man an ihr Werk anlegen könnte. Das stimmt zum Teil tatsächlich. Ihr Debütroman „Das flüssige Land“ steht noch deutlich in den Traditionslinien großer österreichischer Vorbilder, das liegt schon an den Themen. „Das flüssige Land“ ist ein Antiheimatroman, der sich mit der verdrängten Nazi-Vergangenheit Österreichs auseinandersetzt. Es gibt zwar durchaus Verbindendes in Edelbauers Werk, etwa die Faszination für unterschiedliche Wissenschaftsgebiete, doch Edelbauer schlägt in jedem Roman einen neuen Ton an und wagt sich mit nüchterner Begeisterung an einen neuen Stoff. Nach „DAVE“, einem dystopischen Spiel mit den Abgründen Künstlicher Intelligenz, für das sie 2021 mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, springt sie in „Die Inkommensurablen“ in den Vorabend des Ersten Weltkriegs. Man muss darüber hinweglesen, dass die Dialoge manchmal etwas künstlich wirken, das Natürliche, die Titelwahl deutet es an, steht bei ihr nicht im Vordergrund. Edelbauers neuer Roman ist eine rauschhafte Mischung aus bekannten Topoi – ihre drei Hauptfiguren schickt sie etwa durch eine freudianische Wiener Nacht, dass Schnitzler nur so seine Freude gehabt hätte – mit originellen Wendungen und Perspektiven, Ausflüge in die Psychoanalyse, die Traumdeutung und militärische Lagebesprechungen inklusive.

Das Gegenteil von inkommensurabel sind Helena Adlers zwei Romane „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und „Fretten“, ihr aktueller Roman. Mit ihrer bestechenden Hauptfigur zeigt Adler gleich zweimal, wie man österreichische Antiprovinzliteratur neu deuten kann. Da wird in bester österreichischer Tradition gesudert und geflucht, was das Zeug hält, doch den Wortwitz und die zündelnde Infantin wird man so schnell nicht vergessen, auch wenn sich beide Texte stilistisch und konzeptuell stark ähneln.

Immer lauter wird die Menge, bis sie schreit, sich das Zögern aus dem Leibe schreit, bis sie sicher ist, dass das die Antwort auf alles ist: „Theater!“

Elisabeth Klar

Die junge österreichische Literatur (jung bezieht sich im Übrigen nicht zwangsläufig auf das Alter der Autorinnen) ist nicht nur sehr weiblich, sie ist auch von queeren Strömungen durchzogen, die so gar nichts mit der rechthaberischen Wokeness, wie sie in den sozialen Medien zelebriert wird, zu tun haben, sondern Identitäten und Queerness kreativ feiern. Elisabeth Klar und Kaśka Bryla sind hier zu nennen. In ihrem Roman „Himmelwärts“ von 2020 schickt Klar eine Füchsin namens Sylvia los und lässt sie in eine Menschenhaut schlüpfen. Es stellt sich heraus, dass sie nicht das einzige Tier in Menschengestalt ist, und es beginnt ein Spiel mit Maskeraden und Transformation, das magisch ist, aber die Abgründe der Realität nicht negiert. Auch der gerade erschienene Roman der Wiener Autorin greift auf die Motive des Spiels, der Verkleidung und das Verschwimmen biologischer Grenzen zurück. „Es gibt uns“ erzählt von einer Theateraufführung in einer postapokalyptischen Welt, in der Figuren aus der griechischen Mythologie in Shakespeare’scher Sommernachtsmanier Walpurgisnacht feiern, während ein mysteriöses, vom Publikum sehnlichst erwartetes Schleimwesen namens Müxerl zur Rettung schreiten soll.

Das klingt wild und schwer zu verstehen, und genau so ist der Roman. Es lohnt sich allerdings, die eigene Verwirrung zu Beginn zu ignorieren, dann entfaltet sich die ganze Wirkung dieses wilden und rücksichtslosen, rauschhaften und verstörenden Textes. Die Welt ist verstrahlt, alles scheint verloren, die Lebewesen sind für uns in ihrer Form kaum verständlich, doch Rettung und Trost liegen im gemeinsamen Spiel, im Konsum von Geschichten, in gemeinsamen Ritualen, versinnbildlicht durch das Theater. Zugegeben, „Es gibt uns“ ist kein Buch für ein großes Publikum, aber in seiner ästhetischen Radikalität ist es eine große Bereicherung für die österreichische Literatur.

Kaśka Brylas 2022 erschienener Roman „Die Eistaucher“ erzählt von einer Gruppe Jugendlicher, die zur Selbstjustiz greifen, nachdem sie beobachten, wie Polizisten ein unter Drogen stehendes Mädchen im Park ablegen, nachdem sie es sexuell missbraucht haben. Dieser realistischen, schonungslos erzählten Ebene mischt Bryla eine fantastische unter, in der ein Longboard scheinbar zur Zeitreisemaschine mutiert und Maupassants Gruselfigur Horla sein Unwesen treibt.

es gibt uns - © Residenz
© Residenz
Literatur

Es gibt uns

Roman von Elisabeth Klar
Residenz 2023
158 S., geb., € 24,–

Während Klars artifizieller Stil vermutlich eher für Fans queerer, formal anspruchsvoller Literatur interessant sein wird, ist Bryla eine zugänglichere Autorin, die es versteht, die komplexe Struktur, in der philosophische, tagespolitische und popkulturelle Elemente zusammenfließen, spannend wie einen Krimi umzusetzen.

Wie wenig nationale Grenzziehungen der österreichischen Literatur gerecht werden, zeigt sich an Autorinnen wie Barbi Marković, die als gebürtige Serbin mit ihrer Literatur zweifellos zu den jungen, modernen Impulsgeberinnen des österreichischen Literaturbetriebs zählt. Ihren ersten Roman „Ausgehen“, einen Thomas-Bernhard-Remix, schrieb sie auf Serbisch – übersetzt wurde er von der in Sarajevo geborenen Autorin und Übersetzerin Mascha Dabić. „Superheldinnen“ kann man getrost als sehr österreichischen Roman bezeichnen, geschrieben wurde er trotzdem zunächst auf Serbisch, dafür spielt Markovićs erster auf Deutsch geschriebener Roman mit dem unendlich österreichisch anmutenden Titel „Die verschissene Zeit“ in Belgrad.

Die Grenzen der österreichischen Literatur sind nicht mit österreichischen Staatsgrenzen deckungsgleich, und schon gar nicht bestimmt ein Reisepass darüber, wer die österreichische Literatur prägt. Autoren und Autorinnen, die nicht in Österreich geboren wurden, die unterschiedlichste kulturelle und sprachliche Backgrounds mitbringen, zählen zu den wichtigsten Innovatoren der österreichischen Literatur, von Barbi Marković über Sandra Gugić, Anna Kim bis zu Julya Rabinowich und vielen anderen.

Einmal mehr stellt sich daher die Frage, was denn das nun sein soll, die österreichische Literatur, während man gleichzeitig beruhigt feststellen kann: Sie ist so aufsässig, widerborstig und kreativ wie eh und je, hat aber an Weltoffenheit gewonnen und schreibt Grenzen nieder, seien diese nun politischer, geografischer, sprachlicher oder biologischer Natur.

eistaucher - © Residenz
© Residenz
Literatur

Die Eistaucher

Roman von Kaśka Bryla
Residenz 2022
314 S., geb., € 24,–

verschissene zeit - © Residenz
© Residenz
Literatur

Die verschissene Zeit

Roman von Barbi Marković
Residenz 2021
304 S., kart., € 25,–

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