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Die Flüchtlinge und wir

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Gerücht gehen um, von Mund zu Mund, und finden ihren Niederschlag auch in manchem „Leserbrief“ und in mancher Zeitungsnotiz, Gerüchte über ungarische Flüchtlinge, die mit dem nach unseren Begriffen ausreichend guten Essen oder den gespendeten Kleidern nicht zufrieden gewesen seien, die die vermittelte Arbeit nicht durchgehalten oder sonst einen Unfug getrieben hätten. Es ist klar, daß der Bürger, Bauer und Arbeiter, der dieses Mal wirklich ein pürbares Opfer gebracht hat, solche Gerüchte nicht gerne hört, daß sie seine weitere Hilfsbereitschaft lähmen und dem altbewährten, durch die erschütternden Ereignisse zurückgedrängten Egoismus schnell wieder Oberwasser bieten. Trotzdem halten wir es für besser, solche Probleme nicht zu verschweigen, sondern die Tatsachen klarzustellen, die Wurzeln und Ursachen befremdlicher Erscheinungen bloßzulegen und so die Schwierigkeiten zu klären.

Unter den über Hunderttausend, die ein grausames Schicksal an den Strand unseres Landes gespült hat, sind natürlich viele Charaktere zu finden. Mehr als die Hälfte dieser Flüchtlinge sind unter dreißig Jahre alt, etwa ein Viertel ausgesprochene Jugendliche. Wir stehen also zum Teil Menscnen gegenüber, die eine bürgerliche Existenz unserer Art kaum mehr gekannt haben, die trotz ihrer leidenschaftlichen Ablehnung des sowjetischen Systems — und teilweise gerade deshalb — laufend Dinge des' Lebens mit kommunistischen Begriffen bewußt oder unbewußt erfassen oder verarbeiten m ü s s en, weil sie keine anderen kennen und gelernt haben. Schon in den Berichten von den Kampftagen in Ungarn war immer wieder von den todesmutigen Halbwüchsigen zu lesen, die in ihrem Aussehen und Auftreten so sehr an unsere „Halbstarken“ erinnerten und doch zu den Kerntruppen der Revolution gehörten. Noch jede Jugend der letzten zwei Jahrhunlerte hat gegen den Zwang, die Irrtümer und Fehlleistungen ihrer Väter revoltiert, ja die Jugend nach dem zweiten Weltkrieg hat dies ohne die zerbrochenen „Ideale“ getan. Derselbe Impuls einer Generation, der sich im milden Klima westlicher Zivilisation im Kinodrang, Rock 'n Roll und pueriler Kriminalität äußert, hat unter dem Druck östlichen Terrors in die Revolution gemündet, womit natürlich nicht behauptet werden soll, daß dies eine wesentliche Ursache oder Komponente der Ereignisse in Ungarn gewesen sei. Es handelt sich um eine Nebenerscheinung, die aber wichtig für die richtige Beurteilung und Behandlung einer bestimmten Altersgruppe von Flüchtlingen ist. Man muß mit diesen Leuten nur sprachlich und seelisch reden können, dann kann man sicher sein, daß auch sie keine Dummheiten machen werden. Die Armensuppe allein genügt dabei allerdings nicht.

Vergessen .wir auch nicht, daß die Mentalität dieses Volkes immer eine, besondere in Europa war, obwohl wir auch unendlich viele — man ist versucht zu sagen — „großösterreichische“, jedenfalls aber uns sehr liebe und vertraute Züge bei diesen Menschen, insbesondere bei den älteren und den Familien, feststellen können. Aber der aktive Arbeits- und Organisationsfanatismus der Deutschen und der passive der Slawen war den Magyaren immer ein Greuel, und ein Leben ohne „mulatsäg“ nie lebenswert. Schon der Hymnus sagt es: „Gott segne den Ungarn mit guter Laune und Ueberfluß...“ Dazu kommt das unvermeidbare Ressentiment und die Verbitterung eines Volkes, das sich im entscheidenden Augenblick seiner jüngsten Geschichte vom Westen verlassen und verraten sieht und nun unbewußt die Forderung erhebt, dieser Westen möge jetzt wenigstens für jenes eine Prozent ordentlich und schnell sorgen, das seine Haut retten konnte, wenn er schon unfähig war, das eanze Land zu retten.

Jeder Flüchtling anerkennt dankbar die ungeheuren Leistungen und die Hilfsbereitschaft der Oesterreicher und weiß, daß man kaum mehr erwarten und verlangen kann. Und doch bleibt das Aergernis unseres relativen Wohllebens, ein Aergernis, das wir kaum ändern können, da man auf tausend für uns selbstverständliche Dinge in einer intakten Volkswirtschaft nicht verzichten kann. Und doch sind sie ein Aergernis für Menschen, die eben erst aus der Hölle kamen, deren Bruder, Vater und Nachbar vor ihren Augen verblutet ist oder verschleppt wurde, deren Gedanken noch immer ganz in ihrer Heimat und bei dem ungewissen Schicksal so vieler Verwandten und Freunde sind. Wollen wir da nicht noch mehr Geduld und Liebe zeigen, auch wenn sich einmal da oder dort ein Fall ereienet, der uns schockiert?

Die Flüchtlinge sind ein gesamteuropäisches Problem und d i e Soziale Frage des 20. Jahrhunderts geworden. 1923 waren es drei Millionen Griechen, 1939 hunderttausend Polen, dann die Juden, die Millionen Deutsche, jetzt die Ungarn. Die Christen dürfen nicht noch einmal so versagen wie in der Arbeiterfrage des vorigen Jahrhunderts — hier können wir jetzt in mühsamer Kleinarbeit die ärgsten Schäden abbauen, die die Sünden unserer Vorväter verursacht haben.

Unsere Caritas tut ihr Bestes, und Oesterreich als Staat und Volk hat in diesen furchtbaren Tagen nicht versagt. Aber wir wollen uns nicht selbst loben, sondern uns lieber hüten, über den paar armseligen Lorbeerblättern wieder einzuschlafen. Denn die Meisterung der Lage wird unsere dauernde Wachheit und Aufgeschlossenheit verlangen.

In vielen kleinen Dingen auch werden wir den fremden Gast auf unserer Schwelle verstehen lernen müssen. Ein hart gesottener Knödel ist halt nun einmal auch für einen hungernden Magen kein unbedingter Genuß, wenn dieser Magen weder in guten noch in schlechten Zeiten je so ein merkwürdig Ding zu sehen bekommen hat. Erinnern wir uns lieber an die gut bezahlten Hilfsarbeiter aus den Elendsgegenden des italienischen Südens, die ihren wohlwollenden westdeutschen Arbeitgebern itn Vorjahr scharenweise davongelaufen sind, nur weil sie die gebotene Kost, an der sich ihre deutschen Kollegen delektierten, nicht vertragen haben. Und wundern wir uns nicht, daß Kinder, die noch nie eine Orange zu Gesicht bekommen haben, mit so einem runden Ding lieber Fußball spielen, als es zu kosten. Erinnern wir uns lieber daran, daß unsere eigenen Kinder an fremden Tischen in der Nachkriegszeit die Brathühner unter den Tisch warfen und Bananen gar nicht köstlich fanden.

Und daß Kombattanten meutern, die als stolze und verbitterte Waffenträger der Freiheit über die Grenze kamen und jetzt tatenlos einer ungewissen Zukunft entgegenwarten müssen, während der zufällig etwas klügere Kollege, der zehn Meter vor der Grenze die Waffen fortgeworfen hat, jetzt schon weiterstudiert oder auf dem Weg nach Amerika oder Australien ist, werden wir vielleicht auch begreifen können.

Das unbestimmte Wunschbild von idealen Menschen hat immer noch zu Fehlleistungen geführt und ist ein Zwillingsbruder des Pharisäertums. Weder Empfänger noch Spender sind Engel, sondern Menschen mit Fehlern. Und gerade an ihnen soll sich unsere Nächstenliebe bewähren.

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