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Die Schönheit der Medusa

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Daß die Interpreten Franz Kafkas zu so verschiedenen, zum Teil entgegengesetzten Ergebnissen kommen, ist weniger durch den Standort der Betrachter oder durch die ungleiche Schärfe ihres Blickes bedingt als durch das in allen Farben spielende Objekt. Es scheint daher zweckmäßiger — anstatt die Farbe des Perlmutters zu bestimmen —, zu untersuchen, worin das Wesen perlmuttriger Gegenstände besteht und unter welchen Bedingungen sie sich bilden. Die Voraussetzungen für eine Deutung Kafkas wurden in letzter Zeit durch zwei Publikationen gegeben: die Tagebücher Franz Kafkas (im S.-Fischer-Verlag erschienen) und eine erste eindringliche Beschreibung seines Stils durch Günther Anders (Kafka: Pro und contra. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München). Daß die letztere die negativen Züge stärker herausarbeitet, ist wohl durch die Abneigung des Autors gegen die Kafka-Mode zu erklären. Wer von der Lektüre der Tagebücher kommt, wird die Urteile von Anders freilich zu hart finden. Doch bleibt es, jenseits positiver oder negativer Bewertung, sein Verdienst, die Technik, den Stil und die Struktur der Kafkaschen Werke in ihrem Wesen erhellt zu haben.

Bei der Interpretation Kafkascher Werke ist zu beachten, daß er die Dinge weder naturalistisch darstellt, noch in Allegorien kleidet, sondern Experimental-situationen schafft. In diesen erscheinen die Dinge und Situationen „entstellt“ (Bert Brecht würde sagen: „verfremdet“), um schärfer festgestellt zu werden. Die Dinge werden umbenannt, um die mit den Namen verbundenen Vorurteile abzuschneiden; aber der Leser erhält keinen Schlüssel, die Metaphern zu erschließen. Ein immer wiederkehrender Kunstgriff besteht darin, daß das Verblüffende als das Selbstverständliche akzeptiert wird. So entstehen jene merkwürdigen Schockwirkungen, die man als „negative Explosionen“ bezeichnen kann. Ebenso beunruhigend ist die Diskrepanz zwischen der extremen Unwirklichkeit einer Situation und der extremen Genauigkeit ihrer Beschreibung. Man hat diese wirklichunwirkliche Sphäre als „traumartig“ bezeichnet, doch ist Kafkas Absicht keineswegs eine „poetische“, sondern die Verwirrung der Realitätsgrade hat einen didaktischen Zweck. Für die merkwürdigen „Helden“ Kafkas gibt es nichts Ungewöhnliches. Dies wiederum übt auf den Leser eine erschreckende Wirkung aus.

überaus charakteristisch ist die Situation des Landvermessers K. in dem Roman „Das Schloß“. (Er enthält wesentliche autobiographische Züge.) Diesem K. erscheinen die Sitten und Gebräuche der neuen Umgebung — wie einem Einwanderer — als ein System bürokratisch dekretierter Regeln. Alles ist voller Vorurteile, und in der Tat ist der Fremde zur Heimatlosigkeit verurteilt, bevor er ankam. Das Eigenartigste ist nun, daß Kafka den Landvermesser K. mit den Augen derer ansieht, die den Fremdling nicht aufnehmen. Der Ankömmling hat also unrecht und versucht, sich diesem Unverständlichen, das in seinen Augen das Böse sein muß, anzupassen. Hier sieht G. Anders eine genaue Entsprechung von Kafkas eigener Situation: „Als Jude gehörte er nicht zur christlichen Welt. Als indifferenter Jude — denn das war er ursprünglich — nicht ganz zu den Juden. Als Deutschsprechender nicht ganz zu den Tschechen. Als deutschsprechender Jude nicht ganz zu den böhmischen Deutschen. Als Böhme nicht ganz zu Österreich. Als Arbeiterversicherungsbeamter nicht ganz zum Bürgertum. Als Bürgerssohn nicht ganz zur Arbeiterschaft. Aber auch zum Büro gehört er nicht, denn er fühlt sich als Schriftsteller. Schriftsteiler aber ist er auch nicht, denn seine Kraft opfert er der Familie.“ Aber „ich lebe in meiner Familie, fremder als ein Fremder“, klagt Kafka. So „stört er nur“ in der Welt, wie der Landvermesser K., und sein ganzes Leben ist der Versuch, seine Daseinsberechtigung zu erweisen. Aber das Streben Kafkas ist nicht, wie es die theologischen Interpreten wahrhaben wollen, auf das Jenseits, sondern auf diese Welt gerichtet, in der er heimisch werden will — und die unerreichbar bleibt. Erlösung sucht Kafka — und dies verbindet ihn mit den großen Künstlern des 19. Jahrhunderts — durch die kalligraphische Registrierung seines Elends. Trotz aller Verschiedenheit findet sich eine merkwürdige Parallele zu Goethe („Faust“ II) und Richard Wagner: in dem Glauben an die Erlösung durch das Ewig-Weibliche; ferner in der Gleichsetzung von Sexus und Mitleid in den „Beziehungen“, die der Landvermesser K. zu den weiblichen Angehörigen des

Dorfes — und damit zum Schloß — unterhält.

Ein anderer unheimlicher Kunstgriff Kafkas ist die Paralysierung des Zeitbegriffes. Er ermöglicht die Umkehrung der Reihenfolge von Ursache und Wirkung, der Tat und ihrer Folgen: „In der Kafka-Welt fliegen die Furien der Tat voraus. Der Verbrecher folgt der Strafe auf dem Fuß.“ Dies erzeugt beim Leser eine Art Seekrankheit des Zeitgefühls, das durch die Verschlingung und Kollision der Metaphern noch verstärkt wird.

Kafkas Gestalten sind, wie wir bereits sagten, weder Allegorien noch Abstraktionen, sondern Funktionsträger,' „Beamte“. Der Begriff des Berufes erhält absoluten Charakter, und durch die Erfindung absurder Berufe wird die Sinnlosigkeit der Identität von Mensch und Beruf anschaulich gemacht. Niemand kennt seine Situation, nieniand sein Recht. Auch diesen Agnostizismus und Negativismus wollte man in eine „religiöse Position“ ummünzen. Hierüber kommt freilich das entscheidende Urteil nur dem Theologen zu. G. Anders vertritt die Meinung, daß die Vielzahl der angebotenen Deutungen Kafka, trotz einer Fülle von Einsichten, „zu einem philosophisch und moralisch unverwendbaren Autor machten“. Wir finden bei ihm viele Deutungen, aber keine Lösungen: daher auch der fragmentarische Charakter der meisten seiner Werke. Eine Abrundung aus künstlerischen Gründen verbietet dem Autor seine Ehrlichkeit. Ihren Abschluß finden Kafkas Stücke durch ihre Erstarrung zu Bildern.

Als Inbegriff des Erhabenen erscheint das übermächtige und Unnahbare, . das Schloß, das es gelassen verschmäht, K. zu zerstören. Dieses Statuarische in Verbindung mit dem Begriff der Übermacht ist bei Kafka das „Schöne“. Es ist die Schönheit der Medusa.

Mit der gorgoniscnen Schönheit hat das Kafkasche Kunstwerk auch dies gemein, daß nicht w i r es anblicken und den „in-tenlionalen Akt“ (Husserl) vollziehen, sondern das Kunstwerk, die Kafkasche Welt, starrt uns an. Gegen das konventionell „Schöne“ ist die Kafkasche Welt vollkommen abgedichtet. Desgleichen seine Sprache. Sie ist das Gegenteil der gehobenen, poetischen Rede und erscheint uns als die nüchternste, zuweilen als eine Art verklärtes Amtsdeutsch. Seine Sätze haben die Richtigkeit, Umständlichkeit und Gelenkigkeit von Gesetzen, die zu genauem Lesen zwingen. Sie gleichen Krankenberichten, Bittschriften und Protokollen. Das Amoralische und Verwirrende besteht darin, daß die pedantische Genauigkeit der Feststellung zur Akzeptierung des grotesken Tatbestandes einlädt. So entsteht eine Ordnung des Grauens, die mit Anmut geschildert wird: auch dies ein Wesenszug der gorgoni-schen Schönheit.

Kafkas „Religiosität“ bezeichnet G. Anders als einen gespensterhaften Ritualismus, denn „Präzision in einem agnosti-schen Rahmen ist gespensterhaft“. Diese Eigenschaft teile das Werk Kafkas mit der Welt des faschistischen Terrors. Andererseits sei der an keine Inhalte gebundene Ritualismus unverbindlich und daher ein ästhetisches Phänomen. So würden nicht nur die religiösen Inhalte, sondern auch die „religiösen Attitüden“ ästhetisch besetzt. Kafka hat sich selbst einmal als einen Kurier bezeichnet, der durch die Welt jagt, und, da es keinen König gibt, sinnlos gewordene Meldungen ruft. Die Macht, obwohl als schlecht erkannt, wird trotzdem anerkannt: „Sein Medium ist der Zweifel. Und die Darstellung des Zweifels der dialogische Roman.“

Und nun der Mensch, wie wir ihn in seinen Tagebüchern aus den Jahren 1910 bis 1923 erkennen. Eh. großer Leidender, ärmer und leidender, als die ärmste seiner Gestalten. „Ein Bild meiner Existenz gibt eine nutzlose, mit Schnee und Reif überdeckte, schief in den Erdboden leicht eingebohrte Stange auf einem bis in die Tiefe aufgewühlten Feld am Rande einer großen Ebene in einer dunklen Winternacht“, notiert er im ersten Weltkriegsjahr. „Mich aus mir heraus zeitweilig gehört, wie das Winseln einer jungen Katze beiläufig, aber immerhin.“ Und: „Die systematische Zerstörung meiner selbst im Laufe der Jahre ist erstaunlich, es war wie ein langsam sich entwickelnder Dammbruch, eine Aktion voll Absicht...“ Worte dieser Art könnte man zu einer langen, dunklen Reihe aneinanderfügen, Worte, deren Pessimismus und Verzweiflung so groß ist, daß man sich wundert, daß sie überhaupt niedergeschrieben werden konnten.

Die Situation Kafkas ist diese: „Derjenige, der mit dem Leben nicht fertig wird, braucht die eine Hand, um die Verzweiflung über sein Schicksal ein wenig abzuwehren — es geschieht sehr unvollkommen —, mit der anderen Hand aber kann er eintragen, was er unter den Trümmern sieht, denn er sieht anderes und mehr als die anderen, er ist doch tot zu Lebzeiten und der eigentlich überlebende. Wobei vorausgesetzt ist, daß er nicht beide Hände und mehr, als er hat, zum Kampf gegen die Verzweiflung braucht.“ Den einzigen Sinn, die „ewige Qual des Sterbens“ zu erdulden, sieht er in der Aufzeichnung seines Leidens an der Welt, an den Menschen, an sich selbst. Hier schimmert, ganz selten nur, ein schwacher Lichtstrahl durch: „Regelmäßig schreiben! Sich nicht aufgeben! Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein.“ Hier hat man den ganzen Kafka, mit seiner totalen Verzweiflung — und mit dem Zweifel an ihrer Berechtigung.

In diesen dreizehn Heften in Quartformat, die Max Brod zum erstenmal vollständig herausgegeben hat und die in der einbändigen Buchausgabe des Fischer-Verlags, einschließlich einiger Varianten, rund 700 Druckseiten füllen, stehen auch zahlreiche Schreibübungen, Entwürfe, Vorstudien und Skizzen, die von den eigentlichen Tagebucheintragungen wenig unterschieden sind. Alles zusammen ergibt einen heuen, und zwar den größten und ergreifendsten Kafka-Roman, der in allen seinen Teilen die gleiche sprachliche Perfektion zeigt, die wir an Kafkas dichterischen Werken bewundern.

Was bei der Lekfcre der Tagebücher

überrascht, ist die Tatsache, daß über religiöse Fragen — die bis vor kurzem im Vordergrund der Kafka-Exegese standen — nicht viel zu finden ist, oder doch nur in jener metaphorischen Sprache, zu deren Verständnis man eines Schlüssels bedarf. Das ist deshalb bemerkenswert, well die Tagebücher bestimmt nicht im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung geführt wurden. Im Gespräch war Kafka aufgeschlossener. Gustav Janouch, der Kafka im Jahre 1920 in Prag kennenlernte, hat einige davon aufgezeichnet (ein Vorabdruck ist in der „Neuen Rundschau“, 1. Heft des Jahrgangs 1951, erschienen). In einem Gespräch mit dem jungen Schriftsteller sagte Kafka eines Tages: „Dichtung ist Verdichtung, eine Essenz. Literatur ist dagegen Auflösung, ein Genußmittel, das das unbewußte Leben erleichtert, ein Narkotikum . .. Dichtung ist gerade das Gegenteil. Dichtung erweckt.“ Und auf die Frage: „Dichtung tendiert also zur Religion?“, antwortet er: „Das würde ich nicht sagen. Zum Gebet aber sicherlich.“ Und trotzdem — oder eben deshalb? — hat Kafka verfügt, daß seine Werke verbrannt werden sollen..,

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