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Falsche Weichenstellung

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Der Widerspruch zweier Geschehnisse der jüngsten Tage offenbart aufs neue die Zwiespältigkeit, vor die der Mensch der Gegenwart gestellt ist und die den einzelnen wie große Gemeinschaften zur Wahl drängt: ob falsch oder wahr, ob das Halbschlächtige oder das Ganze, ob gedankenlos dem Vorurteil verfallen oder frei und seines sicheren Weges bewußt — immer deutlicher wird die Nötigung zu dieser Wahl. — Im Wiener Gemeinderat geschieht das Ungewöhnliche, daß ein sozialistischer Sprecher in der Debatte um die Leistungen Wiens für den Stephansdom das Hauptorgan der Partei korrigiert und dem ehrwürdigen Bauwerk noble Worte des Ruhmes, und der Gebefreudigkeit der Wiener Bevölkerung für dessen Wiederherstellung gerechte Worte der Anerkennung widmet. Zu gleicher Zeit aber agiert wild ein sozialistischer Verkehrsminister, der einen Stecken vom Zaune bricht, um nicht nur einigen Touristen, die sonntags noch vor der frühen Abfahrt eine Messe in einem Raum auf bahneigenem Grunde hören wollen, plötzlich und ohne allen Anlaß über den Kopf zu schlagen, sondern allen, die für Gesinnung und das religiöse Bekenntnis ihrer Mitmenschen Achtung haben. Man muß sich fragen, was hat dieser sozialistische Verkehrsminister vor, in welche Weichenstellung sucht er die Fahrt seiner Partei und zugleich unserer inneren Verhältnisse zu lenken? Welchen fatalen Zusammenstoß, welche Zertrümmerung will er bewerkstelligen? Ihm assistiert allerdings eine Presse in schrillem Diskant. Man kennt im katholischen Räume die Residuen und Petrefakte aus den Tagen von gestern und vorgestern und bemüht sich, zu verstehen und die Gefühle zu schonen. Doch man muß gestehen: Erschütternd ist für den Christen dieses völlige Verkennen der religiösen Dimension von seiten dieser sozialistischen Akteure, die immer noch nicht zu verstehen vermögen, daß Religion nicht eine politische Qualität, nicht eine massive politische Sache ist, die man in Ziffern oder in mechanischen Kraftproben erfassen kann. Religion ist ein anderer Wesensbereich als die noch so rosenumkränzte Programmatik einer Partei. Zwei große Perspektiven, eine innerösterreichische und eine europäische, sollten die Träger der Verantwortung auf sozialistischer Seite mahnen, den Blick aus der Enge eines politischen Kleinkrieges auf zur Größe, Gefahr und Chance dieser Stunde zu erheben. Die Christlächkeit dieses europäischen Kernlandes ist eines seiner wesentlichen Strukturelemente. Sie läßt sich nicht einfangen und einsargen in Stiften, Klöstern, Kirchen und Kapellen, weniger noch in parteipolitischen Positionen und Propositionen, ihr Strahlung reicht weiter. Die Atmosphäre, die sie geschaffen hat, ist, in Kultur, Geistigkeit und Mentalität, die Österreichs. In ihrer Luft atmen auch jene Sozialisten noch, die nun auf einmal glauben, daß der Weihrauch ihrer Altäre die frische Luft der Bahnhöfe verpeste. In die Realität des Tages übertragen, heißt das: Kein Regierungsmann, keiner, der Verantwortung trägt für Leib und Leben dieses Volkskörpers, für das äußere und damit auch innere Schicksal dieses Landes, kann sich ungestraft an dieser Sphäre versündigen. Die englische Demokratie zeigt exemplarisch auf, worum es eigentlich geht: Ist dort ein Abgeordneter von einem bestimmten Wahlkreis ins Unterhaus gewählt, dann hat er nach bestem Wissen und Gewissen alle Wähler seines Kreises zu vertreten, auch jene, die, gegen ihn gestimmt haben. Die Sozialisten haben in Österreich, einem Lande, in dem 44 Prozent der Stimmberechtigten VP wählen, aber 90 Prozent der Bevölkerung ihre Kinder in den Religionsunterricht schicken, als Mitträger der Regierungsgewalt auch Schutz und Schirm der religiösen Anliegen des Gesamtvolkes mitübernommen. Die Verfassung verpflichtet sie ebenso darauf wie der ungeschriebene schlichte Glaube der Mehrheit des Landes. Das sollten sich ihre Sprecher und Führer denn doch selbst sagen: Im Interesse Österreichs, im wohlverstandenen eigenen Interesse täten sie gut daran, die Ohren und Augen und später einmal den Geist und das Herz so weit zu öffnen, bis sie die Realität der religiösen Dimension wahrnehmen können.

Es gibt aber noch eine zweite spezifisch sozialistische und europäische Perspektive, die den Bahnhofsfall beleuchtet. Der europäische Sozialismus ist auf dem Wege. Auf dem Wege vom dialektischen Materialismus zum dialektischen Realismus. Als Karl Marx in England gegen die Theologen einer christlichen Kirche kämpfte, die — man lese H. Poppers „The open society and its ennemies“ — in Büchern und Reden die 14stündige Arbeitszeit sechs- bis achtjähriger Kinder mit Berufung auf das Evangelium verteidigten, versuchte er die Arbeiterschaft, die Menschheit zu befreien vom Druck und Zwang versklavender Ideologien. Das sein geschichtliches Verdienst: die Ideologiekritik, die Aufzeigung der Tatsache, daß Weltanschauungen und Religionen in gewissen geschichtlichen Lagerungen mißbraucht werden und mißbraucht werden können von herrschenden Klassen zur Deckung, Tarnung und Erhaltung ihrer Positionen. Marx, der Schüler Hegels, legte den größten Wert auf Wort und Wesen des Dialektischen: um die Einsicht, um den Nachweis des Wechselspiels von ökonomischen, gesellschaftlichen, geistigen Bezügen ging es ihm. Das wahrhaft Revolutionäre war, in seinem Kampf gegen den deutschen Idealismus nicht der Materialismus, der war nichts Neues, ihm hatten bürgerliche Ideologen, wie Feuerbach und andere, längst aufs eifrigste gehuldigt, sondern das Dialektische, die stete Rücksicht, die die Ideologie, das Denken der Menschen, auf die realen Verhältnisse zu üben hat. Jedes Denken wird welt-und menschenfeindlich, wenn es dies vergißt. Der elfenbeinerne Turm wird zum Kerker. Instinktiv-sicherer als intellektuell-bewußt geht heute der europäische Sozialismus den Weg vom Materialismus zum Dialektischen, zum dialektischen Realismus. Das heißt: er opfert die konkreten Interessen und Nöte der von ihm vertretenen Arbeiterschaft und Gesellschaft nicht mehr der Ideologie, keiner „christlichen“, aber auch keiner gegenchristlichen Ideologie, sondern geht richtig dialektisch von den Tatsachen aus, von der Wirklichkeit, und laßt sich von ihren Forderungen sein Danken mitbestimmen, im Wissen, daß ein lebendiges sozialpolitisches Denken seine stärkste Dynamik durch den Anruf .der Tatsachen erhält. Dieser Weg vom dialektischen Materialismus zum dialektischen Realismus ist der Weg des europäischen Sozialismus zur Demokratie, zu Europa als einer physischgeistigen Verbindung mannigfacher Gegensätze. Auf diesem Wege gehen heute die holländischen Sozialisten, immer mehr englische bekehren sich zu ihm. Ein großer Vorkämpfer dieses Erkenntnisses ging vor kurzem von uns: Leon Blum. Auch der österreichische Sozialismus ist auf dem Wege — er müßte sonst die schicksalsschweren Jahre der Zusammenarbeit 1945 bis 195 0, als Irrläufer und Chimäre verleugnen. Gegen diese Realität, es ist die Wirklichkeit einer europäischen Tatsache und die Basis unserer innerösterreichischen Existenz, vermag ein ministerieller Irrläufer und Reaktionär, vermögen noch so viele Rückzieher und Rückläufer pressepolemischer Entgleisungen auf die Dauer nicht zu bestehen. Alle diese sind wider den Lauf der Geschichte, wider den Weg der Freiheit, des Fortschritts, der Menschheit. Sind nicht zuletzt wider die wahren Interessen der Arbeiterbewegung.

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