6540879-1946_40_07.jpg
Digital In Arbeit

Hochschule in der Heide

Werbung
Werbung
Werbung

Wer die Geschichte der dänischen Volkshochschulen kennt, der weiß, welche mustergültige Bedeutung diesen Unterrichtsstätten für die Bildung des dänischen Volkscharakters in der Vergangenheit zukam und immer wieder aufs neue zukommt. Die Geschichte dieser in der Welt einzig dastehenden Bildungsbewegung zu kennen genügt aber nicht, es ist vielleicht weitaus wichtiger, über ihre Unterrichtsmethoden Bescheid zu wissen. Der Schulplan ihres Schöpfers N. S. F. Grundtvigs gründete auf dem freien Wort des Lehre rs. Für Grundtvig und seine Zeit war der G e-schichtsunterricht die lebendige Mitte, um die sich alle anderen Unterrichtsgegenstände gruppierten. Dafür war vor allem die historische Situation des dänischen Volkes, seine Selbstbesinnung in den Schicksalsjahren 1848 und 1864 maßgebend. Mit der Wandlung des europäischen Geisteslebens und mit der nationalen Festigung Dänemarks wurde dieses Zentrum verschoben. Neben den Einfluß Grundtvigs tritt gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr der Einfluß Georg Brandes. Brandes gehört wie Holberg, Andersen, Kierkegaard und Grundtvig zu den schöpferischen Geistern, in „welchen nicht nur eine Zeit, sondern ein ganzes Volk zum Bewußtsein kommt“ (Vilhelm Andersen).

War sich das dänische Volk durch Grundtvig seines nationalen Charakters bewußt geworden — durch Brandes fand es Anschluß an die neue europäische Situation, die vor allem vom Westen des Kontinents und von England geformt wurde. Dennoch wurde in den Grundtvigschen Volkshochschulen der alte und bewährte Lehrplan festgehalten; der Geschichtsunterricht, die lebensvolle Darstellung der vaterländischen Geschichte, der Weltgeschichte und der heiligen Geschichte blieb das Zentrum.

Der Gesang trat hinzu. An erster Stelle wurde das Volkslied gepflegt. Auch hier hatte sich Grundtvig als fruchtbarer Erneuerer erwiesen. Er war nicht nur ein mächtiger Psalmendichter, das heißt Kirchenliedschriftsteller, er hat seinem Volke auch eine gewaltige Volksliedersammlung hinterlassen, die die Dänen noch heute zu einer der liederreichsten Nationen macht. Der Gesang war Erziehung: man sang im Chor. Dann folgten Geographie, Gesellschaftslehre und Naturgeschichte.

Literaturgeschichte und Übungen in der Muttersprache sollten das Verständnis der eigenen Literatur fördern und für genußreichere Aufnahme schulen. Die eigenen Gedanken geordnet und gut ausdrücken zu können, war von Anfang an das Ziel der Sprachbildung auf den Volkshochschulen. Mit der Sprache soll aber auch das Denken geschult werden.

Die Bildung muß die ganze Person umfassen. Am besten geschieht dies in kleineren Arbeitskreisen, wo nur wenige Schüler vereint, eine Aufgabe, ein Thema bearbeiten. Diese Gemeinschaftsarbeit fördert die zarte Rücksichtnahme auf die Person des anderen, weckt das Verständnis für die Denkungsart der Mitstudierenden, erzieht schließlich zur wahren demokratischen Tugend, deren Wesen ja ohne Dialog, ohne die Kraft des Zu-hörenkönnens undenkbar ist. Edvard Lehmann rühmt in seinem vortrefflichen Grundtvig-Buch das Werk des großen Dänen wie folgt: „Die Hochschule läßt sich beschreiben, das Leben an ihr nur erleben. Denn es gibt in dieser Gemeinsamkeit, diesem Geistesleben verborgene Strömungen, aus denen ihre Fruchtbarkeit hervorbricht, ohne daß man so recht sagen kann, woher sie kommen. Hier ist ein Typ, der durch das eigene innere Wachstum im Menschen gebildet wird, noch mehr aber durch die Wechselwirkung des Zusammenlebens, schon durch die Geistesverwandtschaft, die die Leute zur Hochschule bringt und einander finden läßt. Selbst wo nichts Bestimmtes gelernt wird, auch dort, wo das Gehörte wieder vergessen wird — einmal wurde es doch gehört, hat seinen Weg durch die Seele genommen und eine Tür geöffnet, die verschlossen war. Interessen sind geweckt worden, Aussichten haben sich eröffnet, Stimmungen sind angeschlagen, deren man sich erinnern wird. Tone sind ins Herz gesungen, die weiterklingen. Spuren, die zurückbleiben, sind nicht Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern ein neues Leben. Was dieses gezeitigt hat, davon erzählt Dänemarks Aufblühen in Volksleben und Menschenwert, in Handel und

Wandel, in Landwirtschaft und Ökonomie und gerade in der eigentümlichen Gestaltung der letzteren: die brüderliche Zusammenarbeit von Mann zu Mann, von Gegend zu Gegend, ein Vorbild für die Durchführung eines kooperativen Systems.

— Dies alles wäre undenkbar ohne die Volkwerdung, Volksaufklärung und Volksleitung, die die Hochschule in die Hand nahm. Und niemand bestreitet nunmehr, was das zu bedeuten gehabt hat.“

Das Modell aller dänischen Volkshochschulen ist A s k o v. Es ist mehr als eine Schule, es ist eine Schullandschaft, ein kleines Paradies im Heideland. Askov könnte als Idylle anmuten, es ist aber mehr; es ist Dänemark. Die Schüler, die jährlich nach Askov aus allen Provinzen des Landes zusammenströmen, kommen nach Dänemark. In ein größeres, mächtigeres, vollkommeneres Dänemark. Diese ehemalige Grundtvigsche Hochschule hat alle Wandlungen der Zeiten mitgemacht. Rings um das alte Mutterhaus wurden neue Bauten errichtet: Festsäle, neue größere Hörsäle, Turn- und Schwimmhallen, Bibliotheken, Wohngebäude, Laboratorien, Gewächshäuser usw. Sportplätze fehlen nicht und landwirtschaftliche Versuchsgelände. Askov ist ein Schulkosmos. Hier haben sich alle schulischen Erfahrungen an einem Ort gesammelt: Askov ist modern wie das fortschrittlichste amerikanisdie College und hat doch nicht seine Verwandtschaft mit der alten griechischen Akademie aufgegeben. Askov vereinigt den Fortschritt und die Tradition, die Heimat und die Welt. In dem großen, achteckigen Hörsaal haben rund 350 Hörer Platz. Die Bänke sind, wie es sich für einen modernen Lehrsaal gehört, amphitheatralisch aufgebaut. Hier versammeln sich täglich alle Hörer und werden über alles unterrichtet, was ein Mensch unserer Zeit wissen muß. Und wenn auch jeder Hörer seinem Spezialinteresse folgt, er kommt doch am liebsten in den großen Saal, da hier sein Weltbild nach

- 'en Seiten hin geweitet und so die Gefahr der Einseitigkeit gebannt wird.

Dann gibt es viele kleine Unterrichtszimmer. In diesen werden die Hörer in den Spezialfächern unterwiesen: in Geschichte, internationaler Politik, Wohnkultur, Musikwissenschaft, Ökonomie, Biologie, Krankenpflege, Mathematik, Bodenkultur, in allem, was das Herz der Hörer begehrt. Hier bespricht eine kleine Gruppe Wirtschafts-p-obleme; dort übt eine andere Schar eine fremde Sprache. Einige junge Männer, die Journalisten werden wollen, trainieren ihr Sprachvermögen. In Askov kann man sich auch auf die Studentenprüfung (Matura) vorbereiten. Die Prüfungen selbst müssen freilich an einer staatlichen Anstalt abgelegt werden, denn die dänischen Volkshochschulen kennen weder Prüfungen noch Zeugnisse. Alles trägt den Charakter unbedingter Freiwilligkeit. Vielleicht verleiht gerade dies den Bildungsstätten ihre hohe Moral. Selbst das „Fachliche“ — also alles, v:a.s unmittelbar mit dem Berufsleben zusammenhängt — ist etwas Sekundäres. Das Herz von Askov ist und bleibt der große Hörsaal, wo das freie Wort waltet.

Natürlich gibt es in Askov auch Bücher. Eint eigene Bibliothek birgt über 50.000 Bände.

Zum Unterschied von anderen Volkshochschulen ist Askov eine erweiterte Volkshochschule, das heißt von den Hörern wird eine gewisse Vorbildung (früherer Besuch von Volkshochschulen; zwei bis vier Mittelschuljahre) gefordert. Das Lehrpersonal ist hervorragend. Die Dozenten von Askov stehen in Wissen und Leistung den Universitätsprofessoren nicht nach. Askov ist auch eine freieSchule. Es ist, wie jede Volkshochschule, ein privates Unternehmen, das sich selbst erhält und vom Staate nur

Zuschüsse bekommt. Der Leiter der Volkshochschule kann frei das Lehrerkollegium wählen; er kann, wen immer er will, als Lehrer berufen. Die Lehrer wiederum können nach eigenem Ermessen Unterrichtsmethode, Lehrplan usw. bestimmen. Auch in Hinblick auf die Schüler ist die Volkshochschule ein freies Institut. Anmeldung, Besuch, Wahl der Fächer ist den Hörern ganz frei gestellt. Damit wird das alte Gentlemanideal der „liberalen Studien“ in vollkommenster Weise erfüllt. Und diese „liberalen Studien“, dieser scheinbare Luxus, tragen Dänemark die reichsten Früchte. Man könnte eine große Liste mit Namen bekannter dänischer Staatsmänner, Lehrer, Dichter, Journalisten und Wirtschaftler füllen, die durch diese hohen Schulen des Volkes gegangen sind.

(Wer die Eigenart des dänischen Volkshochschulwesens auf sich wirken läßt, begreift die Liebe und Begeisterung, die dieses kleine, kulturell und wirtschaftlich so hochstehende, politisch so frei denkende nordische Volk für sein nationalstes Institut bezeugt. Eine staatlicheMonopolschule wird nie imstande sein, solche Leistungen zu erbringen und solche kulturelle Bedeutung zu erlangen. Deren Voraussetzung ist die lebensnahe Pädagogik und diese bedarf einer Freiheit, an deren Grenze der übermächtige und unvermeidlichbürokratisierende moderne Staat haltmachen muß. „D:e Furche“)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung