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JAHRHUNDERT VOLLER GEHEIMNIS

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Dem 15. Jahrhundert hatte schon immer meine geheime Liebe gehört. Nicht aus romantischer Schwärmerei oder aus Hinneigung zur Geschichte. Das eine könnte nur verschwommene Gefühle, das andere nur Interesse geweckt haben. Aber Liebe ist etwas anderes. Sie ist geheimnisvoll wie ein Wald, unerklärlich wie Gott in Seiner Ewigkeit und beständig in ihrem Funkeln wie ein kostbarer Edelstein. Die Liebe zu einem Menschen mag vielleicht vergehen, verwelken, verdämmern, vielleicht auch nicht, aber die Liebe zu einer Welt von Gedanken und Erscheinungen stirbt nicht...

Es ist wie eine Welt in sich, dieses 15. Jahrhundert. Fern, unbegreifbar, wie ein Traum. Wem ist es nicht schon ergangen, daß er sich am Morgen bewußt wurde, einen wunderschönen Traum gehabt zu haben und nun versucht, ihn sich wieder zurückzurufen, den Anfang zu finden, die Details... Und je stärker er sich darum bemüht, um so mehr zerrinnt ihm der Traum zu einem Nichts. Ähnlich das 15. Jahrhundert. — Das hohe Mittelalter eines Friedrich Barbarossa, Walther von der Vogelweide und Richard Löwenherz liegt vor uns wie ein aufgeschlagenes Buch, hell, klar verständlich. Nicht so das 15. Jahrhundert. — Ein alter Trödlerladen in seinem Halbdunkel, der Trödler schon alt und gebrechlich, wir müssen uns selbst

durch die Kammern suchen, in die halb unheimliche, halb geheimnisvoll lockende Düsternis dringen durch verschmutzte, vergittere Lukenfensterchen, die mit Spinnweben behängt sind, nur wenige Sonnenstrahlen, sie werfen da und dort kleine Sonnenkringeln auf die zerschlissenen Wandteppiche, die dicken Truhen, die halbmorschen Sesseln und die Heiligenstatuen in ihren bizarren Faltenkleidern. Da steht ein Kruzifix mit weit weggespreizten, krallenartigen Fingern, Sein Mund ist zu einer schreienden Grimasse verzogen: „Drei Päpste, drei Kaiser“, scheint Er zu stöhnen, „und wer trägt noch Mich in sich?“ Aber alle die alten Sachen, die keiner mehr richtig mag, die der Trödler- uns kopfschüttelnd zum Aussuchen überließ, alle antworten ihm: „Wir alle haben etwas von Dir und an uns...“

Wir suchen weiter. Ein vergilbtes Büchlein liegt unter rostigen Waffenrüstungen, zerhauenen Schwertern und halbzerbroche-nen Armbrüsten. (Ob sie wohl von den englischen Armbrustschützen sind, von Crecy, Maupertuis und Azincourt, ob ihre Todespfeile in den Leibern französischer Barone und burgundt-scher Ritter staken?) Wir ziehen das Büchlein hervor. Thomas a Kempis, De Imitatione Christi... schlagen es auf; kaum lesbar unseren Augen: Va ... nitas va ... ni... tatum ... und legen es wieder weg und wollen den Staub von den Fingern wischen, aber der Staub bleibt haften... Ein halbzerbrochenes Bild sieht zwischen einem spätgotischen Meßkelch und einem brokatenen Henin, dem Kopfschmuck der adeligen Frauen, hervor. Wir ziehen das Bild zwischen dem Gerumpel heraus. Es ist stark nachgedunkelt, aber man sieht noch einzelne seiner Details: Froschleiber mit fratzenartigen Köpfen und eklen Mäulern, geharnischte Fische, Teufel, die Menschen in Jauchekanäle stoßen, Wesen mit Schlangenköpfen und menschlichen Gliedmaßen mit krallenartigen Füßen, geile Weiber mit Vogelschädeln... Wir suchen die Signatur: H ... iero ... nimus.. BO .. SCH. — Und da beginnen wir das Undeutbare, Unergründliche, Symbolhafte, Dämonische der Trödlerkammer zu ahnen... Der alte Trödler ist schon längst zu Bett, als wir die Kammer verlassen. Nun muß er nochmals aufstehen und uns die Tür aufschließen; er krächzt ein wenig von „nicht der Mühe wert“ und so und versperrt hinter uns die morsche, quietschende Tür.

Es war in der Zeit meiner zweiten oder dritten Gymnasialklasse, als ich zum erstenmal in meinem Leben dieser Wunderwelt des 15. Jahrhunderts gewahr wurde. Das Radiogerät meiner Eltern war damals ein kleiner Schiebedetektor mit Kopfhörern. Man gab in einer Serie von Hörspielen Shakespeares Königsdramen. Und wie es so häufig zu geschehen pflegt, erging es auch mir: Das Gehörte beflügelte meine Phantasie mehr als das Gesehene, es vertiefte meinen Blick ins Innere des Geschehens. England im 15. Jahrhundert. Normannische Ritter und Barone, Männer mit einem einzig dastehenden Selbstgefühl, geborene Herrseber und Herren, hassen, verraten, kämpfen und morden sich in das unvorstellbare Grauen der Kriege der roten und der weißen Rose hinein, York, Somerset, Clifford, Buckingham, Wor-cester, Suffolk und Warwick. „O Pomfret, o du blut'ger Kerker“, sagt Rivers, als er, wie Hunderte seiner Freunde und Feinde, mit Vaughan und Grey zum Richtblock geführt wird. Und neben ihnen lebt das Niedervolk der Angelsachsen in seinen Freuden und Leiden. Falstaff, der kleine Landadelige, mit Bardolph, Pistol und Poins, die Schenke „Zum wilden Schweinskopf“ mit

Witwe Hurtig und Dörfchen Lakenreißer, die Friedensrichtei Schaal und Stille und dann zuletzt, ihnen allen gegenüber, die erdrückende und erschütternde Persönlichkeit Richards III. „Ver-zweifl und stirb“, rufen die Geister nicht nur ihm zu, sie rufen es der mörderischen Dämonie des spätmittelalterlichen Englands zu, das sich selbst zerfleischen muß, da es Frankreich, das mit einer Haßliebe ersehnte süße Frankreich, nicht unterwerfen kann. 15. Jahrhundert!

Und dann später wieder las ich Hebbels „Agnes Bernauer“, und noch später erst fiel mir auf, daß sie fast zur 6elben Zeit in der Donau ertränkt wurde, als in Rouen Jeanne d'Arc den Scheiterhaufen bestieg. Zwei Frauen aus den untersten Schichten des Volkes treten jäh auf die Bühne der Weltgeschichte. Beide erschütternd durch die Reinheit ihres Wesens, die Klarheit ihrer Persönlichkeit und ihre Schönheit Agnes Bernauer, die Schönheit des Leibes und der Seele, Jeanne, die Schönheit des Geistes. Sie rufen beide aus: Seht das Volk, es ist da, es lebt, es fordert seinen Anteil an dieser Welt, gebt uns das uns Zustehende! Und beide müssen hinab in den bitteren Tod. Verfemt, als Hexen beschimpft, von einer Adelskaste zertreten, die sich anmaßt, das Leben zu sein, zu geben und zu nehmen. Dämonie des 15. Jahrhunderts.

Jahre und Jahre später durfte ich nochmals diese Zeit mit Händen greifen. Florenz, von eben diesem Jahrhundert geprägt. D i e Symphonie der Schönheit und des Lebens um des Lebens willen. Der Putto .Verrocchios mit dem Delphin im Palazzo Vecchio. Er will zum Leben. Die Venus Botticellis. Sie geht ins Leben. Die Kuppel Brunelleschis und die Wickelkinder des Findelhauses. Der Knabe am Grabmal Marsuppmis in Santa Croce, dem Desiderio da Settignano im gleichen Jahr das Leben gab, da Konstantinopel erobert wurde, weist nicht in den Tod, er läuft ins Leben. Und als die Pazziverschwörung 1478 daran scheiterte, daß sich Lorenzo il Magnifico rechtzeitig vor den Dolchen der Mörder aus dem Dom hinter die Bronzetür Luca della Robbias in die Sakristei flüchten konnte, da wird Botticelli gezwungen, Spottbilder der Verschwörer an die Mauer des Palazzo Vecchio zu malen, von dessen Fenster die Leiche des erhängten Erzbischofs von Pisa baumelt, des Anführers der Verschwörung. Dämonie des 15. Jahrhunderts. — Im gleichen Jahr läßt Edward IV. von England seinen Bruder Clarence im Tower in einem Malvasierfaß ertränken und malt Antonio Pallaiuolo sein einzigartiges, daseinnahes und doch ewig fernes, fast abweisend schönes Profilbild einer jungen Florentinerin. Dämonie und Schönheit des 15. Jahrhunderts ...

Ferne Zeiten sind uns oft nahe wie der heutige Tag. Wenn Rene Grousset die letzten Jahrzehnte der römischen Republik mit Cicero, Catalina und Cäsar in derselben geistigen, seelischen und moralischen Ebene mit der unserer Gegenwart sieht, wenn er die Werke Sallusts und Plutarchs in und aus unserer Literatur begreift, dann können wir ihm wohl nur recht geben. Nichts Jenseitiges, Transzendentes, Unfaßliches ... Und wie anders das uns zeitlich viel näher liegende Spätmittelalter ... 11. November 1415, im Kaufhaus von Konstanz, das Konklave ist noch uneins über die Papstwahl, die das Schisma beenden soll. Da zieht auf der Straße eine Bittprozession, vorbei, ein vielstimmiger Knaben; chor singt das „Veni creator Spiritus“, es klingt wie ein Engelchor, da geben unter Tränen noch mehrere Kardinäle ihre Stimme Otto von Colonna... Man denke sich das bei einer Besprechung von Cäsar und Crassus oder heute bei einer Gipfelkonferenz ... Die Welt des Spätmittelalters ist eine ferne, unbegreiflich ferne Welt, in vielem unauslotbar wie die Symbole der Bilder des Hieronymus Bosch, undeutbar, unerklärlich. Und so ist auch die Liebe zu diesem 15. Jahrhundert. Wie die Liebe zu einem Menschen. Wir glauben ihn klar zu sehen und lieben in ihm doch letztlich nur das Unerklärliche, wir können uns unsere eigene Liebe nicht erklären und werden uns in ihr am besten klar über das eigene Ich.

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