Keine einfachen wahrheiten

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Mit DaviD GrossMan erhält ein Politischer Den-Ker unD erzähler Den frieDensPreis Des Deutschen BuchhanDels.

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Mit DaviD GrossMan erhält ein Politischer Den-Ker unD erzähler Den frieDensPreis Des Deutschen BuchhanDels.

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Im Roman "Stichwort: Liebe" (1986) von David Grossman findet sich eine kleine Enzyklopädie, die unter markanten Stichwörtern das ganze Leben eines Menschen in kompakter Form zusammenfasst. Der Begriff "Adolf Hitler" hebt mit folgender Erklärung an: "Deutscher Führer. Direkt verantwortlich für den Zweiten Weltkrieg, und indirekt -für die Liebe zwischen Paula und Fried." Damit ist das Konzept der Grossman'schen Literatur definiert. Sie bringt große Weltgeschichte mit kleinen, privaten Ereignissen in Verbindung. Die Universalien eines Lebens wie Liebe, Tod und Alltag werden individuell, sobald ein Mensch mit seinen Zeitumständen kollidiert. Und jedes individuelle Leben steht für das Drama der menschlichen Existenz überhaupt. Denn keiner vermag sich seiner Gegenwart zu entziehen, jeder führt ein Leben, das repräsentativ ist für eine Generation.

Leidenschaftlicher Erzähler

Alles begann vor 27 Jahren. Damals erschien in Tel Aviv ein Roman, der die israelische Gesellschaft mitten ins Herz traf. David Grossman, der damals weitgehend unbekannte junge Mann von 29 Jahren, schrieb sich mit dem Buch "Das Lächeln des Lammes" sofort in die erste Reihe der zeitgenössischen Literatur Israels. Der Einstieg war grandios, jedoch war es nur Vorbereitung für all das, was in essayistischer oder erzählerischer Form noch folgen sollte. Im Kern ist in diesem Buch schon das Werk Grossmans angelegt. Wir finden den leidenschaftlichen Erzähler, der gegen die Grausamkeit der Welt anerzählt mit Geschichten, die davon handeln, was es heißt, wenn Menschen übel mitgespielt wird.

Jeder, der diesem Autor einmal begegnet ist, weiß von einem sanften, klugen Mann zu berichten, einem hellwachen Intellektuellen, der genau zu analysieren versteht, worunter sein Land Israel leidet. Er schont seine Landsleute nicht, er prangert die sture Haltung an, die eine friedliche Lösung des Konfliktes mit den Palästinensern ausschließt. David Grossman zu lesen bedeutet immer auch in Dialog mit einem politischen Denker zu treten. Nur taugt er nicht für einfache Wahrheiten, mit denen man wohl eine uninformierte, träge Masse stillzuhalten vermag, die für die Beseitigung akuter Krisen jedoch vollkommen untauglich bleiben. Er sucht den Kompromiss. Ein politischer Gegner ist für ihn keiner, den es auszumerzen gilt. Grossman hält es für unabdingbar, mit ihm einen Kompromiss zu finden. Das muss erst einmal langsam absickern in den Köpfen von Entscheidungsträgern. Mit seiner Haltung hat sich Grossman zwar weltweit Anerkennung geholt, und er darf sich in Einlang fühlen mit anderen Intellektuellen Israels wie Amos Oz oder Abraham B. Jehoschua. Im eigenen Land muss er damit rechnen, Prügel zu beziehen. Prägend war die Erfahrung gegen Ende der 80er Jahre. Weil er Jassir Arafats Idee eines eigenen Palästinenserstaates als gar nicht abwegig empfand, musste er seinen Posten als Hörfunkredakteur beim staatlichen "Radio Israel" räumen. Selbstherrlichkeit setzte sich durch gegen Kritik, Zweifel, Dialogbereitschaft und Hoffnung auf eine für alle lebbare Zukunft.

Die Literatur Grossmans bleibt nie einer als absolut empfundenen reinen Gegenwart verhaftet. Sie speist sich aus den Leiderfahrungen der Vergangenheit und hat die Utopie einer besseren Zukunft im Auge. Die Gegenwart bedeutet ihm nicht die Endstation, der Zielpunkt eines historischen Prozesses, sondern als ein dringend zu überwindendes Durchgangsstadium der Zeit. Überhaupt die Zeit. Als Grundmotiv ist sie all seinen Romanen, jenen für Erwachsene ebenso wie jenen für Jugendliche unterlegt. Die Vergangenheit ist nicht tot zu kriegen, sie ist Dauergast in der Gegenwart und baut mit am großen Projekt der Zukunft.

Das lässt sich gut nachlesen in Grossmans "Stichwort: Liebe". Momik, neun Jahre alt, geht das Wort von der "Nazibestie" nicht mehr aus dem Kopf. "Im Monat Schwat des Jahres 5317, also im Jahr 1959 unserer Zeitrechnung", taucht ein ermordet geglaubter Onkel Momiks auf und redet wirres Zeug.

Der Bub möchte herausbekommen, wie diese Nazibestie aussieht, die am Zustand des Onkels Schuld trägt. Er hat keinen rechten Begriff davon, "aber eines war klar, es gab diese Bestie, er konnte sie richtig in seinen Knochen fühlen, so wie Bella immer fühlte, wann es regnen würde, und es war auch klar, dass er derjenige war, der sie dummerweise aus ihrem langen Schlaf geweckt hatte". Wieder ein Kind, von Ängsten angetrieben, von seiner Fantasie aufgeputscht, das sich seinen Reim auf die Welt selbst macht, weil die Erwachsenen so kläglich in ihrer Aufklärungsarbeit versagen.

Momik macht genau das, was seine Eltern von ihm fernhalten wollen, er beschäftigt sich mit der Vergangenheit, um zu erfahren, wer er in der Gegenwart ist. Und Momik ist ein Stellvertreter David Grossmans, weil er früh zur Einsicht kommt, dass es ausgesprochen schlecht bestellt ist um diese Welt. "Sollte ich je ein Kind haben", sagt der altkluge Neunjährige, "werde ich es jeden Morgen mit einer Ohrfeige wecken. Einfach so. Damit es weiß, dass es keine Gerechtigkeit gibt. Dass es nur Krieg gibt."

Scharfer Denker

Als Analytiker ist Grossman ein scharfer Denker. In seinem Buch "Der gelbe Wind" untersucht er die Lage der Araber in Israel und kommt zu einem vernichtenden Ergebnis. In seinen Romanen aber gehören seine Sympathien den Kindern und solchen Gestalten, die das festgefügte ideologisch geprägte Denken aufbrechen. Uri, Soldat einer israelischen Patrouille im Roman "Das Lächeln des Lammes", gerät außer Tritt, als er in die Erzählwelt der Märchen und Legenden von Chilmi eintritt. Der ist ein arabischer Fabulierer und verkörpert eine radikale Gegenwirklichkeit zur militärisch hochgezüchteten politischen Realität. Oder der elfjährige Aaron im Roman "Der Kindheitserfinder": Wie Momik spielt er nicht mit und unterwirft sich nicht dem Vergessensprogramm der Eltern. Er führt einen Kampf gegen die Erwachsenen und sucht etwas zur Sprache zu bringen, von dem er mangels Information keinen Begriff hat.

Zuletzt erschien der Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht". Darin zieht sich Ora mit ihrem Geliebten in die Berge zurück, nachdem ihr Sohn in den Libanon-Krieg gezogen war. So will sie der möglichen Nachricht, dass ihr Sohn gefallen ist, entkommen. David Grossmans eigener Sohn kam 2006 bei Kämpfen zwischen der Hisbollah und Israel ums Leben.

Am 10. Oktober wird David Grossman in der Frankfurter Paulskirche der mit 25.000 Euro dotierte Friedenspreis des deutschen Buchhandels überreicht werden. In der Begründung der Jury heißt es: "Seine Bücher zeigen, dass die Spirale von Gewalt, Hass und Vertreibung im Nahen Osten nur durch Zuhören, Zurückhaltung und die Kraft des Wortes beendet werden kann."

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