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Digital In Arbeit

Leben wir oder werden wir gelebt?

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,,0 Gott, meine Seele braucht ein führend Licht“, so beginnt ein ^Gedicht von Alfons Petzold, dem großen Wiener Arbeiterdichter. Als Kind ganz armer Leute, die frühzeitig erkrankten und dahinsiechten, wurde er 1882 geboren, und so fällt seine Kindheit gerade in jene Zeit, in der zum erstenmal die Feier des 1. Mai vorbereitet und durchgeführt wurde. Sein Leben ist symbolisch für die Nöte und Sehnsüchte und auch für den Aufstieg der arbeitenden Menschen in Österreich.

Von zartester .Jugend an ..mußte Alfons Petzold von Tür zu Tür um Arbeit anklopfen. Er verdingte sich als Botengänger, Fensterputzer, Glaser, Geschirrwäscher in Hotelküchen und für sonstige Gelegenheitsarbeiten. Nach dem Tod seiner Eltern zieht er nach Lodz und füllt in den dortigen Textilfabriken in Hstündi-ger Arbeitszeit seine kranken Lungen mit Staubluft. Nach Wien zurückgekehrt, zieht er Handwagen, wird Straßenkehrer, Kohlenausträger, Flaschenspüler und LumpenSortierer. Abends sitzt er über Büchern und Schreibheften, um zu lernen, zu schreiben und zu dichten. Können wir Heutigen uns von diesem Titanenkampf eine richtige Vorstellung machen? Nach zwölf Jahren ist man auf ihn aufmerksam geworden. Sein erstes Buch erscheint — nicht in Wien, sondern in Philadelphia, USA. Endlich tun sich ihm die Pforten einer Lungenheilstätte auf. Zwei Dutzend Bücher hat er geschrieben und, vor allem unter arbeitenden Menschen, eine große Gemeinde von Lesern und Verehrern gewonnen. Er gründet eine Familie, kann ihr ein menschenwürdiges Heim bieten. Als er wenige Jahre nach dem ersten Weltkrieg stirbt, ist er mit dem bitteren Elend seiner Jugend fertiggeworden.

Als im Jänner 1890 eine weltweite Werbung in allen Kultursprachen begann, am 1. Mai die Arbeit einzustellen, um für die Menschenrechte der Arbeiter zu demonstrieren, da vertraten wie in fast allen europäischen Staaten die zentralen Behörden auch in Wien den Standpunkt, jede Demonstration zu verbieten und schon allein den „Aufruf zur Einstellung der Arbeit am 1. Mai als strafbar zu erachten“. Doch die Maiparole ergriff alle arbeitenden Menschen, ohne Unterschied ihres Bekenntnisses, mit so unbezwing-licher Gewalt, daß die Gegenmaßnahmen um so unsicherer wurden, je näher der Termin heranrückte.

Die liberale Presse prophezeite Aufruhr, Brand, Mord und Revolution. Und das war nicht unverständlich, denn die Forderung nach dem Achtstundentag, nach dem arbeitsfreien Sonntag enthielt eine Kampfansage an die damalige Gesellschaftsordnung, in der die Arbeiterschaft ohne irgendwelche staatsbürgerlichen, politischen Rechte jeder Zufälligkeit der an Krisen reichen wirtschaftlichen Entwicklung, jedem Schicksalsschlag, jeder Willkür schütz- und hilflos • preisgegeben war und breiteste Schichten in 'oj^e^osem.Elend, von dem wir Heutigen uns nur noch schwer eine Vorstellung machen können, dahinvegetierten.

Entgegen allen Befürchtungen und Vorhersagen verliefen die Demonstrationen am 1. Mai 1890 in Wien und anderen Industriegebieten Österreichs bei größter Beteiligung ohne jede Ruhestörung als eine gewaltige Willenskundgebung der arbeitenden Menschen, die sich gegen die menschenunwürdigen Verhältnisse jener Zeit richtete.

Wie haben sich doch die Zeiten seit jener ersten Feier des 1. Mai geändert! Heute ist der 1. Mai ein staatlicher Feiertag. Die Arbeitnehmer sind nicht mehr rechtlose Außenseiter der Gesellschaft. Ihre Organisationen sind tragende Säulen der öffentlichen Ordnung. Sie haben die Hand an den Schalthebeln des Staates und der Wirtschaft und tragen die volle Mitverantwortung für alles, was da geschieht. In guten Schuhen und schönen Gewändern verbringen sie ihr freies Wochenende, viele von ihnen fahren im eigenen Auto ins Grüne, reisen im Urlaub zu fernen Küsten und demonstrieren, daß Österreich heute zu den entwickelten Ländern gehört. Aber wogegen demonstrieren wir eigentlich am 1. Mai?

Gewiß, es gibt noch Notstände im Land, die zum Beispiel besonders junge Eheleute spüren, die ein eigenes Heim brauchen. Gewiß gibt es noch vieles nachzuholen und zu verbessern, etwa in der Familienpolitik. Wir brauchen ein einheitliches Urlaubsgesetz für alle Arbeitnehmer, ein Arbeitszeitgesetz, eine Regelung der Haftung für Sachschäden, die Sicherung auf Abfertigung beim Eintritt ins pensionsfähige Alter usw., ganz abgesehen vom Nachziehen zurückgebliebener Löhne und Gehälter. Eine lange Liste vernünftiger und gerechtfertigter Ansprüche und Forderungen ließe sich sofort aufstellen. Aber reicht das alles aus, um der Feier des 1. Mai jenen Schwung, jene Entschlossenheit, jene Willenskraft zu verleihen, die einstmals die marschierenden Ar-beiterkolonnen mobilisierten? Oder bedeutet der lu Mai nur mehr die fF^er.'einer:ehrwürdigen Tradition, deren' attraktive Veranstaltung fast schon eine Verlegenheit zu bereiten beginnt? Wogegen demonstrieren wir am 1. Mai?

Wohl vor allem dagegen, daß wir inmitten unseres schon erreichten und weiterhin angestrebten Konsumwohlstandes das „führende Licht“, von dem die Dichtung von Alfons Petzold erfüllt war, ganz aus den Augen verlieren. Können wir den „Tag der Arbeit“ sinnvoll feiern, wenn Arbeit für uns bloß

eine lästige Verpflichtung bedeutet und wir eine Lebenserfüllung nur mehr in der Freizeit zu finden vermögen, die uns viel zu sehr von den anderen gestaltet wird? Wir sind der Wahrheit entfremdet, daß menschliche Arbeit eine Fortführung des Schöpfungswerkes Gottes ist. Gestalten wir unser Leben selbst in freier Verantwortung, oder wird es uns nicht vielmehr von Apparaten gestaltet? Leben, wir oder werden wir gelebt? Die Schalthebel stehen uns zur Verfügung. Aber wissen wir, wie sie zu bedienen sind, und weichen wir nicht allzu gern der Verantwortung aus, sie anzupacken?

Dagegen müssen wir am 1. Mai demonstrieren, daß wir immer noch viel zu sehr passives Objekt des Geschehens sind und viel zu wenig Subjekt. Noch sind wir nicht Herren unseres Schicksals. Noch wichtiger aber ist, daß am 1. Mai der große Gedanke der Solidarität wieder ganz Besitz von uns ergreift. Der Solidarität nicht nur im eigenen Land!

„Eine der größten unserer Zeit gestellten Aufgaben ist wohl diese, zwischen den wirtschaftlich fortgeschrittenen und den wirtschaftlich noch in Entwicklung begriffenen Ländern die rechten Beziehungen herzustellen. Die Völker, die mit Reichtum und Überfluß gesättigt sind, dürfen die Lage jener anderen Völker nicht vergessen, die vor Elend und Hunger fast zugrunde gehen und nicht in den Genuß der wesentlichen Menschenrechte kommen“, heißt es in der Enzyklika „Mater et Magistra“ Johannes' XXIII. Wer meint, diese in fernen Ländern notleidenden Millionen gingen uns nichts an, lebt in der gleichen Finsternis wie jene, die an den unmenschlichen Lebensbedingungen der Proletariermassen mit einem Achselzucken gleichgültig vorbeisahen, als vor nunmehr bald 80 Jahren der 1. Mai zum Tag des Protestes gegen diese Verhältnisse erhoben wurde.

Die Aufgaben, für die wir uns am 1. Mai geistig und moralisch aufrüsten müssen, sind noch größer als die vor 80 Jahren. Zumindest der materielle Aspekt kann niemand verborgen bleiben: Denn alles, was wir an Wohlstand und Sicherung erreicht haben, steht auf dem Spiel. Petzolds Gebet ist am 1. Mai 1964 aktueller denn je vorher: „O Gott, meine Seele braucht ein führend Licht!“

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