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Von Ansio nadi Nettuno

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Anzio steht im Gedächtnis zweimal. Im verdunkelten Klassenzimmer nahmen wir heimlich die steifen weißen Kragen der Internatstracht b wegen der Hitze, die vom Projektionsapparat herkam. „Das Mädchen von Anzio, auch Priesterin von Anzio nach dem Fundort genannt, gehört zu den schönsten Plastiken der Antike.“ — Die Stimme aus dem alten Radio in der Diätküche des Lazaretts, zehn Jahre später, war nicht so gemütlich wie die des rothaarigen schwäbischen Studienrates, und wer hatte Zeit, zu denken, daß Kragen und Schwesternhaube in der Schwüle drückten. Wehrmachtsbericht: — „Bei Anzio und Nettuno ...“

Anzio steht im „Nagel“ ziemlich ausführlich. Volskerstadt, dann beliebter Badeort der Römer, Geburtsort Neros, ja, die Reste der Villa sind noch da, und Villa Borghese, ja, sie ist recht verfallen, sie haben den Anschluß an die Industrie versäumt, die Borgheses, sagt man, aber sie verkaufen nicht, und 20.000 gefallene Engländer und gleichviel gefallene Deutsche, aber die Kriegsschäden sieht man kaum, soviel ist gebaut worden. Hie und da ein paar MG-Garbenlöcher in einer Hauswand, Mauerreste und abgestorbene Palmen, sonst helle und hohe Häuser. Auch jetzt ist Anzio ein beliebter Badeort der Römer. Eine knappe Stunde Zugfahrt von Rom und hur eine Station, Mussolinis Aprilia. Die Hotels sind vom kleinen Hafen ein paar Gehminuten entfernt. In Wirklichkeit aber weiter. Auch wenn ihre Gäste abends ihren Cinzanino oder Campari in den Restaurants an der Molenseite trinken, ihre Kinder ausführen und die Halbwüchsigen, die bunten Wolljacken wie einen Schal um Rücken und Hals geschlungen, auf dem Trottoirrand zusammen mit den Kindern der Fischer sitzen, auch wenn sie dem Landen und Entladen der Kutter gern zuschauen. Vor dem verrosteten Riesenwrack des amerikanischen Landungsschiffes, das keine Schrottgesellschaft anzulocken scheint, haben die Bambini Angst, und was kann man gegen die Streitereien und Flüche schon tun, wenn die Einkäufer den Fang einer Nacht herunterhandeln, die kleinen, die, den Lieferwagen an der Vespa befestigt, aus den umliegenden Dörfern kommen, und die großen mit den goldenen Ringen und den blitzenden Autos aus Rom. Am Markt hinter der neuerbauten Kirche sind Winterstoffe zu haben, aber die Frauen der Fischer bleiben zwar lange stehen und hören sich die Anpreisungen der fliegenden Verkäufer an, gehen dann jedoch weiter.

Im Thermen-Museum ist das Mädchen von Anzio noch nicht richtig numeriert. Auch nicht sein anderer Gefährte des Ausgrabungsortes, der Apollo, und auch nicht der Jüngling von Subiaco. Aber wer den noch heißen römischen Vormittagen in diesem September entfloh, erkennt es in dem kühlen Saal auch ohne die Geste des Beamten, findet es und vergißt Apoll. Und denkt: keine Göttin hat soviel Anmut, ist so hoheitsvoll. Und weiß: $r wird es nicht mehr vergessen.

Nach Nettuno braucht man nicht länger als eine halbe Stunde. Es beginnt eigentlich schon mitten in Anzio. Auf der Höhe der Borghese-Villa, hinter den alten Pinien ist das Ortsschild. Freilich, das alte Nettuno ist erst dort, wo die mittelalterlichen Befestigungstürme zu sehen sind, längst Wohnungen, die wie Waben im alten Gemäuer hängen. Dort geben die Häuser dann auch den Blick frei auf das Meer, auf die Torre d'Asturi, wo Konradins Schicksalsstunde schlug, als Fran-gipan ihn an den Anjou verriet, wo im Nebel kaum sichtbar das Cap Circeo Odysseus' aufragt.

Die Brandung hat die letzten Badegäste von dem schmalen Strandstreifen vertrieben.

Sie schauen ihr zu, von der Uferpromenade aus, die neu ist, fast als einziges neu hier in Nettuno, wo der Krieg vielleicht nicht schlimmer wütete als drüben in Anzio, aber etwas von der Trostlosigkeit und kalten Armut des Landes einen anspringt von den grellverputzten, schäbigen Hausmauern, den Nebengassen, die an Trastevere erinnerten, hätten sie seinen Lärm und seine brodelnde Geschäftigkeit. Die älteren Frauen sitzen strickend auf den steinernen Bänken, den Blick zur Straße. „Ja, er hat eine römische Nummer gehabt“, sagt eine zu ihrer Nachbarin, „aber alle im Bus waren Inder, gelbe Gesichter, manche in ihren Kleidern von dort.“ — „Und gestern waren es 15 Autobusse, aber alles Wallfahrer aus Venetien“, sagt darauf die andere.

Der große Platz vor der Kirche ist schmutzig und voller Wasserpfützen nach dem nächtlichen Gewitter. An die unterste Stufe hat der Sturm eine Art Plakat geweht, eine dieser großen italienischen Todesanzeigen. Sie ist halb zerfetzt, aber andere kleben noch an der Wand der fertigen Kirche, an den Gerüsten des anschließenden geplanten Spitals. Doch von dem Schrecklichen redet kaum einer. Die Patres der Passionisten empfangen die Pilger, eilen durch die Kirche, verkaufen Andenken in der Sakristei. Sie machen Dienst im Heiligtum der Maria Goretti wie jeden Tag, wie auch an jenem Tag vor kaum einer Woche, als ihr Rektor P. Filippo delPAdolorata ermordet wurde, als ein 60jähriger Klosterangestellter, ein fanatischer Kommunist, ihn und zwei seiner Mitbrüder kaltblütig über den Haufen schoß, weil ihm eine Gehaltserhöhung verweigert worden war. Kaum einer von den Pilgern weiß davon. Sie beten in der Kirche ihren Rosenkranz, sie kaufen neue Rosenkränze in der Sakristei, sie drängen sich vor den Photographien der Mutter Maria Gorettis, ihrer Schwester, ihres Vaters, des Priesters, der sie unterrichtete, des Priesters, der ihr die Erstkommunion reichte, vor den Gruppenaufnahmen der Wallfahrer aus aller Welt. Sie stehen lange vor dem Bild eines alten schwarzgekleideten Mannes, er trägt klösterliche Tracht, der das Bild eines Mädchens in der Hand hält, des Mörders der zwölfjährigen Landarbeiterstochter, die er vor 51 Jahren mit 16 Messerstichen tötete, deren Erhebung zur Ehre der Altäre er noch erlebte, die heute als Märtyrerin der Reinheit Italiens jüngste Heilige ist, Nostra Santa delle Grazie.

Links vom Kircheneingang ist ihr Denkmal. Am Boden die zusammengekrümmte Gestalt einer jungen Frau, über ihr ein mädchenhafter Engel, der zum Himmel schwebt. Aber nicht hier ist der Sammelpunkt der vielen. Auf der anderen Seite, in einer Kapelle aus gelbem Stein, neonbeleuchtet, ziehen die Gläubigen an dem Glassarg einer schrek-kenerregenden Wachsfigur vorbei, liegt hinter der von den Küssen der Kinder trüb gewordenen Scheibe die in weiße Seide gekleidete Puppe eines Kindes mit dem Kopf einer Erwachsenen, mit rötlicher, billiger Perücke, böseste Heiligen-Konfektion.

Statt der Votivtafeln hängen überall, ebenfalls hinter Glas, silberne Herzen an der Rückwand der Kapelle. Immer wieder die Photographien von Krankheit geretteter Kinder, heimgekehrter Kriegsgefangener. Einer der Patres räumt die Meßgewänder neben den Reliquienkasten ein. Eine kleine schwarzgewordene Silbermedaille, eine Blume aus billigen Spitzen, ein Fetzchen grober Stoff, die blechernen Behälter der Exhumierung, sonst nichts. Sie waren bitterarm, die Gorettis. Marias Schwester trug ihre Kleider auf, und drüben, im Krankenhaus, lag das sterbende Mädchen, zusammen mit zwei anderen kranken Frauen, bis der Tod es endlich erlöste.

„Sterbezimmer der heiligen Maria Goretti“, steht in primitiven Buchstaben über der niedrigen Tür, die mit zwei frischen Palmzweigen geschmückt ist. Eine Schwester, die sich die nassen Arme in der Schürze abtrocknet, öffnet, führt zur Kapelle, berichtet stolz, daß der Heilige Vater selbst den Marmoraltar gestiftet hätte, es stünde auch darauf. Ein Bild von der Heiligen? Ja, natürlich, das Altarbild, ein anderes gäbe es allerdings nicht. Oder doch. Sie verschwand kurz im Nebenraum, kam mit einem Porträt zurück. Das hätte vor ungefähr 25 Jahren ein Maler aus Rom nach dem Bild von der Heiligen gemacht. Die Reproduktion zeigt das übliche Genre der Heiligenbilder, des offiziellen Goretti-Bildes. Ein Mädchen mit langem, offenem Haar, strahlend aufwärts gerichtetem Blick. Dennoch, der es malte, mußte ein echtes Vorbild vor Augen gehabt haben. Da sind die Konturen eines noch runden, derben Kinns, die ein wenig aufgeworfenen Lippen eines Kindes, ist eine Spur von Leben. Schon entschuldigt sich' aber die Schwester: „Es ist Mittagszeit. Die Kinder warten.“ Draußen laufen Buben über den Hof. In graugestreiften Kitteln, kahlgeschoren. „Römische Buben“, sagte die Schwester noch freundlich. „Sie sind aus den Elendsvierteln, meistens nicht gesund. Die Lunge, Sie wissen schon ...“

Am Weg zurück von Nettuno nach Anzio überholen uns zwei Jeeps. Die Insassen gehören zum Gräberkommando des amerikanischen Soldatenfriedhofs von Nettunp. Ihre Mission ist bald zu Ende. Das Ehrenmal ist fertig, die Arbeiter sind daran, den Platz um das große Bassin am Eingang einzuebnen. Tausende von weißen Kreuzen stehen in Reih und Glied ausgerichtet. Weiße Marmorkreuze aus Laas in Südtirol. Dort ist man noch auf Jahre hinaus beschäftigt mit ihrer Produktion. Nettuno ist nur ? i n Soldatenfriedhof in Italien.

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