Wahrheit und Lüge

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ROBERT MENASSE KEHRT ZU SEINER POINTENHAFTEN, ESSAYIS-TISCHEN ERZÄHLWEISE ZURÜCK.

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ROBERT MENASSE KEHRT ZU SEINER POINTENHAFTEN, ESSAYIS-TISCHEN ERZÄHLWEISE ZURÜCK.

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Wie beginnt man einen Sammelband, der im Untertitel "Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung" heißt? Richtig: mit einem kurzen Text mit dem Titel "Beginnen". Darin begegnet uns ein junger Absolvent der Wirtschaftswissenschaften im Flugzeug nach Rio. Dieser denkt zurück an seinen Professor in - ich nehme an: - Wien, den er mit einer Abschlussarbeit zum Thema "Heterodoxer Schock" zu verblüffen verstand. Die Methode des heterodoxen Schocks besteht darin, eine darniederliegende Nationalökonomie durch eine bewusst herbeigeführte, reinigende Krise zu sanieren. Die daraus entwickelte Idee des Absolventen empfand der Professor als einen Skandal, denn der Vorschlag war, dieses Mittel auch einmal in stabilen Volkswirtschaften einzusetzen, um ein Gefühl des Aufbruchs und Neubeginns zu simulieren.

Dreizehn Erzählungen insgesamt (einige von ihnen da oder dort schon vorab publiziert) umfasst der Band "Ich kann jeder sagen". Robert Menasse, der in all diesen Geschichten stets gegenwärtige Autor, erlangt gleich auf den ersten Seiten volle Präsenz: Den heterodoxen Schock (den es in der Wirtschaftswissenschaft -ich habe nachgesehen - tatsächlich gibt) praktiziert er als erzählerisches Mittel spätestens seit seinem Roman "Schubumkehr" (1995), und auch biografisch ist an dem schlagartig vor dem Leser stehenden Intro etwas dran, denn nach Brasilien ging Menasse nach Abschluss seines Studiums (der Germanistik und Philosophie) als österreichischer Auslandslektor, nachzulesen in seinem ersten Roman "Sinnliche Gewißheit"(1988).

Heterodoxer Schock

Nach den großen Romanen "Die Vertreibung aus der Hölle"(2001) und "Don Juan de la Mancha"(2007) kehrt Menasse mit seinen kleinen Erzählungen jetzt an seine Ursprünge zurück, und zwar sowohl was das Thema als auch was die verwendeten literarischen Mittel betrifft. Die pointenhafte Art zu erzählen kommt hier, in diesen kurzen Texten, viel besser zur Geltung als in den großen Prosabüchern, wo sie, wenn auch nur homöopathisch eingesetzt, von vielen Kritikern als Fremdkörper empfunden wurde. In den kurzen Erzählungen indes, die sich oft dem Essayistischen zuneigen, haben die Menasse'schen Aperçus ihren festen Platz, selbst dann, wenn sie sich selbst wegkalauern. Beispiele dafür findet man in fast jeder Erzählung: In dem Text "Romantische Irrtümer" beispielsweise, in dem es um einen Besuch in Dresden geht, schmeckt der Sauerbraten "süß", stößt dann aber "sauer" auf; wenige Seiten später bekommt ein "Ruderer" ausgerechnet den Morbus "Reiter". Weiter hinten dann wird die deutsch-österreichische Freundschaft definiert: "Wir kennen eure Geschichte, und ihr glaubt uns unsere."

Lüge als bessere Wahrheit

Ein durchgehendes Motiv aller Erzählungen ist die Frage nach der autobiografischen Wahrheit. Für Menasse ist die Antwort klar: Die Lüge (oder sagen wir: die Übertreibung) ist meist die bessere Wahrheit. So ist dem Autor, wenn er von sich, seinem Büro in einem ehemaligen Bordell, der amerikanischen Brille seiner Mutter (auf dem Cover des Buches zu sehen) oder davon erzählt, dass der Palmers-Entführer Rainhard Pitsch ihm seine Tat am Vorabend angekündigt hat, nicht über den Weg zu trauen. Genau das aber macht diese Erzählungen so unterhaltsam, ich wette: Manche von ihnen sind wirklich am Wirtshaustisch erprobt.

Wie aber beendet man ein solches Buch? Richtig; mit einem kurzen Text mit dem Titel "Schluss". Darin berichtet Menasse von der ersten (Wahrheit?) und gleichzeitigen letzten (Lüge?) Rezension, die er geschrieben haben will. Der erste Satz des Buches, an dessen Titel er sich jetzt nicht mehr erinnern kann, habe ihn fasziniert: "Er hatte ein auf Anhieb nichtssagendes Gesicht." Herr Kahl vom Kurier, der ihm auf Anhieb in Aussicht stellte, ein "fixer Freier"(Wahrheit?) zu werden, wollte einen Artikel in der Länge von 3500 Zeichen: "Die Rezension war beinahe fertiggestellt -es fehlte nur noch der Schlusssatz -, als ich bei einem Spaziergang in der Stadt, über den Schlusssatz nachdenkend, entdeckte, dass das Buch im Modernen Antiquariat bereits verramscht wurde. [] Auf dem Heimweg wurde mir klar, was mich an dem zugegeben sehr intelligent erzählten Roman gestört hatte: Der Autor hatte keinen überzeugenden Schluss gefunden." Typisch Menasse: Wahrheit, Lüge und ein intelligenter Schluss zugleich -und dies alles auf einem doch recht einfachen Weg.

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